Kein Anspruch auf Gründungszuschuss bei fehlendem Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III
Gründe:
I
Im Streit ist die Gewährung eines Gründungszuschusses (GZ).
Der Kläger war bei der insolvent gewordenen Firma Wilhelm S GmbH & Co KG beschäftigt und seit 2001 - ebenso wie sein Vater
Willi S - Geschäftsführer der Komplementärin (S GmbH). Anschließend leitete er eine neu gegründete Auffanggesellschaft, um
den bisherigen Geschäftsbereich der Insolvenzschuldnerin in kleinerem Umfang weiterzuführen. Anlässlich einer persönlichen
Vorsprache bei der beklagten Bundesagentur für Arbeit beantragte der Kläger am 15.5.2007 gleichzeitig mit der Gewährung von
Arbeitslosengeld (Alg) auch einen GZ unter Hinweis auf eine geplante Selbstständigkeit. Mit Bescheid vom 6.7.2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 11.10.2007 lehnte die Beklagte den Alg-Antrag ab, weil der Kläger - bereits bzw weiterhin -
eine mehr als kurzzeitige selbstständige Tätigkeit ausübe. Die fristgerecht erhobene Klage hat das Sozialgericht Kassel (SG) durch Urteil vom 12.7.2010 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nach der Insolvenz der
Firma Wilhelm S GmbH & Co KG zu keinem Zeitpunkt - und damit auch nicht am 15.5.2007 - arbeitslos gewesen. Damit habe auch
kein Anspruch auf Alg bestanden. Die Berufung gegen dieses Urteil nahm der Kläger nach richterlichem Hinweis auf die fragliche
Statthaftigkeit am 17.7.2013 zurück.
Durch Bescheid vom 25.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2007 lehnte die Beklagte auch den Antrag auf
Gewährung des GZ ab, weil der Kläger keinen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III) habe, sodass es an einer tatbestandlichen Voraussetzung für die Bewilligung des GZ fehle. Die mit der Begründung erhobene
Klage, zumindest am 15.5.2007 seien die Anspruchsvoraussetzungen in Bezug auf Alg erfüllt gewesen, hat das SG mit Urteil ebenfalls vom 12.7.2010 unter Bezugnahme auf sein Urteil zum Alg-Anspruch vom selben Tag abgewiesen. Auf die Berufung
des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung
des Bescheids vom 25.7.2007 und des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2007 verurteilt, dem Kläger GZ in gesetzlichem Umfang
zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei zumindest am 15. und 16.5.2007 arbeitslos gewesen
mit einem Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem
SGB III. Dem stehe das Urteil des SG zum (fehlenden) Alg-Anspruch des Klägers nicht entgegen; denn die dortigen Feststellungen betreffend die tatsächlichen Feststellungen
und rechtlichen Würdigungen bänden den Senat nicht.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Beklagte Beschwerde eingelegt, mit der sie als Verfahrensfehler
rügt, das LSG habe wegen der rechtskräftigen Entscheidung des SG zum fehlenden Alg-Anspruch des Klägers im Urteil vom 12.7.2010 (S 3 AL 287/07) gemäß §
141 Abs
1 Nr
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) nicht mehr in der Sache entscheiden dürfen. Wegen der Berufungsrücknahme in diesem Rechtsstreit stehe fest, dass der Kläger
am 15. und 16.5.2007 nicht arbeitslos gewesen sei, sodass auch ein Anspruch auf Alg entfalle. Hinsichtlich der - auch für
den GZ maßgeblichen (§
57 Abs
2 Nr
1 Buchst a
SGB III in der bis zum 31.3.2012 geltenden Fassung [aF]) - Feststellung des Bestehens eines Anspruchs auf Entgeltersatzleitungen
nach dem
SGB III sei der Kläger wegen Identität des Streitgegenstands daher präkludiert. Dies gelte auch dann, wenn die Frage des Leistungsbezugs
nach dem
SGB III im zweiten Prozess nicht die Hauptfrage, sondern nur eine Vorfrage sei.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beklagte hat einen Verfahrensmangel iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG schlüssig bezeichnet (§
160a Abs
2 S 3
SGG). Der Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das LSG hätte über den klägerischen Anspruch auf GZ nicht sachlich entscheiden
dürfen. Denn über das Bestehen eines Anspruchs auf Entgeltersatzleitungen nach dem
SGB III als wesentliche Voraussetzung (Tatbestandsmerkmal) für den klägerischen Anspruch auf GZ (vgl §
57 Abs
2 Nr
1 Buchst a
SGB III aF) hat das SG im Verfahren betreffend die Bewilligung von Alg im Urteil vom 12.7.2010 (S 3 AL 287/07) rechtskräftig entschieden und diesen Anspruch verneint. Die Rechtskraft dieser Entscheidung bindet die Beteiligten (§
