Honorierung vertragsärztlicher Leistungen; Zulässigkeit der Einbeziehung von Leistungen in das Regelleistungsvolumen; Statthaftigkeit
von Honorarkürzungen bei Fallwertsteigerungen
Gründe:
I
Im Streit steht die Höhe vertragsärztlichen Honorars für die Quartale II/2005 und III/2005.
Die Klägerin ist eine Gemeinschaftspraxis dreier zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassener Fachärzte für Anästhesiologie.
Die Ärzte erbringen nach den Feststellungen des LSG zugleich aufgrund eines Belegarztvertrages stationäre (belegärztliche)
Leistungen am A. - in D., einem Belegkrankenhaus. Mit Honorarbescheid vom 22.1.2006 (idF des Bescheides vom 29.6.2006) setzte
die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) das Honorar der Klägerin für das Quartal II/2005, mit weiterem Bescheid vom
12.8.2006 für das Quartal III/2005 fest.
Dabei wandte sie ihren Honorarverteilungsvertrag (HVV) an, welcher zeitgleich mit dem neu gefassten Einheitlichen Bewertungsmaßstab
für ärztlichen Leistungen (EBM-Ä) zum 1.4.2005 in Kraft getreten war. Dieser sah ua in Ziffer 6.3 HVV eine Vergütung der Leistungen
innerhalb von Regelleistungsvolumina (RLV) vor. In Anwendung dieser Regelung auch auf die von der Klägerin auf belegärztliche
Überweisung hin erbrachten Anästhesien sowie auf Leistungen nach den Nr 01100, 01101, 01102, 01220, 01221, 01222 und 05230
EBM-Ä ergab sich im Quartal II/2005 eine Überschreitung des praxisbezogenen RLV um 3.319.792,9 Punkte und im Quartal III/2005
um 2.996.545,2 Punkte. Über das RLV hinausgehende Leistungen wurden mit Punktwerten von jeweils 0,493 Cent (Primärkassen)
bzw 0,497 Cent (Ersatzkassen) vergütet.
Während die Widersprüche der Klägerin erfolglos blieben, hat das SG auf ihre Klage die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide zur Neubescheidung nach Maßgabe seiner - des SG - Rechtsauffassung verpflichtet (Urteil des SG vom 22.10.2008). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil des LSG vom 24.6.2009). Zur Begründung hat
es - unter weitgehender Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG-Urteils - ausgeführt, die Honorarbescheide seien insoweit rechtswidrig, als die Beklagte nicht dem RLV unterliegenden Leistungen
entgegen den Vorgaben in Teil III 4.1 des Beschlusses des Bewertungsausschusses (BewA) zur Festlegung von RLV durch die KÄVen
gemäß §
85 Abs
4 SGB V vom 29.10.2004 (nachfolgend als BRLV bezeichnet) innerhalb des RLV vergütet habe. Den vom BewA gemäß §
85 Abs
4a Satz 1 iVm Abs
4 Satz 7
SGB V zu beschließenden bundeseinheitlichen Vorgaben komme im Falle divergenter Regelungen der Vorrang zu. Die Vertragspartner
des HVV seien hieran in der Weise gebunden, dass sie rechtswirksam keine abweichenden Regelungen treffen könnten. Zu den in
Teil III 4.1 BRLV aufgeführten Leistungen, die nicht den RLV unterlägen, gehörten auch die streitgegenständlichen. Die Herausnahme
bestimmter Leistungen aus den RLV durch den BRLV sei mit höherrangigem Recht vereinbar. RLV seien nicht die einzige Gestaltungsmöglichkeit
für mengenbegrenzende Regelungen, wie sich aus der einleitenden Formulierung "insbesondere" in §
85 Abs
4 Satz 7
SGB V ergebe. Der BewA habe auch den Grundsätzen der Honorarverteilungsgerechtigkeit und der Leistungsgerechtigkeit der Honorarverteilung
Rechnung zu tragen. Daher sei er nicht verpflichtet gewesen, alle Leistungen dem RLV zu unterwerfen.
