Vergütung von Rechtsanwälten im sozialgerichtlichen Verfahren; Anwendbarkeit des verminderten Gebührenrahmens der Nr. 3103
RVG-VV bei vorangegangener Tätigkeit im Vorverfahren
Gründe:
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf.) ist niedergelassener Rechtsanwalt. Er hat E. K. (im Folgenden: K.) in einer unfallversicherungsrechtlichen
Angelegenheit (Begehren einer Verletztenrente) sowohl im Widerspruchs- als auch in einem Klageverfahren vor dem Sozialgericht
Bayreuth (S 12 U 141/05) vertreten; in letzterem war er K. gemäß §
73 a Abs.
1 Satz 2
SGG i. V. m. §
121 ZPO beigeordnet worden. Sowohl das Widerspruchs- als auch das Klageverfahren verliefen für K. erfolglos; die Klage wies das Sozialgericht
mit Gerichtsbescheid vom 09.07.2008 ab.
Sodann hat der Bf. die Festsetzung der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung beantragt und die Erstattung von 764,00
EUR geltend gemacht. Die Kostenbeamtin beim Sozialgericht hat dagegen zu erstattende Kosten in Höhe von 424,35 EUR festgesetzt.
Während der Bf. eine Verfahrensgebühr von 460,00 EUR auf der Grundlage von Nr. 3102 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV RVG) beantragt hatte, hat die Kostenbeamtin 230,00 EUR gemäß Nr. 3103 VV RVG angesetzt. Als Terminsgebühr hatte der Bf. 380,00 EUR berechnet, während die Kostenbeamtin nur 100,00 EUR zugebilligt hat.
Die gegen den Beschluss der Kostenbeamtin vom 18.09.2008 eingelegte Erinnerung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 06.10.2008
als unbegründet zurückgewiesen. Die Anwendung von Nr. 3103 VV RVG bezüglich der Verfahrensgebühr hat das Sozialgericht unter anderem damit begründet, der Bf. habe im Widerspruchsverfahren
bereits eine Geschäftsgebühr verdient; diese sei bei der Bestimmung der Verfahrensgebühr im Klageverfahren zu berücksichtigen.
Die Kostenbeamtin habe auch die Höhe der Verfahrensgebühr innerhalb des einschlägigen Gebührenrahmens korrekt festgesetzt,
indem sie von einer deutlich über der Mittelgebühr liegenden Gebühr ausgegangen sei. Zur Terminsgebühr hat das Sozialgericht
ausgeführt, der Umstand, dass bei der Entscheidung durch Gerichtsbescheid eine mündliche Verhandlung nicht stattfinde, dürfe
sich nicht gebührenmindernd auswirken. Die Terminsgebühr dürfe sich nicht eins zu eins nach dem Ansatz der Verfahrensgebühr
richten. Bezüglich der Höhe der Terminsgebühr sei hypothetisch zu prüfen, in welcher Höhe eine Gebührenfestsetzung erfolgt
wäre, wenn eine mündliche Verhandlung zwar stattgefunden, die Beteiligten aber weder eine Einführung in den Sach- und Streitstand
durch den Vorsitzenden noch ein Rechtsgespräch gewünscht hätten - anders formuliert, wenn im Wesentlichen lediglich eine Entscheidungsverkündung
in einer mündlichen Verhandlung ohne Anwesenheit der Parteien stattgefunden hätte. Die Durchführung einer solchen mündlichen
Verhandlung würde für den Rechtsanwalt weder Arbeitsaufwand bedeuten, noch sei sie für ihn mit Schwierigkeiten verbunden.
Die Bedeutung des Rechtsstreits für die Klagepartei sowie deren Einkommensverhältnisse seien wie bei der Verfahrensgebühr
als durchschnittlich anzusetzen. Ein Haftungsrisiko des Bf. sei nicht zu erkennen. Vor diesem Hintergrund sei eine Terminsgebühr
von 100,00 EUR angemessen.
