Vergütung der Anwaltskosten im sozialgerichtlichen Verfahren, Entstehen der Erledigungsgebühr für einen ärztlichen Befundbericht
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger gegen den Beklagen nach Durchführung eines für ihn erfolgreichen Vorverfahrens
ein Anspruch auf Erstattung einer Erledigungsgebühr nach der Nr 1005 iVm Nr 1002 Vergütungsverzeichnis (VV = Anlage 1) zum
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) zusteht.
Der Beklagte stellte beim Kläger das Vorliegen einer Behinderung fest, die er zunächst mit einem Grad der Behinderung (GdB)
von 40 bewertete (Bescheid vom 15.7.2004). Hiergegen ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten Widerspruch einlegen, mit
dem er die Feststellung eines GdB von 60 begehrte. Die Bevollmächtigten legten ärztliche Unterlagen bei. Außerdem veranlassten
sie den Kläger, von behandelnden Ärzten neue Befundberichte einzuholen, die sie dem Beklagten mit Schreiben vom 1.9.2004 und
vom 13.9.2004 vorlegten. Der Ärztliche Dienst des Beklagten wertete diese aus und vertrat die Auffassung, dass in dem mit
Schreiben vom 13.9.2004 beigebrachten Befundbericht ein neues Behinderungsleiden bezeichnet sei, das eine Anhebung des GdB
auf 60 rechtfertige. Der Beklagte half daraufhin dem Widerspruch ab und erklärte sich bereit, die zur zweckentsprechenden
Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen im Vorverfahren zu erstatten, wobei er die Zuziehung eines Bevollmächtigten
für notwendig hielt (Abhilfebescheid vom 6.10.2004).
Der Beklagte erstattete die von den Bevollmächtigten des Klägers geltend gemachte Geschäftsgebühr nach Nr 2500 VV RVG nebst einer Auslagenpauschale nach Nr 7002 VV RVG zuzüglich Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 301,60 Euro. Die Erstattung der weiter geforderten Erledigungsgebühr nach Nr
1005 iVm Nr 1002 VV RVG in Höhe von 240,00 Euro zuzüglich 16 % Mehrwertsteuer lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 12.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22.2.2005). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Nürnberg [SG] vom 2.12.2005; Urteil des
Bayerischen Landessozialgerichts [LSG] vom 6.3.2007). Das LSG hat ausgeführt: Die Voraussetzungen einer Erledigungsgebühr
nach Nr 1005 iVm Nr 1002 VV RVG lägen nicht vor, denn das Widerspruchsverfahren habe sich nicht durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt. Die jüngere Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts [BSG] (BSG, Urteile vom 7.11.2006 - B 1 KR 13/06 R, B 1 KR 22/06 R, B 1 KR 23/06 R) verlange eine qualifizierte erledigungsgerichtete Mitwirkung des Rechtsanwalts. Die anwaltliche Tätigkeit müsse über das
Maß hinausgehen, das schon durch den allgemeinen Gebührentatbestand für das anwaltliche Auftreten im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren
abgegolten werde. Dafür reiche hier die Widerspruchsbegründung, die Aufforderung an den Kläger, sich ärztlich untersuchen
zu lassen, und die Vorlage der Befundberichte nicht aus. Dies seien Verfahrenshandlungen, die mit der Geschäftsgebühr abgegolten
seien.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der Nr 1002 iVm Nr 1005 VV RVG. Die Erledigungsgebühr sei eine Erfolgsgebühr, die der Anwalt erhalte, wenn er an dem eingetretenen Erfolg mindestens ursächlich
mitgewirkt habe. Dies sei hier der Fall gewesen. Seine Bevollmächtigten hätten ihm ausdrücklich angeraten, Atteste von weiteren
Ärzten einzuholen. Diese seien dann vorgelegt worden. Auf eines dieser Atteste habe sich der Abhilfebescheid gestützt. Die
Tätigkeit seiner Anwälte sei im vorliegenden Fall weit über das übliche Maß hinausgegangen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG vom 6.3.2007 und des SG vom 2.12.2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.2.2005 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, an ihn die im Widerspruchsverfahren angefallene Erledigungsgebühr nach Nr 1005 VV RVG in Höhe von 240,00 Euro zuzüglich gesetzlicher Umsatzsteuer zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Weder die Beratung des Klägers noch die Übersendung der Atteste sei eine auf eine
Erledigung gerichtete qualifizierte Mitwirkung eines Prozessbevollmächtigten im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des BSG.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§
124 Abs
2 SGG).
II. Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende
Urteil des SG zurückgewiesen. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des LSG nach § 63 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 SGB X Anspruch auf Erstattung einer Erledigungsgebühr nach Nr 1005 iVm Nr 1002 VV RVG.