Außerdem habe die Beklagte generell alle stationären (belegärztlichen) Leistungen der Klägerin gemäß Teil III 4.1 BRLV außerhalb
des RLV zu vergüten. Der Definition des Behandlungsfalles in § 21 Bundesmantelvertrag-Ärzte könne insoweit für die Auslegung
der Regelung nichts Wesentliches entnommen werden. Ebenso seien auch Anästhesieleistungen auf belegärztliche Überweisung hin
außerhalb des RLV zu vergüten, wie eine sinngemäße Auslegung von Teil III 4.1 BRLV ergebe. Nichts spreche dafür, dass der
BewA die hier umstrittenen Fälle der stationären Behandlung auf Anforderung von Belegärzten von der Befreiung vom RLV habe
ausnehmen wollen. Auch die Zielsetzung der Regelung würde eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich des RLV nicht rechtfertigen.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von Bundesrecht. Die Einbeziehung der Leistungen nach Nr 01100, 01101,
01102, 01220, 01221, 01222 und 05230 EBM-Ä in die RLV sei rechtmäßig. Rechtswidrig sei vielmehr die Vorgabe in Teil III 4.1
BRLV, bestimmte Leistungen nicht dem RLV zu unterwerfen. Der BewA sei zwar gesetzlich ermächtigt, mengensteuernde Maßnahmen,
insbesondere RLV, einzuführen, nicht jedoch dazu, zwischen Leistungen zu differenzieren, die dem RLV unterfielen bzw nicht
unterfielen. Nach §
85 Abs
4 Satz 7
SGB V seien für sämtliche vertragsärztlichen Leistungen arztgruppenspezifische Grenzwerte festzulegen; einzige Ausnahme stellten
Leistungen dar, die keiner Mengenausweitung zugänglich seien. Diese Sichtweise lege auch die Regel-AusnahmeSystematik des
SGB V nahe, da das Gesetz selbst Ausnahmen vorsehe, wenn es Leistungen nicht den Maßgaben der budgetierten Gesamtvergütung unterwerfe.
So sei beispielsweise die vom BewA nicht in das RLV einbezogene Nr 05230 EBM-Ä eine typische Begleitleistung zu anderen ärztlichen
Leistungen und somit zumindest mittelbar der Mengenausweitung zugänglich. §
85 Abs
4a SGB V enthalte keine Ermächtigung des BewA zur Förderung bestimmter Leistungen im Wege der Konstituierung von Ausnahmen zu Mengenbegrenzungsregelungen.
Sie - die Beklagte - sei auch nicht zur ausnahmslosen Umsetzung der im BRLV enthaltenen Vorgaben verpflichtet gewesen, weil
der Beschluss in seinem Teil III 2.2 den KÄVen die Möglichkeit eröffne, andere Steuerungsinstrumente anzuwenden, die in ihren
Auswirkungen mit der gesetzlichen Regelung in §
85 Abs
4 SGB V vergleichbar seien. Dies sei, wie noch ausgeführt werde, bei ihr der Fall gewesen. Im Übrigen stellten die Regelungen im
BRLV lediglich Empfehlungen, jedoch keine verbindlichen Vorgaben dar, da der Beschluss den Vertragspartnern des HVV Handlungsspielräume
eröffne. Schließlich sei die Einbeziehung der streitbefangenen Leistungen in das RLV zumindest unter dem Gesichtspunkt einer
Anfangs- und Erprobungsregelung gerechtfertigt. Der ihr - der Beklagten - eingeräumte erweiterte Gestaltungsspielraum werde
obsolet, wenn sie trotz zahlreicher Abweichungsklauseln und Neuregelungen derart konkret gebunden wäre, dass sie bestimmte
Leistungen vom RLV auszunehmen hätte.
Nichts anderes gelte bezüglich der Einbeziehung solcher Leistungen in das RLV, die auf Anforderung von Belegärzten erbracht
worden seien. Die Arztgruppe der Fachärzte für Anästhesiologie sei im BRLV in Anlage 1 zum Teil III als Gruppe aufgeführt,
für die RLV berechnet werden sollten. Es sei nicht einsichtig, wieso Anästhesien auf Anforderung von Belegärzten anders zu
behandeln sein sollten als die von den übrigen Anästhesiologen erbrachten Leistungen. Sollte die Sicherstellung von Anästhesien
im Rahmen von belegärztlichen Eingriffen das Motiv gewesen sein, sei auf den Gestaltungsspielraum der Beklagten zu verweisen.