141 Abs
1 Nr
1 SGG). Wegen dieser Rechtskraftbindung hätte das LSG keine abweichende Sachentscheidung mehr treffen dürfen.
Der Kläger ist mit der Behauptung, am 15. und 16.5.2007 arbeitslos mit Anspruch auf Alg gewesen zu sein, präkludiert. Die
Voraussetzungen des §
141 Abs
1 Nr
1 SGG sind erfüllt. Kläger und Beklagte waren "Beteiligte" des Rechtsstreits S 3 AL 287/07 und der Streitgegenstand dieses Verfahrens - Anspruch auf Alg wegen Arbeitslosigkeit des Klägers am 15. und 16.5.2007 - ist
mit dem Streitgegenstand des Berufungsverfahrens des LSG L 6 AL 150/10 identisch.
Dies folgt daraus, dass ein Leistungsbezug nach dem
SGB III bei Arbeitslosigkeit notwendige tabestandliche Voraussetzung für das Bestehen eines Anspruchs auf GZ ist. Wird über einen
Anspruch auf Alg rechtskräftig ablehnend entschieden, ist damit zugleich geklärt, dass auch eine andere Leistung - hier: der
GZ -, die den Leistungsbezug tatbestandlich voraussetzt, nicht erbracht werden kann. Damit ist nicht lediglich über ein einzelnes
Element des Leistungsanspruchs entschieden worden, sondern inzident über den Anspruch selbst.
Damit unterscheidet sich die materielle Rechtskraftwirkung im vorliegenden Fall von der reinen Tatbestands- oder Drittbindungswirkung,
von der - offenbar (vgl S9 der Urteilsbegründung) - das LSG ausgegangen ist (zur Tatbestandswirkung vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, § 141 RdNr 4 Spiegelstrich 4 mwN). Vielmehr hat das SG im Urteil vom 12.7.2010 (S 3 AL 287/07) - zumindest inzident - in der Sache bindend über alle Ansprüche des Klägers (mit)entschieden, die einen Leistungsbezug nach
dem
SGB III tatbestandlich voraussetzen. Dies erhellt daraus, dass der Kläger mit seinem Rechtsschutzbegehren im vorliegenden Verfahren
hinsichtlich des (fehlenden) Anspruchs auf Entgeltersatzleistungen nach dem
SGB III erreichen möchte, dass das kontradiktorische Gegenteil der im Urteil vom 12.7.2010 (S 3 AL 287/07) abgelehnten Rechtsfolge ausgesprochen wird.
Selbst wenn man die Frage des Leistungsbezugs nach dem
SGB III hinsichtlich der Gewährung von GZ aber nur als "Vorfrage" ansehen wollte, würde dies zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn
die Rechtskraft einer in einem Vorprozess der Beteiligten ergangenen Entscheidung ist nicht nur bei Identität der Streitgegenstände
in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten, sondern auch dann, wenn eine für den nachfolgenden Rechtsstreit entscheidungserhebliche
Vorfrage im Vorprozess rechtskräftig entschieden wurde (BGH NJW 2008, 1227; BGH NJW 1993, 3204; ähnlich: BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 2, RdNr 11; der 1. Senat des BSG spricht im Urteil vom 15.10.1987 - 1 RA 15/86 - Juris - missverständlich von "Deckungsgleichheit" der Ansprüche). Das BSG hätte als Revisionsgericht mithin von Amts wegen das Berufungsurteil dahin zu überprüfen, ob ein Verstoß gegen eine frühere
rechtskräftige Entscheidung vorliegt; denn die materielle Rechtskraft hat präjudizielle Wirkungen in dem Sinne, dass die im
Vorprozess entschiedene Rechtsfolge im nachfolgenden Prozess einer erneuten rechtlichen Würdigung nicht zugänglich ist (vgl
BGH WM 1989, 1897; vgl im Einzelnen: Vollkommer in Zöller,
ZPO, 30. Aufl 2014, Vor §
322 RdNr 20 bis 22).
Da damit die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen, macht der Senat schon aus Gründen der Kosten- und Zeitersparnis für die Beteiligten von der Möglichkeit Gebrauch,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§
160a Abs
5 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.