Kein Anspruch auf Kostenerstattung für eine Mamma-Augmentationsplastik nach Brustamputation bei fehlender Brustanlage in der
gesetzlichen Krankenversicherung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einer beidseitigen Mamma-Augmentationsplastik (MAP).
Die 1984 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin leidet an dem Camurati-Engelmann-Syndrom (CES),
einer autosomal-dominant vererbten Erkrankung, die durch Ossifikationsstörungen geprägt ist. Das CES wirkte sich bei der Klägerin
auch in einer deutlichen Verzögerung der Pubertät aus, weshalb die Ärzte die Klägerin ab dem 20. Lebensjahr mit einem Hormonersatzpräparat
behandelten. Gleichwohl kam es zu keiner Brustentwicklung (präpubertäre Brust, Tanner-Stadium B2); lediglich die Mamillen
entsprechen denen einer erwachsenen Frau. Die Beklagte lehnte nach gutachtlichen Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes
der Krankenversicherung (MDK), die nur eine kosmetische Indikation sahen, die Versorgung der Klägerin mit einer beidseitigen
MAP ab (Bescheid vom 24.9.2012, Widerspruchsbescheid vom 24.1.2013). Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einer MAP zu versorgen. Eine vollständig fehlende Brustanlage stelle eine behandlungsbedürftige
Krankheit dar, weil das geschlechtstypische Erscheinungsbild der Frau schwer beeinträchtigt sei. Auch gebiete der allgemeine
Gleichheitssatz, dass Frauen, bei denen es krankheitsbedingt zu keiner Brustentwicklung komme, nicht anders behandelt werden
dürften als Frauen, die eine Brustrekonstruktion nach krebsbedingter Brustamputation (Mastektomie) erhielten. Die Kosten letzterer
übernähmen aber die KKn, obwohl die Brustrekonstruktion nicht der Behandlung des Brustkrebses diene. Auch verwiesen die KKn
die davon betroffenen Frauen nicht auf eine Psychotherapie anstelle der Brustrekonstruktion (Urteil vom 9.9.2015).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des §
27 Abs
1 S 1
SGB V. Mit der begehrten MAP würden weder - insoweit nicht vorhandene - körperliche Krankheitsbeschwerden des CES gelindert noch
fehlende Körperfunktionen wiederhergestellt oder substituiert. Auch liege keine Entstellung im Sinne der höchstrichterlichen
Rechtsprechung vor. Schließlich handele es sich bei einer Brustrekonstruktion nach vorausgegangener karzinombedingter Mastektomie
um einen wesentlich anderen Sachverhalt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum MAP-Anspruch von Mann-zu-Frau-Transsexuellen
sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht entsprechend anwendbar.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. September 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Beklagte verurteilt, eine beidseitige MAP als Naturalleistung zu gewähren. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen
dahingehenden Anspruch.
1. Entgegen der Auffassung des SG stellt eine fehlende Brustanlage nicht schon für sich genommen eine behandlungsbedürftige Krankheit dar. Die fehlende Brustanlage
ist zwar eine Krankheit (dazu a), eine MAP ist aber keine geeignete Therapie dieser Krankheit (dazu b). Eine behandlungsbedürftige
Entstellung liegt nicht vor (dazu c). Die Brustoperation ist auch zur Behandlung einer - vom SG nicht festgestellten - psychischen Erkrankung nicht notwendig (dazu d). Die Klägerin kann schließlich nach dem allgemeinen
Gleichheitssatz (Art
3 Abs
1 GG) iVm §
27 Abs 1 S 1
SGB V keinen Anspruch deswegen für sich herleiten, weil Versicherte nach krankheitsbedingter, namentlich krebsbedingter Mastektomie
einen Anspruch auf Brustrekonstruktion haben (dazu e). Die Voraussetzungen, nach denen Mann-zu-Frau-Transsexuelle Anspruch
auf Versorgung mit einer MAP haben, sind hier ohnehin nicht erfüllt (dazu f).
a) Die Klägerin kann nach §
27 Abs
1 S 1
SGB V Krankenbehandlung verlangen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten
oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen
abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr,
vgl zB BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 9; BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 10; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 4; BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38; BSGE 72, 96, 98 = SozR 3-2200 § 182 Nr 14 S 64, jeweils mwN).
Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte
in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt
(stRspr, vgl zB BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13 f; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 4, RdNr 16; zu einer Hodenprothese BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5 S 29 f; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f). Die Klägerin ist in der Körperfunktion, Stillen zu können, dadurch beeinträchtigt, dass sie über keine Brust
mit Drüsengewebe verfügt (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 5).
b) Die begehrte Operation dient jedoch nicht dazu, die Funktionsbeeinträchtigung des Stillens zu behandeln. Weder soll die
MAP durch fehlendes Drüsengewebe verursachte physiologische Funktionsausfälle beheben noch ist sie dazu objektiv geeignet.
