Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses im sozialgerichtlichen Verfahren; fehlerhafte Anwendung einer Vorschrift über
örtliche Zuständigkeit
Gründe:
I
Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg am 27.5.2008 Klage gegen einen Bescheid erhoben, mit dem die Zuerkennung einer großen Witwenrente an sie aufgehoben
worden war, weil sie vom 1.7.1998 bis zum 15.10.2006 ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland gehabt habe. Eine
Klage der Tochter der Klägerin gegen die Rückforderung der Waisenrente ist vor dem für den Sitz des beklagten Rentenversicherungsträgers
örtlich zuständigem SG Dortmund gegen diesen erhoben worden. Mit Beschluss vom 3.9.2008 hat sich das SG Hamburg für örtlich
unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Dortmund verwiesen. Das SG Dortmund hat sich nach Anhörung der Beteiligten
mit Beschluss vom 17.2.2009 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und mit weiterem Beschluss vom 17.2.2009 das Bundessozialgericht
(BSG) zur Bestimmung des örtlich zuständigen SG angerufen. Für das Verfahren sei das SG Hamburg örtlich zuständig, weil die Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 27.5.2008
ihren Wohnsitz nicht im Bezirk des SG Dortmund, sondern in Hamburg gehabt habe und dort beschäftigt gewesen sei. Die Verweisung
durch das SG Hamburg sei willkürlich erfolgt.
II
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach §
58 Abs
1 Nr
4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen
Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Hamburg und dem SG Dortmund berufen, nachdem sich beide Gerichte jeweils für örtlich unzuständig
erklärt haben.
Zum zuständigen Gericht ist das SG Dortmund zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Hamburg vom 3.9.2008
gebunden ist.
Grundsätzlich ist gemäß §
98 SGG iVm § 17a Abs 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht
bindend, an das verwiesen wurde. Dies gilt auch, wenn die Verweisung prozessuale oder materielle Vorschriften verletzt und
deshalb auch, wenn die Verweisung offenbar unrichtig ist. Die fehlerhafte Anwendung einer Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit
allein lässt die Bindung an den Verweisungsbeschluss nicht entfallen (vgl BSG, Beschluss vom 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 §
58 Nr
6, zur Zuständigkeitsbestimmung gemäß §
57 Abs
1 Satz 1
SGG statt §
57 Abs
3 SGG). Nur ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einem willkürlichen,
dh einem offensichtlich unhaltbaren, unsachlichen oder nicht mehr zu rechtfertigenden Verhalten oder auf einer Missachtung
elementarer Verfahrensgrundsätze beruht (vgl BSG, Beschlüsse vom 25.2.1999, B 1 SF 9/98 S, BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 11, vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2, vom 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6, und vom 8.5.2007, B 12 SF 3/07 S, SozR 4-1500 § 57 Nr 2; vgl auch zum Begriff der Willkür Bundesverfassungsgericht vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Eine solche Ausnahme von der Bindungswirkung liegt hier nicht vor.
Zwar hatte die Klägerin möglicherweise zum Zeitpunkt der Klageerhebung ihren Wohnsitz in Hamburg und könnte damit gemäß §
57 Abs
1 SGG das SG Hamburg örtlich zuständig gewesen sein. Allein die fehlerhafte Anwendung des §
57 SGG durch das SG begründet noch keine Willkür. Der Begründung des Verweisungsbeschlusses sowie den sonstigen Umständen ist nicht zu entnehmen,
das die Verweisung auf einem offensichtlich unhaltbaren oder unsachlichen Verhalten beruhte. Soweit das SG von einem Wohnsitz der Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Ausland ausging, konnte es in Betracht ziehen, dass die
Beklagte in ihrem angefochtenen Bescheid davon ausgegangen war, dass die Klägerin sich in der Vergangenheit trotz Angabe einer
Adresse im Inland ebenfalls dauerhaft im Ausland aufgehalten hatte, die Kinder der Klägerin im Ausland lebten und die Klägerin
zunächst angegeben hatte, bei ihrer Schwester und deren Mann zu wohnen. Darüber hinaus befinden sich in der Gerichtsakte als
Bl 32a und 32b Ausdrucke von Melderegisterauskünften der Freien und Hansestadt Hamburg, nach denen am 3.6.2008 die Meldung
der Klägerin unter der in der Klageschrift angegebenen Adresse nicht bestätigt werden konnte. Auch wenn weitere Ermittlungen
möglicherweise einen Wohnsitz der Klägerin in Hamburg ergeben hätten, stellt allein das Unterlassen dieser Ermittlungen noch
kein offensichtlich unsachliches Verhalten dar. Dass das SG entgegen der Rechtslage für seine Entscheidung zugrunde gelegt haben könnte, nach Erhebung einer Klage der Tochter vor einem
SG werde dieses auch für eine möglicherweise bereits vor einem anderen SG erhobene Klage der Mutter örtlich zuständig, ergibt sich nicht aus der Begründung des Verweisungsbeschlusses und den sonstigen
den Gerichtsakten zu entnehmenden Umständen. Die Beschlussbegründung kann auch dahin verstanden werden, dass das SG aus dem Wohnsitz der Tochter im Ausland auf den Wohnsitz der Klägerin ebenfalls im Ausland geschlossen hat. Es kann deshalb
offenbleiben, ob allein die fehlerhafte Rechtsansicht zu den Auswirkungen einer Klage der Tochter auf das anhängige Verfahren
ein willkürliches Verhalten begründen könnte.
Auch eine Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze ist hier nicht ersichtlich. Es kann dahinstehen, ob im Verfahren der
Zuständigkeitsbestimmung auch ohne Rüge der Beteiligten eine fehlende vorherige Anhörung zu berücksichtigen ist (vgl Beschluss
des Senats vom 9.1.2008, B 12 SF 7/07 S), weil den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden war. Auf Nachfrage des SG Hamburg hatte die Beklagte darauf
hingewiesen, dass die Tochter der Klägerin ihren Wohnsitz in Polen habe. Der Klägerin ist unter Mitteilung dieses Sachverhaltes
Gelegenheit zur Stellungnahme zur örtlichen Zuständigkeit gegeben worden.