Am 13.11.2008 hat der Bf. gegen den Beschluss vom 06.10.2008 Beschwerde eingelegt. Hinsichtlich der Verfahrensgebühr betont
er, beim gerichtlichen und beim Widerspruchsverfahren handle es sich um verschiedene Angelegenheiten. Da er für das Vorverfahren
noch nicht beigeordnet gewesen sei, dürfe ihm die Vertretung im Vorverfahren nicht im Rahmen der Ermittlung der zutreffenden
Nummer im Vergütungsverzeichnis entgegengehalten werden. Der K. habe er dafür keine Kosten in Rechnung gestellt. Der Bf. hält
es auch für maßgebend, dass das Sozialgericht seine Zuziehung im Vorverfahren nicht für notwendig erklärt hat.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Mit Beschluss vom 12.08.2010 hat der Berichterstatter das Verfahren auf den Senat als Gesamtspruchkörper ohne Mitwirkung der
ehrenamtlichen Richter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des Sozialgerichts - einschließlich der Sach- und Prozesskostenhilfeakte
des Sozialgerichts in der Sache S 12 U 141/05 - und des Bayer. Landessozialgerichts verwiesen. Diese waren alle Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II. Die Beschwerde ist zum Teil erfolgreich.
Der Senat entscheidet gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG durch den Senat als Gesamtspruchkörper; die Angelegenheit ist auf diesen durch Beschluss vom 12.08.2010 übertragen worden.
Ehrenamtliche Richter wirken nicht mit (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 3 RVG).
Die Beschwerde ist nach § 56 Abs. 2 i. V. m. § 33 Abs. 3 RVG zulässig; der Beschwerdewert liegt über 200,00 EUR.
Zum Teil ist die Beschwerde auch begründet; insoweit ist der Beschluss des Sozialgerichts zu Gunsten des Bf. abzuändern. Im
Übrigen muss die Beschwerde zurückgewiesen werden.
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 RVG wird die aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung auf Antrag des Rechtsanwalts von dem Urkundsbeamten des Gerichts des
ersten Rechtszugs festgesetzt. Der im Wege der PKH beigeordnete Rechtsanwalt erhält, sofern keine Sonderregelungen greifen,
für Klageverfahren vor den Sozialgerichten die gesetzliche Vergütung aus der Landeskasse (vgl. § 45 Abs. 1 RVG). Die Höhe der Vergütung bestimmt sich nach dem Vergütungsverzeichnis der Anlage 1 zum RVG (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz nicht anzuwenden ist, entstehen Betragsrahmengebühren (§ 3 Abs. 1 Satz 1 RVG). Ein solcher Fall ist hier, wie das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss richtig ausgeführt hat, gegeben.
Aus Teil 3 VV RVG ergibt sich, dass der Bf. eine Verfahrensgebühr (vgl. Vorbemerkung 3 Abs. 2) verdient hat. Die vom Sozialgericht getroffene
Festsetzung der Verfahrensgebühr ist nicht zu beanstanden. Zutreffend hat dieses den Gebührenrahmen nach der Regelung der
Nr. 3103 VV RVG herangezogen. Nr. 3102 VV RVG ist nicht einschlägig. Denn wie es Nr. 3103 VV RVG voraussetzt, war der Bf. für K. bereits im Vorverfahren tätig. Nur darauf kommt es an. Unerheblich ist dagegen, ob es dem
Rechtsanwalt gelungen ist, aus seiner Tätigkeit im Verwaltungs- oder Vorverfahren tatsächlich Einnahmen zu erzielen. Ungeachtet
dessen, dass es sich bei Nr. 3103 VV RVG um eine in zulässiger Weise typisierende Regelung handelt und deswegen Erschwernisse im Einzelfall ohnehin prinzipiell hinzunehmen
sind, wird die Argumentation des Bf. auch nicht dem Sinn und Zweck der Regelung gerecht. Dem reduzierten Gebührenrahmen liegt
der Gedanke zugrunde, dass der Rechtsanwalt, der einen Kläger bereits im Vorverfahren vertreten hat, bei typisierender Betrachtung
weniger Arbeit aufwenden muss, um den Rechtsstreit kompetent und effektiv betreiben zu können (vgl. BTDrs. 15/1971, S. 212).
