Anwendbarkeit der Ausschlussfrist nach dem Gesetz über den Abschluss von Unterstützungen der Bürger der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen
Gründe:
I. Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Gesetz über den Abschluss von Unterstützungen der Bürger
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen (Unterstützungsabschlussgesetz
[UntAbschlG]).
Der 1963 geborene Kläger wurde am 5.1.1987 in der DDR erstmals wegen einer isolierten Dupuytren'schen Erkrankung des Kleinfingers
rechts operiert. Im Februar 1989 folgte eine weitere Operation aufgrund eines "deutlichen Lokalrezidivs mit Einbeziehung der
Haut der Beugeseite des Fingers" (Epikrise vom 22.2.1989). Heute besteht bei dem Kläger eine starke Narbenkontraktur des Kleinfingers
rechts.
Den vom Kläger mit Antrag vom 18.5.1995 geltend gemachten Anspruch auf Unterstützungsleistungen nach dem UntAbschlG haben
der Beklagte (Bescheid vom 4.7.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.5.1999), das Sozialgericht Berlin (Urteil
vom 17.1.2003) und das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg (Urteil vom 15.11.2005) verneint. Das LSG hat zur Begründung
ausgeführt: Der Kläger erfülle die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 2 Nr 1 UntAbschlG nicht, wonach für einen Entschädigungsanspruch
erforderlich sei, dass der medizinische Eingriff zu einer erheblichen Gesundheitsschädigung geführt habe, die in einem krassen
Missverhältnis zu dem Risiko stehe, von dem nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft und den Erfahrungen der ärztlichen
Praxis zum Zeitpunkt des Eingriffs habe ausgegangen werden können. Danach seien nur Gesundheitsstörungen entschädigungsfähig,
deren Eintritt nach einer Nutzen-Risiko-Analyse im Zeitpunkt des Eingriffs in hohem Maße unwahrscheinlich gewesen seien. Das
Risiko eines Rezidivs nach der Operation wegen einer Dupuytren'schen Kontraktur sei - auch zum damaligen Zeitpunkt - nach
Auswertung der eingeholten medizinischen Stellungnahme nicht in hohem Maße unwahrscheinlich gewesen. Handele es sich jedoch
um ein bekanntes Risiko, stehe die Gesundheitsschädigung dazu auch nicht in einem krassen Missverhältnis. Das UntAbschlG sei
im Übrigen keine Anspruchsgrundlage für eine Entschädigung in allen Fällen unerwünschter Folgen medizinischer Maßnahmen; insbesondere
bei schuldhafter Herbeiführung eines Körper- oder Gesundheitsschadens habe auch in der DDR eine zivilrechtliche Haftung bestanden.
Gegen dieses Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) die Revision zugelassen, soweit ein Anspruch auf Unterstützung wegen
der Folgen der Operation vom 5.1.1987 im Streit steht.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verfahrensmängel und Verletzung materiellen Rechts. Dazu trägt er vor: Das LSG habe den
Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und deshalb zu Unrecht angenommen, die durch die Operation 1987 entstandene Gesundheitsstörung
sei nach § 1 Abs 2 Nr 1 UntAbschlG nicht entschädigungsfähig, weil sie nicht in krassem Missverhältnis zu dem Risiko gestanden
habe, von dem nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft und ärztlichen Praxis zum Zeitpunkt des Eingriffs auszugehen
gewesen sei. Zwar sei die Entwicklung eines Rezidivs nach Operation eines Fingers wegen Dupuytren'scher Kontraktur nicht unwahrscheinlich
gewesen. Bei ihm habe aber vor der Operation noch keine Kontraktur vorgelegen, sodass es sich bei dem verwirklichten Risiko
nicht um ein echtes Rezidiv, sondern um eine durch die Operation erst ausgelöste, damals nicht vorhersehbare Kontraktur gehandelt
habe.