Vielmehr soll die MAP lediglich das Erscheinungsbild der Klägerin verändern.
c) Das Erscheinungsbild der Klägerin ist nicht behandlungsbedürftig. Die bei der Klägerin vorhandene anatomische Abweichung
wirkt nicht entstellend.
aa) Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine
erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich
erwarten lässt, dass Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich
deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, sodass deren Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft gefährdet ist (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f).
Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein:
Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung
eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein,
dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig
zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 14; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung
behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 5 f). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung zB das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau
(vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f) oder eine Wangenatrophie (vgl LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 2.5.2002 - L 5 KR 93/01 - KRS 02.021) oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert (vgl BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1). Dagegen hat der erkennende Senat bei der Fehlanlage eines Hodens eines männlichen Versicherten eine Entstellung nicht
einmal für erörterungswürdig angesehen (vgl BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5) und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage unter Berücksichtigung
der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt (BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität
an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1).
bb) Nach diesen Maßstäben ergibt sich bei der Klägerin keine Behandlungsbedürftigkeit wegen Entstellung. Allerdings hat das
SG ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung, das vollständige Fehlen der weiblichen Brust sei in jedem Fall eine
behandlungsbedürftige Krankheit (ähnlich, aber ebenfalls unzutreffend LSG Hamburg Urteil vom 2.5.2012 - L 1 KR 38/10 - Juris RdNr 23: bei Brustasymmetrie aufgrund eines Poland-Syndroms liege immer eine durch Brustaufbau zu behandelnde Krankheit
vor), keine ausdrückliche Feststellung dazu getroffen, dass die Klägerin entstellt ist. Dem Gesamtzusammenhang der den Senat
bindenden, nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren Feststellungen (§
161 Abs
4, §
163 SGG) des SG ist jedoch zu entnehmen, dass bei der Klägerin eine als Entstellung zu bewertende körperliche Auffälligkeit in Alltagssituationen
für außenstehende Dritte nicht zu erkennen ist und damit die Erheblichkeitsschwelle nicht erreicht wird. Das entspricht auch
der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats.
d) Eine mögliche - vom SG im Sinne eines psychischen Leidens nicht festgestellte - psychische Belastung der Klägerin aufgrund ihres Erscheinungsbildes
rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach der ständigen Rechtsprechung
des erkennenden Senats können psychische Leiden einen Anspruch auf eine Operation zum Brustaufbau nicht begründen (vgl BSGE
100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 18; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 7 ff). Hieran hält der Senat fest. Nichts anderes ergibt sich, wenn die fehlende Brustanlage
zwar - wie hier - auch den Ausfall einer körperlichen Funktion mit sich bringt, durch den Eingriff aber nicht die Funktion
wiederhergestellt, sondern nur das äußere, nicht entstellte Erscheinungsbild korrigiert werden soll.
e) Entgegen der Ansicht der Klägerin ergibt sich nichts Abweichendes aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art
3 Abs
1 GG) im Hinblick auf Patientinnen, die sich - insbesondere im Rahmen einer Therapie von Brustkrebs - aus kurativen Gründen einer
Mastektomie unterziehen und Anspruch auf eine Brustrekonstruktion mittels MAP haben.
Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer
anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen,
dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl BVerfGE 133, 1 RdNr 44 mwN). So verhält es sich hier nicht. Der Anspruch einer Versicherten auf MAP-Versorgung nach Mastektomie etwa aufgrund
eines Mammakarzinoms ist darin begründet, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung durch ärztliches Handeln vorrangig darauf
gerichtet ist, Erkrankte unter Wahrung ihrer körperlichen Integrität zu heilen. Wird zur Behandlung in den Körper eingegriffen,
ist dieser möglichst - als Teil der einheitlichen ärztlichen Heilbehandlung - wiederherzustellen, sei es mit körpereigenem
oder mit körperfremdem Material. Diese Fälle unterscheiden sich grundlegend von Eingriffen in einen nicht behandlungsbedürftigen
natürlichen Körperzustand, um das nicht entstellte äußere Erscheinungsbild zu ändern.
f) Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Anspruch auf MAP-Versorgung bei Mannzu-Frau-Transsexualismus ist durch die
Besonderheiten dieser gesetzlich besonders geregelten Krankheit geprägt und grundsätzlich nicht auf andere Sachverhalte wie
den hier vorliegenden oder auch vergleichbare Fälle mit psychischer Erkrankung übertragbar (vgl nur BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 10 ff; offengelassen für die Intersexualität BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 13).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.