Zulässigkeit eines erneuten Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren; Notwendigkeit der Einholung
eines weiteren Gutachtens
Gründe:
I. Der Kläger und Antragsteller (im Folgenden: Ast.) begehrt im Klageverfahren, die Beklagte und Antragsgegnerin (im Folgenden:
Ag.) unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2010 zu verurteilen,
ihm Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 7. November 2009 zu gewähren.
Er leidet an einer Quetschung C6/C7 infolge eines Schädel-Hirn-Traumas vom April 2007, an einer leichten Geh- und Stehbehinderung,
an einer Bewegungseinschränkung der linken oberen Extremität, chronischen Schmerzen und einer Depression. Aufgrund des Antrages
vom 7. November 2009 holte die Ag. ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 11. Dezember
2009 ein. Dieser schätzte den zeitlichen Bedarf in der Grundpflege auf 13 Minuten, bei der hauswirtschaftlichen Versorgung
auf 43 Minuten täglich ein. Mit Bescheid vom 12. Januar 2010 lehnte die Ag. daraufhin den Antrag auf Gewährung von Pflegegeld
ab. Den Widerspruch wies sie nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des MDK mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 2010
zurück.
Im hiergegen gerichteten Klageverfahren hat das Sozialgericht Augsburg u.a. ein Gutachten des Pflegesachverständigen Dr. H.
vom 10. Juli 2011 eingeholt, der keinen Grundpflegebedarf bzw. einen Grundpflegebedarf von nur weinigen Minuten täglich ermittelt
hat. Hilfe sei allenfalls sporadisch und im Rahmen ausgeprägter seelischer Tiefs erforderlich. Auch würden Fahrten zu Ärzten
und Therapeuten nicht regelmäßig, d.h. mindestens wöchentlich, anfallen.
Einen Antrag vom 31. August 2010 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 10. September
2010 abgelehnt (Az.: S 10 P 48/10 ER). Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 17. November 2010 zurückgewiesen (Az.: L 2 P 79/10 B ER).
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 23. Februar 2012 abgewiesen. Der Grundpflegebedarf liege, auch bei Berücksichtigung
von Zeiten für Fahrten zur Physiotherapie, deutlich unter 46 Minuten.
Hiergegen ist eine Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (Az.: L 2 P 17/12) anhängig. Gleichzeitig hat der Ast. am 7. März 2012 die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Form einer einstweiligen
Anordnung auf Zahlung von Pflegegeld beantragt. Er werde als Kranker und Schwerbehinderter diskriminiert und menschenunwürdig
behandelt. Ihm stünden lediglich 150.- EUR im Monat zur Verfügung; er müsse Essensreste aus Bio- und Mülltonnen zu essen.
Hinzu kämen Unfallfolgen vom 4. Januar 2012. Er gehe mit Krücken und könne keine 50 m gehen. Eine Pflegeperson mache die Pflege,
die Hausarbeit sowie Einkauf- und Krankenfahrten.
Die Ag. hat zu dem Unfall vom 4. Januar 2012 hingewiesen, dass dieser dem Sozialgericht seit 10. Februar 2012 bekannt gewesen
sei. In dem Schreiben, in dem der Ast. den Unfall gemeldet habe, sei allenfalls von Schmerzen und allgemeinen Beschwerden
die Rede, die nicht nahe legen, dass zusätzlicher Hilfebedarf auf Dauer hinzugetreten sei, der zur Zuerkennung einer Pflegestufe
führt. Auch fehle es an einem Anordnungsgrund. Die Pflegeversicherung diene nicht dazu, allgemein die Einkommenssituation
zu verbessern, sondern die erforderliche Pflege sicherzustellen. Dies sei beim Ast. nicht erforderlich.
II. Da das Hauptsacheverfahren bereits beim Bayer. Landessozialgericht anhängig ist, obliegt dem Senat gemäß §
86 b Abs.
2 S. 3
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig. Zwar hatte das Sozialgericht bereits den ebenfalls auf vorläufige
Gewährung von Pflegegeld gerichteten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 10. September 2010 abgewiesen;
die hiergegen gerichtete Beschwerde hatte der Senat mit Beschluss vom 17. November 2010 zurückgewiesen. Nach Ablehnung eines
Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz kann ein neuer Antrag nur gestellt werden, wenn sich die Sach- oder Rechtslage geändert
hat. Ein neuer Antrag ist unzulässig, wenn er den abgelehnten Antrag ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage wiederholt (so
z.B. Bayer. LSG, Beschluss vom 6. Juni 2011, Az.: L 2 P 50/11 B ER m.w.N.). Dem nun vorliegenden Antrag liegt jedoch aufgrund des in der Zwischenzeit erstellten Pflegegutachtens des Dr.