Dann aber kann nicht von Belang sein, ob und in welcher Höhe der Rechtsanwalt aus dem Vorverfahren Einnahmen hat erzielen
können. Nicht relevant ist deswegen auch, dass im Vorverfahren kein Gebührenanspruch gegen die Staatskasse entstanden ist,
weil die Bewilligung von PKH samt Beiordnung nur das jeweilige gerichtliche Verfahren erfasst.
Auch der Ansatz des Sozialgerichts innerhalb des Gebührenrahmens begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Taxierung des konkreten
Betrags der Verfahrensgebühr hat auch der Bf. nicht gerügt.
Der Bf. hat auch eine Terminsgebühr (vgl. Vorbemerkung 3 Abs. 3 VV RVG) verdient. Diese hat das Sozialgericht jedoch zu niedrig angesetzt, so dass sein Beschluss insoweit abzuändern ist.
Aus § 14 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG ergibt sich, dass es für die Festsetzung der Terminsgebühr der Höhe nach auf alle relevanten Umstände des Einzelfalls ankommt,
vor allem auf Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, auf die Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber
sowie dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse und auf das Haftungsrisiko des Rechtsanwalts.
Betrachtet man allein diese Vorgaben in Zusammenschau mit Nr. 3106 VV RVG, liegt das Ergebnis nahe, dass der geringere Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid
im Vergleich zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in die Festsetzung der Terminsgebühr einfließen muss (nur der Vollständigkeit
halber wird darauf hingewiesen, dass die Ansicht des Bf., der Arbeitsaufwand sei dabei mindestens gleich hoch, unrealistisch
ist). Nr. 3106 VV RVG bewirkt durch die Gleichstellung einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid lediglich, dass dem Grunde nach eine Terminsgebühr
anfällt, die nach dem genannten Betragsrahmen zu bemessen ist. Hinsichtlich der konkreten Betragsfindung liefert die Gebührenstelle
dagegen keine speziellen Vorgaben. Insoweit fänden voll die Grundsätze des § 14 Abs. 1 RVG Anwendung. Unter dieser Prämisse wäre die Festsetzung einer Terminsgebühr von 100,00 EUR ohne Zweifel korrekt (vgl. in diesem
Sinn mit ausführlicher Begründung SG Augsburg, Beschluss vom 14.07.2010 - S 3 SF 155/10 E).
Jedoch lässt sich Nr. 3104 VV RVG eine gesetzliche Wertung entnehmen, die sich auch im vorliegenden Fall zu Gunsten des Bf. auswirkt. Diese Wertung gebietet,
den Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts in den Fällen der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der Entscheidung ohne
eine solche durch Gerichtsbescheid als gleich zu fingieren. Denn in Nr. 3104 VV RVG wird die Terminsgebühr ohne entsprechende Differenzierung einheitlich auf einen Gebührensatz von 1,2 festgelegt. Damit bringt
der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er im Rahmen dieser Gebührenstelle dem tatsächlich unterschiedlichen Arbeitsaufwand keine
Bedeutung beimisst, sondern so tut, als wäre dieser gleich. Andernfalls nämlich wäre zu erwarten, dass der Gebührensatz für
eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid niedriger ist. Eine Schlechterbehandlung der Rechtsanwälte im Rahmen der Nr. 3106
VV RVG im Vergleich zu der im Rahmen von Nr. 3104 VV RVG erschiene nicht unbedenklich. Eine derartige Differenzierung könnte nicht mit dem unterschiedlichen Wesen der jeweils geregelten
Gebühren begründet werden. Denn auch bei den nach § 3104 VV RVG zu berechnenden Gebühren fließt der Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts in die Gebührenbemessung mit ein; die Bemessungsparameter,
die § 14 Abs. 1 RVG nennt, sind kein Spezifikum der Betragsrahmengebühren im sozialgerichtlichen Verfahren. Das Maß der Arbeitsintensität einer
Angelegenheit kommt im Vergütungsverzeichnis gerade im Gebührensatz zum Ausdruck. Es ist nicht ersichtlich, dass die Gleichsetzung
der Fallgruppen beim Gebührensatz im Rahmen von Nr. 3104 Abs. 1 VV RVG auf anderen Erwägungen beruhen könnte, als sie auch bei der Bemessung nach Nr. 3106 VV i. V. m. § 14 Abs. 1 RVG anzustellen sind. So weist die Entscheidung durch Gerichtsbescheid im sozialgerichtlichen Verfahren beispielsweise gegenüber
der im Verwaltungsprozess keine Besonderheiten auf, die eine gebührenrechtliche Andersbehandlung rechtfertigen könnten.