Nach der Definition des Behandlungsfalles seien Leistungen, die in stationären (belegärztlichen) Behandlungsfällen erbracht
würden, bereits vom Wortlaut des BRLV her solche Leistungen, die Belegärzte selbst in ihren stationären Behandlungsfällen
erbrächten.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Juni 2009 sowie des Sozialgerichts Marburg vom 22. Oktober 2008 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Bindungswirkung des Beschlusses des BewA und dessen diesbezügliche Befugnis sei durch das Urteil des entscheidenden Senats
vom 3.2.2010 (B 6 KA 31/08 R) bestätigt worden. Ebenso wie im Falle der Dialyse sei eine Mengenausweitung auch bezüglich der Nr 01100, 01101, 01102, 01220,
01221, 01222, 05230 EBM-Ä nicht möglich. Die Klägerin als belegärztliche Praxis könne ihre Leistungen gar nicht ausweiten,
sondern sei an Vorgaben gebunden, die sie nicht beeinflussen könne. Sie sei nicht befugt, eine Krankenhauseinweisung zu überprüfen
oder zB die Notwendigkeit einer Operation zu hinterfragen. Sie würde erst dann eingeschaltet, wenn die Notwendigkeit einer
Operation durch den Chirurgen, Internisten usw abgeklärt und eindeutig bestätigt worden sei. Eine restriktive Auslegung des
Beschlusses des BewA sei nicht zulässig. Beschlüsse des BewA seien keiner Auslegung zugänglich, wie sie etwa für Gesetzesnormen
gelte; abzustellen sei vielmehr auf den Wortlaut. Die Beklagte habe auch vor dem Quartal II/2005 keine RLV eingeführt, die
eine Abweichung von Beschlüssen des BewA nach dem 1.4.2005 rechtfertigten. Anfangs- und Erprobungsregelungen kämen nur dann
und insoweit in Betracht, als dem entsprechenden Gremium ein Entscheidungsspielraum eingeräumt worden sei. Vorliegend räume
das Gesetz der Beklagten jedoch keinen derartigen Spielraum ein, sondern es ermächtige den BewA, zwingende Vorgaben zu formulieren,
an die sich jede KÄV zu halten habe.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das SG und das LSG haben in der Sache zu Recht entschieden, dass die Beklagte erneut über den Honoraranspruch der Klägerin zu entscheiden
hat. Die Honorarbescheide der Beklagten sind rechtswidrig, weil die ihnen zugrunde liegenden Bestimmungen des HVV in der hier
maßgeblichen, ab dem 1.4.2005 geltenden Fassung - soweit sie im Streit stehen - unwirksam sind, soweit sie eine Einbeziehung
auch solcher Leistungen in das RLV vorsehen, die nach Teil III 4.1 BRLV hiervon ausgenommen sind.
1. Die Bestimmungen im HVV, die die Zuordnung zu einem RLV auch für die Leistungen vorsahen, die nach Teil III 4.1 BRLV dem
RLV nicht unterliegen, waren mit den im BRLV normierten vorrangigen Vorgaben des BewA nicht vereinbar.
a) In den Regelungen des HVV, den die Beklagte und die Krankenkassen zum 1.4.2005 vereinbart hatten, wurden auch die streitbefangenen,
belegärztlich erbrachten Leistungen nach den Nr 01100, 01101, 01102, 01220, 01221, 01222 und 05230 EBM-Ä den RLV zugeordnet
(vgl § 6 HVV betreffend Honorar[unter]gruppe B 2.1 iVm Anlage zu Ziffer 6.2 HVV).