Nach § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X hat bei einem erfolgreichen (isolierten) Vorverfahren der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen
hat, dem Widerspruchsführer "die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung ... notwendigen Aufwendungen zu erstatten". Dabei
sind nach § 63 Abs 2 SGB X "die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines
Bevollmächtigten notwendig war". Da der Beklagte bereits in der Abhilfeentscheidung die Zuziehung eines Rechtsanwalts für
notwendig erklärt hat, richtet sich der Erstattungsanspruch nach den gesetzlichen Bestimmungen über die Vergütung der Rechtsanwälte
(zur Kostenerstattung bei Verbandsvertretern vgl allgemein BSG, Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 3/05 R - SozR 4-1300 § 63 Nr
6, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Die Vergütung (Gebühren und Auslagen) für anwaltliche Tätigkeiten der Rechtsanwälte bemisst sich seit dem 1.7.2004 nach dem
RVG idF des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (KostRMoG) vom 5.5.2004 (BGBl I 718; vgl § 1 Abs 1 Satz 1 RVG). Dieses Gesetz ist hier anzuwenden, da der Kläger seinen Bevollmächtigten den Auftrag zur Einlegung des Widerspruchs - wie
das LSG festgestellt hat - nach dem Inkrafttreten des RVG am 1.7.2004 erteilt hat (vgl hierzu die Übergangsregelung in § 60 Abs 1 Satz 1 RVG).
Die Höhe der Vergütung bestimmt sich gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 RVG nach dem VV der Anlage 1 zum RVG. Eine Erledigungsgebühr nach Nr 1005 VV RVG kommt bei einer "Einigung oder Erledigung in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren
entstehen (§ 3 RVG)", in Betracht. Ginge es um ein gerichtliches Verfahren, entstünden nach § 3 Satz 1 RVG Betragsrahmengebühren. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung seiner Behinderung nach §
69 Abs
1 SGB IX geltend gemacht, für den der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben ist (§
51 Abs
1 Nr
7 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG sind hier auch die weiteren Voraussetzungen für das Entstehen einer Erledigungsgebühr nach
Nr 1005 iVm Nr 1002 VV RVG erfüllt.
Nach den amtlichen Erläuterungen zu Nr 1002 Satz 1 VV RVG setzt diese Vorschrift voraus, dass "sich die Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem
Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt". Dem steht nach Satz 2 gleich, dass
"sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt". Diese Voraussetzungen
sind hier gegeben, denn das isolierte Vorverfahren hat sich "durch die anwaltliche Mitwirkung" erledigt.
Der 1. Senat des BSG hat am 7.11.2006 in mehreren Verfahren (B 1 KR 23/06 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen; B 1 KR 22/06 R; B 1 KR 13/06 R) entschieden, dass ein Rechtsanwalt für die Mitwirkung an der Erledigung eines isolierten Vorverfahrens durch Abhilfebescheid
dann eine Erledigungsgebühr verlangen kann, wenn er eine über die Einlegung und Begründung des Widerspruchs hinausgehende
besondere Tätigkeit entfaltet hat. Nach dem Wortlaut der Erläuterungen zu Nr 1002 (Satz 2) VV RVG komme es für das Entstehen einer Erledigungsgebühr sowohl in einer Anfechtungssituation als auch bei einem Verpflichtungsrechtsbehelf
auf die auf Erledigung gerichtete Mitwirkung des Anwalts an. Auch die Regelungssystematik, der Sinn und Zweck der Regelung
sowie ihre Entstehungsgeschichte erforderten eine qualifizierte erledigungsgerichtete Mitwirkung des Rechtsanwalts, die über
das Maß hinausgehe, das schon durch den allgemeinen Gebührentatbestand für das anwaltliche Auftreten im sozialrechtlichen
Widerspruchsverfahren abgegolten werde. Dieser Rechtsprechung hat sich der 11a. Senat mit Urteil vom 21.3.2007 (B 11a AL 53/06
R) angeschlossen. Auch der erkennende Senat stimmt der überzeugenden Rechtsauffassung des 1. Senats zu. Zwar hat er in seiner
bisherigen Rechtsprechung (vgl insbesondere BSG, Urteil vom 9.8.1995 - 9 RVs 7/94 - SozR 3-1930 § 116 Nr 7 S 23 f) zu dem vor dem Inkrafttreten des RVG insoweit anzuwendenden § 116 Abs 3 Satz 2 BRAGO die Auffassung vertreten, dass eine gebührenrechtlich erhebliche Mitwirkungshandlung eines Bevollmächtigten nur dann vorlag,
wenn sich die Rechtssache durch beiderseitiges Nachgeben erledigt hat. Diese Rechtsprechung ist jedoch aufgrund des Wortlauts
der inhaltlich neuen Erläuterung zu Nr 1002 (Satz 2) VV RVG überholt, mit welcher die teilweise und die vollständige Abhilfe gleichgestellt werden ("ganz oder teilweise ... erledigt").