Seinen Anspruch auf Unterstützung habe er rechtzeitig geltend gemacht. Nach dem Recht der DDR geltende Ausschlussfristen habe
er eingehalten. Hier gelte eine zehnjährige Frist ab der Operation, weil er erst 1994 Kenntnis vom Zusammenhang zwischen der
medizinischen Maßnahme und der Gesundheitsstörung erlangt habe.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.11.2005 und des SG Berlin vom 17.1.2003 aufzuheben und
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4.7.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.5.1999 zu verurteilen,
ihm wegen der Folgen der am 5.1.1987 durchgeführten Operation Unterstützung nach dem UntAbschlG zu gewähren. Der Beklagte
beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung führt er aus: Unabhängig von der Ausprägung des Ursprungsbefundes habe sich beim Kläger ein typisches Operationsrisiko
verwirklicht. Darüber hinaus wäre die Erkrankung auch ohne die Operation fortgeschritten. Jedenfalls liege keine leistungsberechtigende
Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH vor. Im Übrigen sei der Antrag verfristet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§
124 Abs
2 SGG) einverstanden erklärt.
II. Die Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen
(§
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
Nach § 1 Abs 1 UntAbschlG erhalten deutsche Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland haben und vor dem 3.10.1990 im Beitrittsgebiet durch medizinische Betreuungsmaßnahmen einen erheblichen Gesundheitsschaden
erlitten haben, auf Antrag Unterstützung zum Ausgleich der durch die Schädigung bedingten wirtschaftlichen Folgen. Ein solcher
Anspruch hängt davon ab, dass er rechtzeitig geltend gemacht worden ist. Ob das hier der Fall war, lässt sich nach dem im
Berufungsurteil getroffenen Feststellungen, an die der Senat gebunden ist (§
163 SGG), nicht abschließend entscheiden.
Nach § 7 Abs 1 UntAbschlG können Anträge auf Gewährung einer Unterstützung innerhalb eines Jahres nach Verkündung des Gesetzes
(am 19.5.1994 [BGBl I 990]) gestellt werden.
Diese Frist hat der Kläger mit seinem Antrag vom 18.5.1995 zwar eingehalten. Das reicht jedoch nicht aus.
Das UntAbschlG knüpft an das Recht der ehemaligen DDR an. Nach § 12 Anordnung über eine erweiterte materielle Unterstützung
für Bürger bei Gesundheitsschäden in Folge medizinischer Maßnahmen vom 28.1.1987 (
AO-EmU 1987 [GBl I Nr 4 S 34]) - die bis zu ihrer Ablösung durch das UntAbschlG als Bundesrecht weitergegolten hat - konnten
Ansprüche auf Unterstützung nur innerhalb einer Ausschlussfrist geltend gemacht werden. Danach bereits abgelaufene Fristen
hat das UntAbschlG nicht wieder eröffnet (vgl BSGE 82, 271, 273 ff = SozR 3-8765 § 7 Nr 1). Deshalb durfte am 18.5.1995 für den Kläger auch diese Frist noch nicht abgelaufen sein.
Anträge auf Gewährung einer erweiterten materiellen Unterstützung können innerhalb von vier Jahren nach Durchführung der medizinischen
Maßnahme gestellt werden, spätestens jedoch bis zum Ablauf von 10 Jahren, wenn die erhebliche Gesundheitsschädigung erst nach
Ablauf von vier Jahren bekannt wird.
Die im Regelfall geltende vierjährige Frist war bei Antragstellung des Klägers seit langem verstrichen, gleichgültig, ob man
für den Fristbeginn auf die "Durchführung der medizinischen Maßnahme" am 5.1.1987 abstellt (so BSG, aaO) oder auf die Einführung
einer Antragsfrist im EmU-Recht der DDR mit dem 1.6.1987.
Dagegen wäre die ausnahmsweise geltende 10-Jahres-Frist des §
12 AO-EmU 1987, gleichgültig mit welchem der genannten Daten ihr Lauf begonnen hätte, am 18.5.1995 noch nicht verstrichen gewesen.
Nach den bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen lässt sich allerdings nicht entscheiden, ob hier die für diese Frist
geforderte Voraussetzung vorliegt, dass "die erhebliche Gesundheitsschädigung erst nach Ablauf von vier Jahren bekannt wird".
Für die Erfüllung dieses Merkmals kommt es trotz des objektiv gefassten Wortlauts der Vorschrift entscheidend auf die subjektive
Kenntnis des Klägers an. Das ergibt sich aus der Systematik der
AO-EmU 1987, nach deren §
8 Abs
1 materielle Unterstützung ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der medizinischen Maßnahme - fristungebunden - von Amts wegen zu
gewähren war (ebenso schon nach der starren Rückwirkungsgrenze in §
10 AO-EmU vom 16.12.1974 [GBl I Nr 3 S 59]). Daneben stand dem Bürger das - fristgebundene - Recht zu, an die Gesundheitseinrichtung
oder an den für seinen Wohnsitz zuständigen Kreisarzt einen Antrag auf Gewährung einer erweiterten materiellen Unterstützung
zu stellen (§
8 Abs
2 Satz 1
AO-EmU 1987).