aa) Diese Regelung verstieß gegen die Vorgaben des BewA, die dieser - gemäß der ihm nach §
85 Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V übertragenen Aufgabe - am 29.10.2004 mit Wirkung für die Zeit ab 1.1.2005 beschlossen hatte (BRLV - DÄ 2004, A 3129). Gemäß
Teil III Nr 2.1 iVm Nr 3 dieses Beschlusses waren die KÄVen verpflichtet, in der Honorarverteilung RLV in der Weise festzulegen,
dass arztgruppeneinheitliche Fallpunktzahlen vorzusehen waren, aus denen durch Multiplikation mit individuellen Behandlungsfallzahlen
praxisindividuelle Grenzwerte zu errechnen waren, in deren Rahmen die Vergütung nach einem festen Punktwert (sogenannter Regelleistungspunktwert)
zu erfolgen hatte. Unter Teil III Nr 4.1 des Beschlusses waren tabellarisch die aus dem Arztgruppentopf zu vergütenden Leistungen
aufgeführt, die dem RLV nicht unterlagen. Darin waren unter anderem - unter 1.1 - die Leistungen nach den Nr 01100 bis 01110
EBM-Ä ("Besondere Inanspruchnahme"), unter 1.2 die Leistungen nach den Nr 01210 bis 01222 EBM-Ä ("Leistungen im organisierten
Notfalldienst und im Notfall") sowie - unter 5.2 - die Leistungen nach Nr 05230 EBM-Ä aufgeführt ("Aufsuchen eines Kranken
durch Anästhesiologen").
bb) Diese Regelungen des BewA gehen denjenigen des HVV vor, wie der Senat bereits mit Urteil vom 3.2.2010 (B 6 KA 31/08 R - BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53) entschieden hat. Dies folgt daraus, dass in §
85 Abs
4 Satz 6 bis 8 iVm Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V vorgesehen ist, dass "der Bewertungsausschuss ... den Inhalt der nach Abs 4 Satz 4, 6, 7 und 8 zu treffenden Regelungen"
bestimmt. Zudem ist in §
85 Abs
4 Satz 10
SGB V normiert, dass "die vom Bewertungsausschuss nach Abs 4a Satz 1 getroffenen Regelungen ... Bestandteil der Vereinbarungen
nach Satz 2" sind. Durch diese beiden Bestimmungen ist klargestellt, dass der Inhalt des HVV sich nach den vom BewA normierten
Vorgaben zu richten hat und dass diese Regelungen des BewA Bestandteil des HVV sind. Aus beidem folgt jeweils, dass die Bestimmungen
des HVV nachrangig gegenüber den Vorgaben des BewA sind, sodass der HVV zurücktreten muss, soweit ein Widerspruch zwischen
ihm und den Vorgaben des BewA vorliegt, es sei denn, dieser hätte Spielräume für die Vertragspartner des HVV gelassen.
cc) Wie der Senat ebenfalls mit Urteil vom 3.2.2010 (aaO unter RdNr 22 f) entschieden hat, ließen die Regelungen des BewA
keine Spielräume für abweichende Regelungen zu, sondern waren von den Partnern des HVV strikt zu beachten. Dies gilt nicht
nur in Bezug auf Dialyseleistungen, deren Einbeziehung in das RLV in jenem Verfahren strittig war, sondern gleichermaßen für
die streitbefangenen Leistungen nach den Nr 01100, 01101, 01102, 01220, 01221, 01222 und 05230 EBM-Ä. Die Regelungen unter
Teil III 4. BRLV bestimmten ausdrücklich, dass die dort aufgeführten Leistungen, Leistungsarten und Kostenerstattungen nicht
dem RLV unterlagen, und sahen Abweichungen (Rückausnahmen) von den dort geregelten Ausnahmen nicht vor (4.: "Von der Anrechnung
auf das Regelleistungsvolumen ausgenommen sind..."; 4.1: "...., die dem Regelleistungsvolumen nicht unterliegen").
Ausdrückliche Abweichungen von den Vorgaben des BewA waren nur insoweit gestattet, als die Übergangsregelung in Teil III Nr
2.2 BRLV zuließ, dass bisherige Steuerungsinstrumente fortgeführt wurden, deren Auswirkungen mit den Vorgaben des §
85 Abs
4 SGB V vergleichbar waren. Die in dem HVV enthaltene, vom BRLV abweichende Einbeziehung der streitbefangenen Leistungen stellte
indessen keine gemäß Nr 2.2 aaO zulässige Abweichung dar.