Entgegen der Auffassung des LSG liegt im vorliegenden Fall eine über die Einlegung und Begründung des Widerspruchs hinausgehende
besondere Tätigkeit des Rechtsanwalts vor, die ursächlich für die (unstreitige) Erledigung des Vorverfahrens durch Abhilfebescheid
war. Denn die Bevollmächtigten des Klägers haben den Widerspruch nicht nur eingelegt und begründet, sondern darüber hinaus
zum Zwecke des Beweises entscheidungserheblicher Tatsachen (hier einer Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines
GdB von 60 rechtfertigt) unaufgefordert neue Beweismittel beigebracht, nämlich auf ihre Veranlassung neu erstattete Befundberichte
vorgelegt. Diese erst im Vorverfahren im Auftrag des Klägers erstellten ärztlichen Unterlagen hat der Beklagte als Urkunden
(§ 21 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 3 SGB X; §§
415 ff
ZPO) verwertet. Mit der Vorlage dieser selbst beschafften Urkunden hat der Bevollmächtigte des Klägers den Rahmen der seinem
Mandanten obliegenden Mitwirkung (§ 21 Abs 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X; §
60 Abs
1 Satz 1 Nr
1 und Nr
3 SGB I) überschritten.
Ein Rechtsanwalt, der nach § 43 Abs 1 Satz 1 Bundesrechtsanwaltsordnung verpflichtet ist, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben, hat zwar bei der Begründung des Widerspruchs den Mitwirkungsobliegenheiten
seines Mandanten Rechnung zu tragen und daher in der Regel alle ihm bekannten Tatsachen und Beweismittel anzugeben (§ 21 Abs 2 Satz 2 SGB X; §
60 Abs
1 Satz 1 Nr
1 und Nr
3 SGB I). Dazu gehört auch, dass er präsente Beweismittel (unaufgefordert) vorlegt, wenn diese ohne größeren Aufwand nur vervielfältigt
werden müssen. Diese anwaltliche Tätigkeit wird mit der Geschäftsgebühr nach Nr 2500 VV RVG (in der bis zum 1.7.2006 geltenden Fassung des Art 3 KostRMoG) sowie der Auslagenpauschale nach Nr 7002 VV RVG auch dann abgegolten, wenn die vorgelegten Beweismittel zu einer Abhilfeentscheidung geführt haben (vgl hierzu das Urteil
des Senats vom heutigen Tag - B 9/9a 3/07 R). Zu den Mitwirkungsobliegenheiten im sozialrechtlichen Vorverfahren gehört es
jedoch nicht, selbst Beweismittel zu beschaffen oder erstellen zu lassen. Es kann deshalb auch von einem gewissenhaft, sorgfältig
und gründlich das Vorverfahren betreibenden Rechtsanwalt nicht ohne Weiteres erwartet werden, dass er seinen Mandanten dazu
veranlasst, sich ärztliche Befundberichte erstatten zu lassen, und diese dann im Vorverfahren vorlegt. Tut er es dennoch,
steht ihm eine Erledigungsgebühr nach Nr 1005 iVm Nr 1002 VV RVG zu, wenn diese Mitwirkungshandlung zum Erfolg führt, also ursächlich dafür ist, dass die Behörde dem Begehren des Widerspruchsführers
ganz oder teilweise abhilft.
Die Beibringung des mit Schreiben vom 13.9.2004 vorgelegten, selbst beschafften Befundberichts war im vorliegenden Fall auch
ursächlich für die (unstreitige) Erledigung des Vorverfahrens.
Denn der Ärztliche Dienst des Beklagten ist allein auf Grund dieses Befundberichts zu einer höheren Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung
des Klägers gelangt. Dies wiederum hat den Beklagten nach §
69 Abs
1 Satz 3 und Abs
3 Satz 1
SGB IX zu einer höheren Bewertung des GdB und damit zur Abhilfe nach §
85 Abs
1 SGG gebracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.