Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) wegen Wegfalls bzw. Nichtvorliegen
der Arbeitslosigkeit.
Der am 1950 geborene Kläger stand in der Zeit vom 13. Juni 1994 bis 23. Oktober 2004 in einem Arbeitsverhältnis bei der mbH;
zuletzt bezog er bis zur Aussteuerung am 23. Oktober 2004 Krankengeld. Am 8. Oktober 2004 meldete sich der Kläger bei der
Agentur für Arbeit Balingen (AA) mit Wirkung zum 23. Oktober 2004 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Im Antragsformular
gab er an, er sei arbeitsunfähig krank und ausgesteuert. Seine Vermittlungsfähigkeit sei nach Tätigkeit oder Arbeitsstunden
wegen einer Arthrose eingeschränkt. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 8. Oktober 2004 für den 10. November 2004 zu einer
Informationsveranstaltung "Leistungsrecht" eingeladen worden war, legte er am 29. Oktober 2004 Bescheinigungen über eine bis
16. Dezember 2004 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit und über eine ab 1. November 2004 vorgesehene stationäre Krankenhausbehandlung
vor. Mit Bescheid vom 3. Dezember 2004 bewilligte die AA dem Kläger Alg (Arbeitsentgelt 599,07; Leistungsgruppe A; Kindermerkmal
0) ab 24. Oktober 2004 für die Dauer von 780 Kalendertagen. Am 7. Dezember 2004 erstattete der ärztliche Dienst der AA unter
Auswertung vom Rentenversicherungsträger beigezogener ärztlicher Unterlagen ein Gutachten nach Aktenlage und beurteilte das
Leistungsvermögen des Klägers mit weniger als drei Stunden täglich für die Dauer von voraussichtlich bis zu sechs Monaten.
Der Kläger sei am 8. November 2004 nochmals operiert worden, woraus eine Leistungsunfähigkeit für drei bis vier Monate folge.
Insgesamt sei deshalb von einer unter sechs Monate andauernden Leistungsunfähigkeit auszugehen. Nachdem der Kläger am 16.
Dezember 2004 eine weitere Folgebescheinigung über Arbeitsunfähigkeit bis 18. Februar 2005 vorgelegt hatte, wurde ihm am 25.
Januar 2005 der Inhalt des Gutachtens vom 7. Dezember 2004 eröffnet. Mit Bescheid vom 27. Januar 2005 hob die AA die Entscheidung
über die Bewilligung von Alg mit Wirkung ab 1. Februar 2005 auf. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger sei bis zu sechs
Monate nicht leistungs- und arbeitsfähig und somit nicht arbeitslos. Die Entscheidung beruhe auf § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit §§ 330 Abs. 3,
119 Abs.
1 Nr.
2 und Abs.
3 Nr.
1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III).
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 23. Februar 2005 Widerspruch. Er trug vor, er sei für mehr als sechs Monate leistungsunfähig
und habe deshalb Anspruch auf Alg nach Maßgabe des §
125 SGB III; ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente sei bereits gestellt. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 2005 wies die Widerspruchsstelle
der AA den Widerspruch zurück. Wegen fehlender Arbeitsfähigkeit stehe der Kläger der Arbeitsvermittlung seit 25. Januar 2005
nicht mehr zur Verfügung und habe deshalb keinen Anspruch mehr auf Leistungen. Ein Anspruch nach §
125 SGB III sei nicht gegeben.
Der Kläger hat am 2. Juni 2005 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und seinen bisherigen Vortrag aufrechterhalten. Die gegebene Leistungsminderung habe bereits vor der Operation am
8. November 2004 bestanden und bestehe weiterhin fort. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Nach der Begutachtung
durch den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit habe sich die vorherige, der Bewilligungsentscheidung (Bescheid vom 3.
Dezember 2004) zugrunde liegende Prognose als nicht mehr haltbar erwiesen. Hierin sei eine die Anwendung des § 48 SGB X rechtfertigende Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen zu sehen. Das SG hat die ärztlichen Unterlagen des Rentenverfahrens beigezogen (Bl. 35 bis 84 der Klageakten) und mit Urteil vom 29. März
2007 den Bescheid vom 27. Januar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2005 aufgehoben. Eine Änderung
in den tatsächlichen Verhältnissen sei nach der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheids vom 3. Dezember 2004 nicht eingetreten;
deshalb könne eine Aufhebung der Bewilligungsentscheidung nicht auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützt werden. Auch § 45 SGB X könne als Rechtsgrundlage für eine Zurücknahme der Bewilligung von Alg nicht herangezogen werden. Bereits der Nachweis einer
anfänglichen Unrichtigkeit der Leistungsbewilligung sei nicht zu führen. Darüber hinaus fehle es an der bei einer Rücknahme
mit Wirkung für die Zukunft erforderlichen Ermessensentscheidung.