Wie der Senat in seinem Urteil vom 3.2.2010 (BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 23), das ebenfalls den hier maßgeblichen HVV der Beklagten in der ab dem 1.4.2005 geltenden
Fassung betraf, bereits im Einzelnen dargelegt hat, fehlte es bereits vom Inhalt der Honorarverteilungsregelungen her an der
Fortführung solcher "Steuerungsinstrumente, die in ihren Auswirkungen mit der gesetzlichen Regelung in §
85 Abs
4 SGB V vergleichbar sind": Die Honorarverteilung war bis Anfang 2005 auf der Grundlage praxisindividueller PunktzahlObergrenzen
geregelt, wie in dem vom BSG (aaO) in Bezug genommenen Urteil des Hessischen LSG vom 23.4.2008 (L 4 KA 69/07) zum HVV der Beklagten ausgeführt worden ist. Diese Regelungsstrukturen stellen keine Steuerungsinstrumente dar, deren Auswirkungen
mit den Vorgaben des §
85 Abs
4 SGB V vergleichbar sind. Überdies fehlte es auch an einer "Fortführung" von entsprechenden Steuerungsinstrumenten. Denn insgesamt
wurden zum Quartal II/2005 im Vergleich zu den vorher geltenden Honorarverteilungsregelungen sehr viele Änderungen vorgenommen,
wie sich aus der Zusammenstellung der Beklagten in ihrem Rundschreiben "Die Honorarverteilung ab dem 2. Quartal 2005" ergibt
(BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, aaO unter Hinweis auf "info.doc" Nr 2, 2005, S 37-45).
dd) Waren die Bestimmungen des HVV der Beklagten also mit den Vorgaben, die der BewA in Ausübung seiner Kompetenz gemäß §
85 Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V normiert hatte, nicht vereinbar, so folgt daraus entsprechend den allgemeinen Grundsätzen der Normengeltung und -hierarchie,
dass die im Verhältnis zu den höherrangigen Regelungen des BewA nachrangigen Bestimmungen des HVV rechtswidrig und damit unwirksam
waren (vgl BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 24; zur Normenhierarchie vgl auch die Rspr zum höheren Rang der vom BewA beschlossenen Regelungen
des EBM-Ä gegenüber Honorarverteilungsregelungen: zB BSGE 86, 16, 25 = SozR 3-2500 § 87 Nr 23 S 124; BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, RdNr 51 mwN; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 17 RdNr 12).
Wenn sich die Beklagte demgegenüber auf die ihr (zusammen mit den Krankenkassenverbänden) als Normgeber zustehende Gestaltungsfreiheit
beruft, lässt sie unberücksichtigt, dass diese Gestaltungsfreiheit nur im Rahmen der gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben
besteht. Gestaltungsspielräume der KÄVen bestehen nur - von der Struktur her der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art
72 Abs
1 GG ähnlich -, soweit und solange höherrangige Normgeber - insbesondere der Gesetzgeber, aber auch der BewA innerhalb der ihm
übertragenen Kompetenzen - die Materie nicht selbst geregelt haben.
b) Gegenüber dem Vorrang der BewA-Regelungen und der Unwirksamkeit der HVV-Bestimmungen greift nicht der Einwand der Beklagten
durch, der Beschluss des BewA über die Freistellung von Leistungen - namentlich solcher nach Nr 01100, 01101, 01102, 01220,
01221, 01222 und 05230 EBM-Ä - von den RLV sei unwirksam, weil er gegen höherrangiges Recht verstoße.
aa) Die Ansicht, diese Freistellung verstoße gegen die "Leitlinie" des §
85 Abs
4 Satz 6 und 7
SGB V und stelle deshalb keine zulässige Inhaltsbestimmung gemäß §
85 Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V dar, trifft nicht zu.
Der BewA hat im Rahmen der ihm gemäß §
85 Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V übertragenen Aufgabe, den Inhalt der nach Abs 4 Satz 7 zu treffenden Regelungen zu bestimmen und dabei RLV vorzusehen, ein
gewisses Maß an Gestaltungsfreiheit (BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 26; zuletzt BSG Urteil vom 17.3.2010 - B 6 KA 43/08 R - SozR 4-2500 § 85 Nr 54 RdNr 20 f, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Dies gilt sowohl für die Bestimmung derjenigen
Arztgruppen, die nicht dem RLV unterliegen (zB der Nephrologen, dazu BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 26), als auch für abweichende Regelungen bezüglich einzelner Leistungen. Einer ausdrücklichen
gesetzlichen Ermächtigung des BewA, bestimmte Leistungen oder Leistungsgruppen aus den RLV herauszunehmen, hat es daher nicht
bedurft.