Die zur Wahrnehmung dieses Rechts erforderliche "Kenntnis" von der Gesundheitsbeschädigung lag bei einem Betroffenen nicht
schon vor, sobald ihm das Faktum der Gesundheitsstörung bekannt geworden war; er musste vielmehr auch den - möglichen - Zusammenhang
zwischen der medizinischen Maßnahme und dieser Gesundheitsstörung im Sinne einer "Gesundheitsschädigung" nach der
AO-EmU 1987 erkannt haben. Das bestätigt ein Vergleich mit den Verjährungsvorschriften des DDR-Zivilrechts (vgl dazu BGH NJW
1994, 1792, 1794), denen §
12 AO-EmU 1987 ersichtlich nachgebildet ist. Nach § 474 Abs 1 Nr 2 Zivilgesetzbuch (ZGB) galt für außervertragliche Ansprüche eine vierjährige Verjährungsfrist. Nach § 475 Nr 2 ZGB begann diese Frist mit dem Zeitpunkt, in welchem der Berechtigte vom Entstehen des Anspruchs und von der Person des Verpflichteten
Kenntnis erlangt hatte. Nach Satz 2 der Vorschrift trat Verjährung spätestens mit Ablauf von 10 Jahren nach Vollendung der
schädigenden Handlung ein. Entsprechend diesen zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften begann nach dem EmU-Recht der DDR
die Ausschlussfrist mit der Kenntnis des Betroffenen vom - möglichen - Charakter einer Gesundheitsstörung als "Gesundheitsschädigung"
durch die Operation.
Wann dem Kläger in diesem Sinne die Gesundheitsschädigung bekannt geworden ist, lässt sich erst beantworten, wenn nach weiterer
Beweisaufnahme die Frage geklärt ist, ob die nach der Operation aufgetretene Gesundheitsstörung "Beugekontraktur" - wie vom
Kläger behauptet - von ihm erst 1994 nach dem Studium medizinischer Fachliteratur als durch die Operation verursachte "Gesundheitsschädigung"
iS des §
12 AO-EmU 1987 erkannt worden ist.
Auch in materieller Hinsicht lässt sich der vom Kläger geltend gemachte Anspruch nicht ohne weitere Ermittlungen verneinen.
Er setzt nach § 1 Abs 2 Nr 1 UntAbschlG voraus, dass der Eingriff zu einer erheblichen Gesundheitsschädigung geführt hat,
die im krassen Missverhältnis zu dem Risiko stehen muss, von dem nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft und den
Erfahrungen der ärztlichen Praxis zum Zeitpunkt des Eingriffs ausgegangen werden konnte. Ob diese Voraussetzung vorliegt,
lässt sich nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat seine - ablehnende - Entscheidung darauf gestützt, dass die Entwicklung
eines Rezidivs nach der Operation eines Fingers wegen einer Dupuytren'schen Kontraktur nicht im hohen Maße unwahrscheinlich
gewesen sei. Derartige Erkenntnisse hätten auch zum Zeitpunkt der Operation in der DDR bereits bestanden. Es ist aber - wie
der Kläger zutreffend gerügt hat - unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§
103 SGG), der Behauptung des Klägers nicht nachgegangen, bei ihm habe vor der Operation noch keine Kontraktur vorgelegen, sodass
das verwirklichte Risiko kein echtes Rezidivs sein könne, vielmehr die Kontraktur erst durch die Operation ausgelöst worden
sei. Diese Entwicklung sei damals nicht vorhersehbar gewesen. Sollten diese Angaben zutreffen, ließe sich die Begründung des
LSG nicht aufrechterhalten. Das LSG wird daher den Sachverhalt in diesem Punkt weiter aufzuklären haben.
Eine abschließende Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch ist entgegen der Auffassung des Beklagten auch aus den
weiteren von ihm genannten Gesichtspunkten nicht möglich.
Ohne zusätzliche tatrichterliche Feststellungen lässt sich weder ein Gesundheitsschaden iS des § 1 Abs 1 UntAbschlG im Hinblick
auf den - vom Beklagten hier für anwendbar gehaltenen - Grundsatz der überholenden Kausalität noch ein gemäß § 5 Abs 1 UntAbschlG
für den Anspruch auf Unterstützung mindestens erforderlicher Grad der Schädigungsfolgen von 20 verneinen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.