Beschädigtenrente nach körperlichen Misshandlungen während rechtsstaatswidriger Haft in der DDR
Vermeidung einer Überraschungsentscheidung
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Gebot des fairen Verfahrens
Gründe:
I
Der Kläger begehrt eine höhere Beschädigtenrente wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen während rechtsstaatswidriger
Haft in der DDR.
Das LSG hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger Grundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 ab dem 1.4.2008
sowie von 60 ab dem 1.11.2014 zu gewähren und seine weiterreichende Berufung zurückgewiesen. Der GdS des Klägers wegen der
psychischen und körperlichen Folgeschäden seiner DDR-Haft von 40 sei ab dem 1.4.2008 um 10 Punkte zu erhöhen. Ab diesem Zeitpunkt
sei er in seinem Umschulungsberuf als Omnibusfahrer beruflich besonders betroffen gewesen. Auf seinen zuvor erlernten Beruf
als Rohrleitungsbauer komme es nach der erfolgreichen Umschulung nicht mehr an. Eine Höherbewertung des GdS für die Zeiten
vor der 2002 erfolgten Umschulung schließe § 29 Bundesversorgungsgesetz (BVG) aus.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Das LSG sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen, habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt und Verfahrensfehler begangen.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil
weder der behauptete Verfahrensmangel (1.), noch eine Divergenz (2.) oder eine grundsätzliche Bedeutung (3.) ordnungsgemäß
dargetan worden ist (vgl §
160a Abs
2 S 3
SGG).
1. Einen Verfahrensmangel hat die Beschwerde nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dargelegt. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde
darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 1
SGG), so müssen bei der Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 S 3
SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden. Insoweit genügt die Beschwerdebegründung
schon deshalb nicht den Anforderungen des §
160a Abs
2 S 3
SGG, weil der Kläger den Sachverhalt, der dem angefochtenen Urteil des LSG zugrunde liegt, nicht hinreichend mitgeteilt hat.
Seinen Schilderungen sind nur Teile der entscheidungserheblichen Tatsachen zu entnehmen. Eine Sachverhaltsschilderung gehört
jedoch zu den Mindestanforderungen an die Darlegung bzw Bezeichnung des Revisionszulassungsgrundes. "Bezeichnet" ist der Verfahrensmangel
noch nicht, wenn einzelne Sachverhaltselemente herausgegriffen werden und anhand dieser der behauptete Verfahrensmangel diskutiert
wird, sondern nur dann, wenn er in der Gesamtheit der ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird.
Denn das Beschwerdegericht muss sich bereits anhand der Beschwerdebegründung ein Urteil darüber bilden können, ob die geltend
gemachten Tatsachen - ihre Richtigkeit unterstellt - es als möglich erscheinen lassen, dass die angegriffene Entscheidung
darauf beruhe (BSG Beschluss vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14 - Juris RdNr 3; s auch BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 13 R 234/17 B - Juris RdNr 5). Dies erfordert neben der Angabe der den Mangel begründenden Tatsachen ua eine - in der Beschwerdebegründung
weitgehend fehlende - geraffte Darstellung der tragenden Gründe der angegriffenen Entscheidung. Denn nur hierdurch wird das
BSG in die Lage versetzt, festzustellen, dass der geltend gemachte Verfahrensmangel auch auf Grundlage der insoweit maßgeblichen
Rechtsauffassung des LSG (BSG Beschluss vom 28.2.2018 - B 13 R 73/16 B - Juris RdNr 5 mwN) auf diesem Mangel beruhen kann.
Abgesehen davon genügt die Beschwerdebegründung aber auch im Übrigen nicht den Darlegungsanforderungen im Hinblick auf die
von ihr gerügten Verfahrensmängel. Die vom Kläger gerügte Überraschungsentscheidung hat er nicht substantiiert dargelegt.
Um den Anspruch auf rechtliches Gehör nach §
62 SGG, Art
103 GG und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (vgl BSG Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - Juris) zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen,
mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen
bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (Senatsbeschluss
vom 2.12.2015 - B 9 V 12/15 B - Juris RdNr 20 mwN).
Der Kläger vertritt insoweit insbesondere die Ansicht, das LSG habe es versäumt, ihn darüber zu unterrichten, dass seine Umschulung
zum Omnibusfahrer nach § 29 BVG zum Wegfall von Leistungsansprüchen führen könne. In diesem Fall hätte er ua dargelegt, weshalb er die Anforderungen des
Umschulungsberufs schon ab Beendigung der Umschulung gesundheitlich nicht mehr hätte erfüllen können.
Wie sich indes aus S 28 f des angefochtenen Berufungsurteils ergibt, hat der Beklagte bereits mit Schriftsatz vom 20.4.2016,
als der Kläger im Berufungsverfahren noch anwaltlich vertreten war, darauf hingewiesen, die Höherbewertung nach § 30 Abs 2 BVG sei gemäß § 29 BVG aufgeschoben gewesen. War die spätere Rechtsansicht des LSG damit bereits vorher ausdrücklich Gegenstand des Verfahrens,
handelt es sich bei ihrer Übernahme im Urteil nicht um eine überraschende Wendung des Prozesses, mit der auch ein gewissenhafter
und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, und damit auch nicht um eine gehörsverletzende
Überraschungsentscheidung.