Die Entscheidung, (ua) die streitgegenständlichen Leistungen nicht in die RLV einzubeziehen, hält sich auch im Rahmen dieser
Gestaltungsmöglichkeiten. Wie der Senat bereits entschieden hat (s BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr
26), lässt sich der Bestimmung des §
85 Abs
4 Satz 7
SGB V nicht entnehmen, dass RLV flächendeckend ohne jede Ausnahme geschaffen werden müssten. Vielmehr reichen Vorschriften aus,
die für weite Bereiche RLV vorsehen. Dem hat der BewA Rechnung getragen, indem er in seinem Beschluss vom 29.10.2004 in Anlage
1 (zum Teil III Nr 3.1 Satz 1) die meisten Arztgruppen aufgeführt und somit vorgegeben hat, dass die HVV für diese Arztgruppen
RLV vorsehen müssen.
bb) Die Gestaltungsfreiheit des BewA ist allerdings durch das Gebot der Gleichbehandlung gemäß Art
3 Abs
1 GG begrenzt. Er darf nicht willkürlich einige Arztgruppen bzw Leistungen einbeziehen und andere unberücksichtigt lassen. Vielmehr
sind Ungleichbehandlungen nur insoweit zulässig, als sie durch sachliche Gründe gerechtfertigt sind (vgl hierzu zB BSG SozR
4-2500 § 85 Nr 38 RdNr 15 f mit BVerfG-Angaben; BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 27).
Nach diesem Maßstab ist die - für den vorliegenden Rechtsstreit relevante - Nichteinbeziehung der Leistungen nach Nr 01100,
01101, 01102, 01220, 01221, 01222 und 05230 EBM-Ä unbedenklich; denn in diesem Leistungsbereich bestehen Besonderheiten, die
den BewA berechtigen - aber nicht verpflichten -, diese Leistungen von der Einbeziehung in RLV freizustellen. Als derartige
Besonderheit hat es der Senat bereits in seinem Urteil vom 3.2.2010 (BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 28) gewertet, dass in einem Bereich eine Leistungs- und Mengenausweitung zwar nicht ausgeschlossen,
diese Gefahr aber geringer ist als in anderen ärztlichen Bereichen.
Dies gilt auch für die hier in Rede stehenden Leistungen; auch diese sind nur mittelbar einer Mengenausweitung zugänglich.
Zu einer mittelbaren Mengenausweitung kann es allein über eine Ausweitung der ihnen zugrundeliegenden Leistungen kommen. Gegenstand
der Leistungen nach Nr 05230 EBM-Ä ist das "Aufsuchen eines Kranken in der Praxis eines anderen Arztes" durch einen Anästhesiologen
zur Durchführung von Narkosen bzw Anästhesien; diese erfolgen insbesondere im Zusammenhang mit Leistungen des Kapitels 31
EBM-Ä, also mit ambulanten und belegärztlichen Operationen. Bei der anästhesistischen Begleitung ambulanter Operationen besteht
naturgemäß eine starke Abhängigkeit der Anästhesiologen von den zuweisenden Operateuren (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 45 RdNr 19).
Nur Letztere sind in der Lage, die Zahl der durchgeführten Operationen zu erhöhen.
Die Nr 01220, 01221 und 01222 EBM-Ä betreffen den "Reanimationskomplex" bzw Zuschläge zu dieser Leistung. Bereits der Anlass
der Leistungserbringung schließt es aus, dass eine Ausweitung der Leistungsmenge seitens der beteiligten Ärzte angestrebt
werden könnte. Die Nr 01100, 01101 und 01102 EBM-Ä betreffen die "unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch
einen Patienten" in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende und an Feiertagen. Nach dem Wortlaut der Leistungslegende
liegt eine vom Behandler zu steuernde Mengenausweitung eher fern. Bei korrekter Anwendung der Gebührenordnung und klarer Abgrenzung
zu regulären Wochenend- und Abendsprechstunden (dazu näher BSGE 97, 84 = SozR 4-2500 § 106 Nr 15, RdNr 21 und BSG Beschluss vom 29.11.2007 - B 6 KA 52/07 B - juris, dort RdNr 8) hat der Arzt kaum Möglichkeiten, auf seine Inanspruchnahme hinzuwirken. Dies gilt nicht zuletzt deswegen,
weil die aktuelle Leistungslegende - im Vergleich zu Nr 5 EBM-Ä aF, welcher den vorerwähnten Senatsentscheidungen zugrunde
lag - durch die Einfügung des Wortes "unvorhergesehen" präzisiert worden ist.
