Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren, Bezeichnung eines Verfahrensmangels; Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch widersprüchliches Verhalten des Gerichts
Gründe:
I
Umstritten sind die Anerkennung einer Rotatorenmanschettenläsion rechts als Folge eines Arbeitsunfalls und die Gewährung einer
Verletztenrente. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage nach Durchführung medizinischer Ermittlungen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 22. November 2007). Der beim
Kläger vorliegende Rotatorenmanschettendefekt rechts sei nicht auf den Unfall vom 29. Juni 2004 zurückzuführen. Es sei zweifelhaft,
ob überhaupt ein Unfall stattgefunden habe, zumindest habe kein geeigneter Unfallhergang vorgelegen; aus medizinischer Sicht
spreche gegen einen Unfallzusammenhang die isolierte Ruptur der Supraspinatussehne sowie ein erheblicher Vorschaden. Im Rahmen
seiner Berufungsbegründung hat der Kläger ua vorgebracht, er habe zur Zeit des Unfalls einen circa 22 kg schweren, großen
Hilti-Koffer in der rechten Hand getragen. Mit Schreiben vom 6. Mai 2008 hat das Landessozialgericht (LSG) dem Kläger mitgeteilt,
die Berufung verspreche keine Aussicht auf Erfolg; die ärztlichen Gutachter seien sich einig, dass kein geeigneter Unfallmechanismus
vorgelegen habe, deshalb sei es ohne Belang, wie schwer der Koffer gewesen sei.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 24. September 2008) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Berufung sei aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen. Dem Hilfsantrag des Klägers,
ein Gutachten einzuholen zur Frage, ob im Hinblick auf das Gesamtgewicht des Hilti-Koffers von 22 kg, der bei gestrecktem
Arm gegen die Tür geschleudert wurde, ein geeigneter Unfallmechanismus vorhanden war, die Ruptur der Rotatorenmanschette im
Sinne einer wesentlichen Bedingung zu verursachen, sei nicht nachzugehen gewesen. Das Vorbringen des Klägers, der Koffer habe
entgegen seinen früheren Angaben nicht 10 kg, sondern 22 kg gewogen, sei nicht glaubhaft.
In seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua, das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen und den Grundsatz
des fairen Verfahrens verletzt. Die Zweifel des LSG an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben zu dem Koffergewicht seien für ihn
überraschend gewesen, zumal ihm damit die Möglichkeit genommen worden sei, entsprechende Beweiserhebungen zu beantragen. Mit
der Begründung zur Ablehnung seines - des Klägers - Hilfsantrags setze das LSG sich in Widerspruch zum Schreiben des LSG vom
6. Mai 2008.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 24. September 2008 beruht
auf einem Verfahrensmangel nach §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß §
160a Abs
5 SGG zurückzuverweisen.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die
angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3
SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des
Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes [GG], §
62 SGG) sowie seines aus Art
2 Abs
1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art
20 Abs
3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) abgeleiteten Anspruchs auf ein faires Verfahren ergangen ist.
Der umfassendere Anspruch auf ein faires Verfahren ist nur verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot
der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und
das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG SozR 3-1500 § 161 Nr 5; BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2; BSG Beschluss vom 25. Juni 2002
- B 11 AL 21/02 B). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die
auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500
§ 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem auf rechtliches Gehör ergibt sich eine
allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder
zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (BVerfGE 66, 116, 174; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- oder Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige
Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung
dieser Frage seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen und eine Überraschungsentscheidung
im obigen Sinne darstellen würde.
Vorliegend hat das LSG in seinem Schreiben vom 6. Mai 2008 die Bedeutung des Gewichts des vom Kläger getragenen Koffers zum
Zeitpunkt des Unfalls als "ohne Belang" angesehen, obwohl der Kläger in seiner Berufungsbegründung ua auf ein Gewicht des
Koffers von circa 22 kg abgestellt hatte. Auf diesem von seinen früheren Angaben abweichenden Gewicht beruht auch der vom
Kläger aufrechterhaltene Beweisantrag. Wenn das LSG in seinem Urteil zur Begründung der Zurückweisung dieses Beweisantrags
ausführt, die neuen Angaben des Klägers zu dem Gewicht seien nicht glaubhaft, so beinhaltet dies inzident die Aussage des
LSG, dass das Gewicht des Koffers nicht belanglos ist.
Auf dieser für die Beteiligten überraschenden und zum Schreiben des LSG widersprüchlichen Beurteilung der Bedeutung des Gewichts
des Koffers kann das Urteil des LSG auch beruhen. Denn es ist denkbar, dass das LSG aufgrund des von einem deutlich höheren
Gewicht ausgehenden Beweisantrags des Klägers zur Einholung eines weiteren Gutachtens sich gedrängt gesehen oder zunächst
versucht hätte, das Gewicht des Koffers zB durch eine Anfrage beim Hersteller zu klären. Im Übrigen hätte der Kläger, wenn
er darauf hingewiesen worden wäre, dass das Gewicht nicht belanglos ist, das LSG aber seinem Beweisantrag aus den aufgezeigten
Gründen nicht folgen will, durch entsprechende Beweisanträge die Richtigkeit seiner Behauptung über das Gewicht unter Beweis
stellen können. Diese weiteren Beweiserhebungen hätten zu einer für den Kläger positiven Entscheidung führen können.
Der Senat hat von der durch §
160a Abs
5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten
Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Denn ohne
Tatsachenfeststellungen über die Schwere des Hilti-Koffers und eine mögliche weitere medizinische Begutachtung kann über die
zwischen den Beteiligten umstrittene Anerkennung der Rotatorenmanschettenläsion rechts als Unfallfolge und die Gewährung einer
Verletztenrente vom Bundessozialgericht nicht abschließend entschieden werden.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.