Was die gesundheitliche Eignung des Klägers in seinem Umschulungsberuf angeht, war diese nicht nur Thema der Erörterungen
zwischen den Beteiligten, sondern auch der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. B und damit ebenfalls Gegenstand des
Berufungsverfahrens.
Der vom Kläger behauptete Verstoß gegen Denkgesetze bzw die Grenzen freier Beweiswürdigung kann seiner Beschwerde von vornherein
nicht zum Erfolg verhelfen. Nach §
160a Abs
2 S 3
SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des §
128 Abs
1 S 1
SGG gestützt werden.
2. Die für eine Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) notwendigen Voraussetzungen legt der Kläger ebenfalls nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz
darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in
der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein
sollen. Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa lediglich fehlerhaft
das Recht angewendet hat (Senatsbeschluss vom 12.1.2017 - B 9 V 58/16 B - Juris RdNr 21 mwN).
Diese Darlegungen enthält die Beschwerde nicht. Sie wirft dem LSG einen Verstoß gegen die Grundsätze des Senatsurteils vom
17.7.2008 (B 9/9a VS 1/06 R - SozR 4-3100 § 29 Nr 1) vor. Indes arbeitet sie bereits keinen ausdrücklichen Rechtssatz des
LSG heraus, mit dem das Berufungsgericht den Grundsätzen dieser Entscheidung ausdrücklich widersprochen haben könnte. Zudem
fehlt auch die Darlegung, ob und warum die Rechtssätze des genannten Senatsurteils über die Folgen einer fehlenden Belehrung
bei unterbliebener Rehabilitation überhaupt Geltung für die Konstellation einer erfolgreichen Rehabilitation wie im Fall des
Klägers beanspruchen.
3. Schließlich verfehlt die Beschwerde auch die Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung. Eine Rechtssache
hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der
Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer
muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche
Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit
oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt.
Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit,
ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von
ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen BSG Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 24/16 B - Juris RdNr 7 mwN).
Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger hält es für klärungsbedürftig,
ob die Sperrwirkung für Leistungen nach § 30 Abs 2 BVG gemäß § 29 BVG bereits dann entfällt, wenn der Geschädigte im Rahmen einer Rehabilitation zur Teilhabe am Arbeitsleben einen Beruf (hier:
Omnibusfahrer mit sechsmonatiger Ausbildung) tatsächlich erlernt hat, obwohl er vor der Maßnahme über drohende Nachteile iS
von § 29 BVG von dem Rehabilitationsträger nicht belehrt worden ist,
sowie,
ob die Sperrwirkung nach § 29 BVG zumindest dann entfällt, wenn sich die ohne vorherige Belehrung durchgeführte Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben als nicht
nachhaltig gesundheitlich geeignet für den Teilnehmer der Maßnahme erweist.
Zu beiden Fragen legt die Beschwerde indes schon nicht hinreichend substantiiert dar, dass und mit welcher Begründung im Einzelnen
das LSG sie in seinem Urteil beantwortet hat und vor allem nicht, von welchem Sachverhalt es dabei ausgegangen ist. Die Klärungsfähigkeit
der Rechtsfrage lässt sich aber nicht auf Basis des Beteiligtenvortrags, sondern immer nur auf der Grundlage der Feststellungen
beurteilen, die das LSG für das Revisionsgericht verbindlich (§
163 SGG) getroffen hat. Fragen, die sich nur entscheidungserheblich dann stellen würden, wenn die Vorinstanzen andere oder weitere
tatsächliche Feststellungen getroffen hätten, können im Revisionsverfahren nicht geklärt werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
160a RdNr 64).
Die Beschwerde behauptet zwar, der Kläger sei vor seiner Umschulung nicht über drohende Nachteile für seinen laufenden Antrag
auf Leistungen nach §§ 30 ff BVG belehrt worden. Indes legt sie nicht substantiiert dar, was das LSG zur Frage der Belehrung des Klägers über die leistungsrechtliche
Bedeutung der Aussicht auf Rehabilitation sowie die Folgen fehlender Mitwirkung (vgl Senatsurteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS
1/06 R - SozR 4-3100 § 29 Nr 1 RdNr 16 mwN) im Einzelnen verbindlich festgestellt oder festzustellen unterlassen hat. Auf
der Grundlage des Beschwerdevortrags lässt sich daher nicht abschließend beurteilen, ob sich die aufgeworfenen Rechtsfragen
in einem Revisionsverfahren überhaupt entscheidungserheblich stellen würden.
Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang meint, die Umschulung des Klägers zum Omnibusfahrer habe sich als nicht nachhaltig
gesundheitlich geeignet für den Kläger erwiesen, fehlt es darüber hinaus an einer substantiierten Auseinandersetzung mit den
für den Senat verbindlichen Feststellungen des LSG. Danach konnte der Kläger nach seiner Umschulung im Jahr 2002 die beruflichen
Anforderungen seines Umschulungsberufs zunächst gut bewältigen und war erst ab dem 1.4.2008 in seinem Umschulungsberuf durch
die Schädigungsfolgen besonders beruflich betroffen.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§
160a Abs
4 S 1 Halbs 2, §
169 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.