H. und des Unfallereignisses vom 4. Januar 2012 ein geänderter Sachverhalt zugrunde.
Gemäß §
86 b Abs.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers
abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer.
Landessozialgericht, Az.: L 2 B 354/01 U ER).
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht worden sind (§
86 b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §§
290 Abs.
2,
294 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen
Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs
ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr
zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich,
so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter-
und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).
Es fehlt vorliegend bereits an einem Anordnungsanspruch. Pflegebedürftige können nach §
37 Abs.
1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§
19 S. 1
SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I
vorliegt.
Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des
Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die
in §
14 Abs.
4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie
den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der
Verrichtungen stellt eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 §
14 Nr.
3). Nach §
15 Abs.
3 Nr.
1 SGB XI muss zur Erlangung der Pflegestufe I der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr
als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90
Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen.
Nach den vorliegenden Gutachten, einerseits des MDK, andererseits des Dr. H., sind diese Voraussetzungen für den Bereich der
Grundpflege bei Weitem nicht erfüllt. Zutreffend führt das Sozialgericht in seinem Urteil vom 23. Februar 2012 aus, dass auch
bei Berücksichtigung von Zeiten für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, um eine Physiotherapiebehandlung in Anspruch
zu nehmen, lediglich weitere sechs Minuten anzurechnen wären, so dass sich der Grundpflegebedarf bei Zugrundelegung des für
den Ast. positivsten Gutachtens des MDK auf 19 Minuten beläuft.
Auch ergibt sich nach Aktenlage derzeit nicht, dass es durch den gemeldeten Unfall vom 4. Januar 2012 zu einem erheblichen
Anstieg der Pflegezeit gekommen ist. Der Ast. schildert, dass er mit Krücken gehe. Zum einen sind gemäß §
14 Abs.
1 SGB XI nur solche Krankheiten oder Behinderungen für Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens berücksichtigungsfähig, die eine
dauerhafte, d.h. mindestens sechsmonatige Hilfe bedürfen. Akute Unfallverletzungen, die ausheilen oder sich innerhalb dieser
Zeit erheblich bessern, scheiden somit aus. Zum anderen ist nicht ersichtlich und vorgetragen, dass, außer ggf. beim Gehen,
zusätzliche pflegerelevante Hilfeleistungen notwendig geworden sind. Nach eigenen Angaben kann der Ast. noch 50 Meter gehen,
so dass er sich in der Wohnung selbstständig fortbewegen kann. Hilfe für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zu
regelmäßigen Arzt oder Therapeutenbesuchen hat das Sozialgericht aber bereits mit sechs Minuten täglich berücksichtigt. Der
Ast. schildert den Hilfebedarf neben der Pflege vor allem für den hauswirtschaftlichen Bereich, d.h. die Pflegeperson führe
den Haushalt und mache verschiedene Fahrten für den Ast. Dies entspricht den vorliegenden Gutachten, nach denen der Schwerpunkt
der Hilfe im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung liegt. Die hierfür anzusetzenden 45 Minuten sind jedoch kumulativ
neben dem Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten täglich notwendig.
Die Einholung eines weiteren Gutachtens muss im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes unterbleiben, da es dem Ast., der
existenzielle Gründe vorbringt, ersichtlich um eine kurzfristige Entscheidung über die (vorläufige) Gewährung von Pflegegeld
geht. Eine kurzfristige Gutachtenserstellung kann im Rahmen einer Begutachtung nach Hausbesuch nicht gewährleistet werden.
Da bereits ein Anordnungsanspruch fehlt, kann der Senat im Ergebnis offen lassen, ob ein Anordnungsgrund besteht. Es bedarf
daher keiner Prüfung der finanziellen Situation des Ast., der im Übrigen gemäß Beschluss des Senats vom 18. Mai 2010 (Az.:
L 2 U 214/10 B ER) zum damaligen Zeitpunkt eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung durch die Deutsche Rentenversicherung
Knappschaft-Bahn-See sowie Leistungen der Grundsicherung bezogen hat.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung war daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.