Eine zulässige Erwägung stellt auch eine beabsichtigte Förderung bestimmter Leistungen durch die Nichteinbeziehung in die
RLV dar. So hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 3.2.2010 (BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 28) dem BewA das Recht zugestanden, zu prüfen und ggf zu berücksichtigen, ob bestimmte Leistungen
in höherem Maße förderungswürdig sind, weil die durch sie zu gewährleistende (flächendeckende) Versorgung noch nicht optimal
ausgebaut ist. Dies wird (ex post) durch §
87a Abs
3 Satz 5 Halbsatz 2
SGB V sowie durch §
87b Abs
2 Satz 7
SGB V idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) bestätigt, welche die Möglichkeit eröffnen, zum einen (weitere) vertragsärztliche Leistungen außerhalb der vereinbarten
Gesamtvergütungen mit den Preisen der Euro-Gebührenordnung zu vergüten, wenn diese besonders gefördert werden sollen (§
87a Abs
3 Satz 5 Halbsatz 2
SGB V), zum anderen, weitere vertragsärztliche Leistungen außerhalb der RLV zu vergüten, dh nicht in die RLV einzubeziehen (§
87b Abs
2 Satz 7
SGB V).
Eine derartige Förderung wird erkennbar auch hinsichtlich der streitgegenständlichen Leistungen nach Nr 05230 EBM-Ä bezweckt.
Diese erfolgen insbesondere im Zusammenhang mit Leistungen des Kapitels 31 EBM-Ä, also mit ambulanten und belegärztlichen
Operationen. Ambulante und belegärztliche Operationen wiederum unterliegen nach Teil III 4.1 BRLV ihrerseits nicht den RLV.
Dies entspricht dem auch sonst erkennbaren Willen des Gesetzgebers, ambulante Operationen und belegärztliche Leistungen zu
fördern (vgl §§
116,
116a und
116b SGB V sowie §
121 Abs
1 Satz 1
SGB V; s auch Begründung des Regierungsentwurfs zum Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes, BT-Drucks 11/2237, S 203 zu § 130 des
Entwurfs [§ 121 SGB V]).
Ausgeschlossen war die Herausnahme der streitbefangenen Leistungen aus den RLV auch nicht etwa deshalb, weil eine derartige
Befugnis dem Gesetzgeber vorbehalten sei. Zwar trifft es zu, dass der Gesetzgeber in verschiedenen Fällen die Geltung von
Budgetierungen eingeschränkt hat (s § 85 Abs 2 Satz 4 und 5, Abs
2a, Abs
3a Satz 4, 6 und 7
SGB V). Hierin liegt aber keine abschließende Regelung, die es dem BewA verbieten würde, seinerseits Ausnahmen von der Geltung
der RLV vorzugeben. Diese Bestimmungen stehen selbstständig neben den Sonderregelungen für RLV in §
85 Abs
4 Satz 7 iVm Abs
4a Satz 1 letzter Teilsatz
SGB V (so bereits BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 §
85 Nr 53, RdNr 30).
cc) Nach alledem waren die Vorgaben des BewA in seinem Beschluss vom 29.10.2004 über die Nichteinbeziehung der streitgegenständlichen
Leistungen in die RLV nicht zu beanstanden und daher wirksam.