Gegen das ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 13. April 2007 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Mai 2007 schriftlich beim
Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Die Entscheidung, dem Kläger trotz bestehender Zweifel an der Leistungsfähigkeit
Alg zu bewilligen sei aufgrund interner Dienstanweisungen getroffen worden. Diese besagten, dass bis zur Vorlage eines Gutachtens
des ärztlichen Dienstes von der Leistungsfähigkeit des Arbeitslosen auszugehen und Alg zu bewilligen sei. Ergebe sich später,
dass der Arbeitslose für bis zu sechs Monate leistungsunfähig sei, habe die Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung
für die Zukunft nach Maßgabe des § 48 SGB X zu erfolgen. Hierbei handele es sich um eine "Zugunstenregelung" für die seit Antragstellung gesundheitlich eingeschränkten
Arbeitslosen, durch die mit der Durchführung ärztlicher Begutachtungen verbundene Verzögerungen bei der Bewilligungsentscheidung
vermieden werden sollten. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liege in der Beseitigung zuvor bestehender Zweifel hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Arbeitslosen. Im Fall des Klägers
sei diese Änderung mit der Eröffnung des Gutachtens am 25. Januar 2005 eingetreten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. März 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die rechtliche Würdigung des SG für zutreffend.
Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten (D16166), die Klageakte
des SG (S 9 AL 1776/05) und die Berufungsakte des Senats (L 13 AL 2412/07) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
Sie ist statthaft, da Berufungsbeschränkungen nicht vorliegen (vgl. §§
143,
144 Abs.
1 SGG) und auch sonst zulässig, da sie unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§
151 Abs.
1 SGG) eingelegt worden ist. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Gegenstand der isolierten Anfechtungsklage ist der die Bewilligung
von Alg (Bewilligungsbescheid vom 3. Dezember 2004) mit Wirkung ab 1. Februar 2005 aufhebende Bescheid vom 27. Januar 2005
in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Mai 2005. Dieser erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in
seinen subjektiven Rechten. Das SG hat diesen Bescheid zu Recht aufgehoben und der Klage stattgegeben.
Als Rechtsgrundlage für die mit Wirkung für die Zukunft verfügte Aufhebung des dem Kläger ab 24. Oktober 2004 Alg für die
Dauer von 780 Kalendertagen bewilligenden Bescheids vom 3. Dezember 2004 kommen zunächst die von der Beklagten zur Begründung
ihrer Entscheidung benannten §§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, 330 Abs.
3 SGB III in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor,
denn eine die Aufhebung der Bewilligung von Alg rechtfertigende wesentliche Änderung in den - hier nur in Betracht kommenden
- tatsächlichen Verhältnissen ist nicht eingetreten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist das
Vorliegen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf der Grundlage eines Vergleichs mit den tatsächlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Verwaltungsakts
zu beurteilen (vgl. u. a. BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 32). Auf den Fall des Klägers übertragen müsste also nach der Bekanntgabe
des Bewilligungsbescheids vom 3. Dezember 2004 (hier frühestens am 6. Dezember 2004; vgl. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X) eine Verschlechterung des Gesundheitszustands eingetreten sein, die eine zuvor bestehende objektive Verfügbarkeit (vgl.
§
119 Abs.
1 Nr.
2 und Abs.
3 SGB III in der hier noch anzuwendenden bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung) hätte entfallen lassen. Dass eine solche Änderung
(des Gesundheitszustands des Klägers) nicht eingetreten ist, steht bereits aufgrund des von der Beklagten veranlassten Gutachtens
vom 7. Dezember 2004 fest; anderes wird von der Beklagten auch nicht behauptet. Der Kläger musste sich am 8. November 2004
einer Revisionsoperation am rechten Kniegelenk unterziehen. Aufgrund dieses Eingriffs bestand - ohne dass es auf die Leistungsfähigkeit
vor diesem Zeitpunkt ankommt - Leistungsunfähigkeit für mindestens drei bis vier Monate. Damit lag bereits bei der Bekanntgabe
der Bewilligungsentscheidung vom 3. Dezember 2004 objektive Verfügbarkeit nicht vor; dieser Zustand bestand jedenfalls bis
zur Bekanntgabe des streitgegenständlichen Aufhebungsbescheids vom 27. Januar 2005 unverändert fort.
Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen nicht in der durch
das Gutachten vom 7. Dezember 2004 herbeigeführten Klärung der (nicht gegebenen) objektiven Verfügbarkeit zu erblicken; erst
recht kann eine solche Änderung - der hier allein fraglichen objektiven Verfügbarkeit - nicht mit der Eröffnung des Gutachtens
am 25. Januar 2005 eingetreten sein. Ob sich die tatsächlichen Verhältnisse in wesentlicher Hinsicht geändert haben, beurteilt
sich nicht nach den subjektiven Vorstellungen, die für die aufhebende Behörde bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsakts
maßgeblich gewesen sind, sondern allein nach den tatsächlichen Verhältnissen. Das BSG hat hierzu bereits in seinem Urteil
vom 27. September 1957 (BSGE 6, 19, 28) ausgeführt, dass es bei einem Vergleich der Befunde nicht auf die subjektiven Auffassungen und Beurteilungen einzelnen
Sachverständiger oder Gerichte, sondern allein auf den wirklichen, das heißt objektiven Befund ankommt (vgl. zum Ganzen auch
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14. März 2003 - L 8 AL 1601/07 - veröffentlicht in Juris und info also 2008, 161, dort mit Anmerkung Winkler). Ob anderes gilt, wenn die aufzuhebende Entscheidung in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens oder
auf der Grundlage einer Prognoseentscheidung auf Tatbestandsseite zu treffen war, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
Entscheidungserheblich für den nicht in das Ermessen der Beklagten gestellten Anspruch auf Alg ist vorliegend allein die Frage
der objektiven Verfügbarkeit. Diese ist objektiv zu bestimmen und unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung. Eine Prognoseentscheidung
war dementsprechend (bei der Bewilligung von Alg) nicht zu treffen. Die Leistungsbewilligung vom 3. Dezember 2004 ist auch
nicht im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung des §
125 SGB III erfolgt. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Widerspruchsbescheid.
Die angefochtene Entscheidung der Beklagten kann auch nicht im Wege der Umdeutung auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützt werden. Gemäß § 43 Abs. 1 SGB X kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet
ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn
die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen
kann, kann allerdings nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden (§ 43 Abs. 3 SGB X). Letzteres schließt vorliegend eine Umdeutung aus, ohne dass der Senat zu entscheiden braucht, ob die Bewilligungsentscheidung
- auch unter Berücksichtigung des §
125 SGB III - überhaupt von Anfang an rechtswidrig gewesen ist. Während die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Wirkung für die Zukunft
nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, ist über die Zurücknahme mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 45 Abs. 1 SGB X in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden. Nur bei Vorliegen der - hier ersichtlich nicht gegebenen - Voraussetzungen
des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X tritt bei der dann zu verfügenden Zurücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit im Bereich des Arbeitsförderungsrechts an
die Stelle der gemäß § 45 SGB X eigentlich vorgesehenen Ermessensentscheidung eine gebundene Entscheidung (§
330 Abs.
2 SGB III; vgl. dazu Sächsisches LSG, Urteil vom 17. Januar 2002 - L 3 AL 126/01 - veröffentlicht in Juris). Wollte die Beklagte ihre Entscheidung auf § 45 Abs. 1 SGB X stützen, hätte sie dementsprechend Ermessenserwägungen anstellen müssen. Dies ist - ausgehend vom Rechtsstandpunkt der Beklagten
konsequent - nicht erfolgt. Der Ausnahmefall einer Ermessensreduzierung auf Null, der dann gegeben wäre, wenn die Beklagte
nur eine Entscheidung in ermessensfehlerfreier Weise hätte treffen können, ist nicht gegeben. Hätten die Voraussetzungen für
einen Anspruch auf Alg tatsächlich von Anfang an nicht vorgelegen, wäre die (dann) rechtswidrige Bewilligungsentscheidung
allein aufgrund fehlerhaften Verwaltungshandelns der Beklagten erfolgt. Allein dieser Umstand würde eine Ermessensausübung
erforderlich machen und wäre zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (vgl. §
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor. Allein der Umstand, dass sich die Beklagte, der ständigen Rechtsprechung des BSG bewusst nicht folgend,
an eine eigene, in offensichtlichem Widerspruch zu geltendem Recht stehende Dienstanweisung gebunden fühlt, vermag der Rechtssache
keine grundsätzliche Bedeutung (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zu verleihen.