Die demnach gebotene Gleichbehandlung (dafür auch Müller-Rabe in: Gerold-Schmidt, RVG, 18. Auflage 2008, VV 3106 Rn. 12) lässt sich nach Ansicht des Senats nur mit einer fiktiven Betrachtung erreichen, wie sie
das LSG Schleswig-Holstein im Beschluss vom 17.07.2008 - L 1 B 127/08 SK, vorgenommen hat. Es muss hypothetisch beurteilt werden, welche Schwierigkeiten und welchen Aufwand die mündliche Verhandlung
mit sich gebracht hätte, wäre sie denn durchgeführt worden. Das Sozialgericht hat diesen rechtlichen Ansatz zwar übernommen,
bei der hypothetischen Betrachtung aber auf eine mündliche Verhandlung unter Abwesenheit der Parteien abgestellt, die ausschließlich
der Urteilsverkündung dient. Diese Handhabung führt zu einer unzulässigen Umgehung der im Gesetz angelegten Gleichstellung
von mündlicher Verhandlung und Erlass eines Gerichtsbescheids im Rahmen von Nr. 3106 VV RVG. Abzulehnen ist allerdings, worauf das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat, die Ansicht, die Verfahrensgebühr sei zu
übernehmen. Vielmehr muss eine fiktive mündliche Verhandlung selbstständig anhand der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG bewertet werden.
Gemessen daran erscheint es angebracht, als Terminsgebühr die Mittelgebühr in Höhe von 200,00 EUR anzusetzen. Nach Lage des
konkreten Falles wäre zu erwarten gewesen, dass die mündliche Verhandlung von durchschnittlicher Länge und durchschnittlicher
Intensität und Schwierigkeit gewesen wäre. Bis dato unbekannte rechtliche oder tatsächliche Probleme bestanden bereits zu
dem Zeitpunkt, als sich das Sozialgericht zum Erlass eines Gerichtsbescheids entschlossen hatte, nicht mehr; es hatte bereits
im Vorfeld ein reger Austausch von Argumenten stattgefunden. Nachdem der eingeschaltete gerichtliche Sachverständige zweimal
ergänzend zu seinem Gutachten Stellung genommen hatte, schienen die wesentlichen Zweifelsfragen geklärt zu sein.
Die gründliche Vorbereitung des Falles, die im Vorfeld erfolgt war, darf sich nicht bei der Bemessung der Terminsgebühr niederschlagen;
sie ist mit der Verfahrensgebühr abgegolten. Die übrigen Faktoren, die im Rahmen von § 14 Abs. 1 RVG für die Gebührenbemessung maßgebend sind, bewegen sich, wie das Sozialgericht richtig festgestellt hat, im durchschnittlichen
Bereich.
In die Gesamtberechnung des zu erstattenden Betrages geht neben einer Terminsgebühr von 200,00 EUR ein Mehrwertsteuerbetrag
(Nr. 7008 VV RVG) von 86,75 EUR ein. Die insgesamt zu erstattenden Kosten belaufen sich somit auf 543,35 EUR. Nach Abzug des gezahlten Kostenvorschusses
in Höhe von 313,20 EUR verbleiben zur Zahlung 230,15 EUR.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei (§ 56 Abs. 2 Satz 2 RVG). Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 3 RVG).
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar. Für die Zulassung der weiteren Beschwerde (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 6 Satz 1 RVG) besteht wegen der Sonderregelung des §
177 SGG kein Raum.