c) Die diesen Vorgaben widersprechenden Regelungen des HVV lassen sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Anfangs- und
Erprobungsregelungen rechtfertigen. Denn das kommt nach der Rechtsprechung des Senats regelmäßig nicht in Betracht, wenn eine
Regelung schon von ihrer Struktur her mit höherrangigen Vorgaben nicht übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 16 S 106
f; BSGE 88, 126, 137 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 29 S 157; BSGE 96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 35; zuletzt BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 31 sowie BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 54 RdNr 29, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Dies ist hier der Fall, wie der Senat bereits in seiner - die Einbeziehung von Dialyseleistungen in die RLV durch den HVV
der Beklagten betreffenden - Entscheidung vom 3.2.2010 (BSGE 105, 236 = SozR 4-2500 § 85 Nr 53, RdNr 31) festgestellt hat. Denn der Einbeziehung der streitbefangenen Leistungen in die RLV standen
- wie dargelegt - verbindliche Vorgaben des BewA entgegen. Die Beklagte verkennt insoweit, dass der ihr im Rahmen einer Anfangs-
und Erprobungsregelung eingeräumte erweiterte Gestaltungsspielraum nicht pauschal von der Beachtung der rechtlichen Vorgaben
entbindet (vgl BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 50 RdNr 24). Dieser besondere Gestaltungsspielraum wird entgegen der Auffassung der
Beklagten auch nicht dadurch obsolet, dass er nicht zum Erlass von Regelungen ermächtigt, die von vornherein den gesetzlichen
oder vertraglichen Bestimmungen zuwiderlaufen.
2. Rechtswidrig sind die angefochtenen Honorarbescheide der Beklagten auch insoweit, als diese die von der Klägerin auf Überweisung
durch Belegärzte hin erbrachten Anästhesien nach ambulanten Grundsätzen vergütet und damit den RLV unterworfen hat.
Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob dies gegen die Bestimmungen des BRLV oder bereits unmittelbar gegen die Regelung in
Ziffer 6.4 HVV verstößt. Nach Teil III Ziffer 4.1 Abs 2 des Beschlusses vom 29.10.2004 (DÄ 2004, A 3129) unterliegen - über
die dort enumerativ aufgeführten Leistungen hinaus - auch Leistungen nicht dem RLV, die "in stationären (belegärztlichen)
Behandlungsfällen erbracht werden". Nach Ziffer 6.4 HVV werden unter anderem "stationäre (belegärztliche) Leistungen (einschließlich
belegärztliche Operationen)" vorab zu einem Punktwert von 4 Cent und damit außerhalb der RLV vergütet. Sofern die Normgeber
des HVV damit bewusst eine vom BRLV abweichende Beschränkung des Regelungsgegenstandes auf originäre belegärztliche Leistungen
vorgenommen haben, wäre dies als Verstoß gegen den vorrangigen BRLV unbeachtlich, wie unter 1. dargelegt. Sollte damit hingegen
die Regelung des BRLV nachvollzogen werden, geht die Argumentation der Beklagten fehl, dass (auch) diese allein für originär
belegärztliche Leistungen Geltung beansprucht. Denn bei den für die Durchführung einer belegärztlichen Operation unerlässlichen
Anästhesien handelt es sich ebenfalls um Leistungen, die "in" belegärztlichen Behandlungsfällen erbracht werden. Sie sind
Teil der belegärztlichen Behandlung wie die eigentliche Leistung, auch wenn sie nicht vom Belegarzt selbst, sondern durch
einen hinzugezogenen Facharzt erbracht werden.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 31.1.2001 (SozR 3-2500 § 121 Nr 3) klargestellt, dass Fachärzte für Anästhesiologie
selbst dann, wenn sie nicht selbst als Belegärzte tätig geworden sind, solchen hinsichtlich ihrer Vergütungsansprüche gleichstehen,
da sie belegärztlich angeordnete Dienstleistungen als Vertragsärzte erbracht haben (aaO S 9 f). Der Senat hat weiter dargelegt,
dass zu den nach den Grundsätzen des Vertragsarztrechts zu honorierenden Leistungen nicht nur die unmittelbar von Belegärzten
selbst erbrachten Leistungen gehören, sondern der belegärztlichen Tätigkeit auch die vom Belegarzt veranlasste Tätigkeit niedergelassener
Vertragsärzte anderer Fachgebiete zuzuordnen ist (aaO S 10). Somit bedürfte es dann, wenn anästhesiologische Begleitleistungen
anders als die "eigentlichen" belegärztlichen Leistungen vergütet werden sollten, einer entsprechenden, eindeutigen Regelung.
3. Nach der Anpassung des HVV wird die Beklagte neu über die Honoraransprüche der Klägerin zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1 Halbsatz 3
SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§
154 ff
VwGO. Danach hat die Beklagte die Kosten des erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen (§
154 Abs
2 VwGO).