Zulässigkeit der Aussetzung der Vollstreckung einer erstinstanzlichen Entscheidung durch einstweilige Anordnung im sozialgerichtlichen
Verfahren; Erfolgsaussichten im Hinblick auf eine Prognoseentscheidung bei einer 26wöchigen Drogentherapie; Übertragbarkeit
einer BSG-Entscheidung in einem vergleichbaren Fall
Gründe
I.
Mit Urteil vom 10.06.2015, Az.: S 11 AS 104/10, hat das Sozialgericht Augsburg den Antragsteller (Ast.) verurteilt, dem Antragsgegner (Ag.) für die Zeit während seiner
stationären Unterbringung in einer Therapieeinrichtung der Drogenhilfe vom 01.12.2014 bis 18.05.2015 Leistungen nach dem SGB II zu erbringen. Die Berufung des Ast. ist im Senat unter Az.: L 7 AS 430/15 anhängig. Am 15.07.2015 hat der Ast. Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß §
199 Abs.
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gestellt zum Bayer. Landessozialgericht. Das Urteil des SG Augsburg würde offensichtlich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
hinsichtlich des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 4 SGB II widersprechen im Hinblick auf Personen, die an einer sechsmonatigen bzw. 26-wöchigen Drogentherapie teilnehmen (BSG, Urteil vom 02.02.2012, B 14 AS 66/13 R). Bei Vollstreckung des Urteils würden neben den laufenden Sozialleistungen - die aktuell durch einen anderen Leistungsträger
nach dem SGB II erbracht werden - dem Ag. ca. 1.800,00 Euro zusätzlich zur Verfügung stehen. Bei einer 10%igen Aufrechnung mit dem Regelbedarf,
wie sie das SGB II zulasse, könnten lediglich 1.400,00 Euro zurückgefordert werden. Dies sei bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen.
Mit Schreiben vom 17.07.2015 hat der Ag. dahingehend Stellung genommen, dass die Berufung nicht offensichtlich unbegründet
sei und es hier um existenzsichernde Leistungen gehe.
II.
Der Aussetzungsantrag ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Gemäß §
199 Abs.
2 Satz 1
SGG kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden
hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Ein vollstreckbarer Titel im Sinne von §
199 Abs.
2 SGG liegt hier vor; die Berufung hat nach §
154 Abs.
2 SGG keine aufschiebende Wirkung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
199 Rz. 8a m.w.N.).
Der Aussetzungsantrag ist jedoch nicht begründet. Bei der Entscheidung über die Aussetzung ist eine Interessen- und Folgenabwägung
vorzunehmen (BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 Kr 47/01 R), wobei der in §
154 Abs.
2 SGG zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, dass Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung haben
sollen. Eine Aussetzung kommt daher nur in Ausnahmefällen in Betracht (BSG, Beschluss vom 28.10.2008, B 2 U 189/08 B). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung zu prüfen (vgl. BayLSG, Beschluss
vom 19.05.2010, L 10 AL 127/10 ER, Rz. 6). Dabei können die Erfolgsaussichten der Berufung ausnahmsweise dann eine Rolle spielen, wenn diese offensichtlich
fehlen (vgl. BSG, Beschluss vom 05.09.2001, B 3 KR 47/01 R) oder offensichtlich bestehen (BSGE 12, 138). Sind die Erfolgsaussichten jedoch nicht in dieser Weise eindeutig abschätzbar, ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung
insbesondere zu berücksichtigen, ob dem Ast. - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als solcher verbunden
ist - ein im nachhinein nicht mehr zur ersetzender Schaden entstehen würde (BayLSG, a.a.O. Rz. 6). Maßgeblich sind dabei die
Umstände des Einzelfalls, die vom Vollstreckungsschuldner glaubhaft vorzutragen sind. Zudem darf ein überwiegendes Interesse
des Vollstreckungsgläubigers nicht entgegenstehen (BSG, Beschluss vom 28.08.2007, B 4 R 25/07 R). Ausgehend von diesen Grundsätzen kann der Aussetzungsantrag keinen Erfolg haben. Es ist schon keine offensichtliche Rechtswidrigkeit
des sozialgerichtlichen Urteils erkennbar. Vielmehr sich Erfolgsaussichten der Berufung als offen anzusehen. Zwar lag der
vom Ast. angeführten Entscheidung des BSG vom 02.02.2012, B 14 AS 66/13 R ein vergleichbarer Fall zugrunde, wo ebenfalls eine Prognoseentscheidung für eine 26-wöchige Drogentherapie in Frage stand.
Jedoch ist hier zu klären, ob der dieser Entscheidung des BSG zugrundeliegende Sachverhalt und der hier gegebene Sachverhalt so identisch sind, dass die Rechtsprechung des BSG ohne Weiteres übertragbar ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, ob es sich um einen - wie es das Gesetz vorsieht
- sechsmonatigen Prognosezeitraum (vgl. § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II) handelt oder nicht. Dies lässt sich letztlich nur mit weiterer Sachaufklärung durch das Berufungsgericht klären, wie sie
bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 23.07.2015 durch den im Senat zuständigen Berichterstatter eingeleitet wurde. Der
Antrag auf Aussetzung scheitert im Ergebnis schon an der fehlenden "Offenkundigkeit" der Erfolgsaussichten der Berufung. Im
Übrigen ist kein Nachteil des Ast. glaubhaft dargelegt worden, der im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung die Aussetzung
rechtfertigen würde. Für die Abwägung spielt es keine Rolle, dass der Ag. aktuell laufende Leistungen von einem anderen Leistungsträger
nach dem SGB II erhielt und hier streitgegenständlich Leistungen für einen vergangenen Zeitraum sind. Denn es geht hier nicht um die vorläufige
Gewährung existenzsichernder Leistungen im Wege einer einstweiligen Anordnung, wo diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen
sind, sondern um die Vollstreckung eines erstinstanzlichen Urteils, dessen Richtigkeit und damit Vollstreckbarkeit der Gesetzgeber
für den Regelfall angenommen hat. Soweit der Ast. dargelegt hat, dass aufgrund einer Vollstreckung des Urteils insgesamt ca.
1.800,00 Euro durch den Ast. vor zu leisten wären, jedoch über eine Aufrechnung mit dem Regelbedarf letztlich höchstens 1.400,00
Euro zurückzuholen wären, ist dies auch kein Gesichtspunkt, der bei der Abwägung eine Rolle spielen kann. Eine solche Gefahr
besteht jedoch im Bereich des SGB II häufig, so dass ein erstinstanzliches Urteil im Bereich existenzsichernder Leistungen - wollte man diesem Gesichtspunkt Bedeutung
zukommen lassen - selten vollstreckt werden dürfte. Gerade im Bereich existenzsichernder Leistungen muss jedoch regelmäßig
die Vollstreckung Vorrang haben (BayLSG Beschluss vom 08.02.2006, L 10 AS 17/06 ER, Rz. 8). Sobald ein Leistungsberechtigter aus dem SGB II ausscheidet, kann die vorläufig - möglicherweise zu Unrecht - gewährte Leistung in voller Höhe zurückgefordert werden, wenn
der Leistungsberechtigte aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II ausscheidet und wieder über ausreichende Mittel verfügt. Von einem baldigen Ende des Leistungsbezugs geht der Gesetzgeber
auch aus, wenn er nur sechs Monate als Bewilligungszeitraum festlegt. Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des sozialgerichtlichen
Urteils ist daher im Ergebnis abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und der Erwägung, dass der Ast. mit seinem Begehren erfolglos blieb.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.