Parallelentscheidung zu LSG Berlin-Brandenburg - L 13 SB 90/13 - v. 25.02.2015
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Aufhebung eines Bescheides, mit dem der ehemals Beklagte (...) ihm das Merkzeichen H entzog.
Mit Bescheid vom 1. März 2005 hatte das Land B neben der Feststellung eines Grades der Behinderung von 100 auch das Vorliegen
der gesundheitlichen Voraussetzung für die Merkzeichen RF, GL und H festgestellt. Mit Bescheid vom 3. März 2010 hob das Land
B den vorgenannten Bescheid ab dem 3. März 2010 hinsichtlich der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das
Merkzeichen H auf. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies es mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2010 zurück und führte
zur Begründung aus, ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung sei für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintrete. Bei
Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit sei bei Beginn der Frühförderung in der Regel Hilflosigkeit bis zum Abschluss
der Berufsausbildung bzw. des Studium festzustellen. Nachdem eine Bescheinigung vorliege, wonach der Kläger die berufliche
Ausbildung zum Jungkoch am 12. Juli 2009 abgeschlossen habe, sei eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten,
die die Änderung der Feststellung über das Vorliegen des Merkzeichens nötig mache. Als hilflos sei derjenige anzustehen, der
in Folge von Gesundheitsstörungen nicht nur vorübergehend für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen
zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauert bedürfe. Dies sei beim Kläger
nicht der Fall.
Mit der am 1. Juli 2010 erhobenen Klage hat der Kläger vorgebracht, sein Alltag sei massiv von seinen mangelnden Lese- und
Schreibkenntnissen geprägt. Seine Angelegenheiten würden durch seine Mutter erledigt, soweit es die GEZ, die Wehrpflichterfassung,
Wahlen sowie die Deutsche Rentenversicherung betreffe. Seine Mutter erkläre ihm den Inhalt von Schreiben und fasse nach Absprache
mit ihm die Antworten ab und sei beim Ausfüllen von Vordrucken behilflich. Auch im Alltag sei er aufgrund seines sprachlichen
Defizits vielfach auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen. Sie müsse sämtliche Terminabsprachen regeln, ihn zu Ärzten begleiten
und für ihn übersetzen. Die so belegten erheblichen Kommunikationsdefizite zeigten, dass er nicht in der Lage sei, im täglichen
Leben ohne fremde Hilfe zu bestehen.
Im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung hat das Sozialgericht Potsdam mit Urteil vom 9. April 2013 die
Klage abgewiesen und zur Begründung auf die Begründung des Widerspruchsbescheides Bezug genommen. Das Urteil ist dem Kläger
am 23. April 2013 zugestellt worden. Mit der hiergegen am 17. Mai 2013 erhobenen Berufung verfolgt er sein Begehren weiter
und wiederholt hierzu sein Vorbringen aus erster Instanz. Nach einem Umzug des Klägers nach Berlin ist anstelle des ehemals
Beklagten Land B das Land Berlin in das Verfahren als neuer Beklagter eingetreten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 9. April 2013 und den Bescheid des Landes Brandenburg vom 3. März 2010 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug
genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der streitgegenständliche
Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für den Bescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch / Zehntes Buch (SGB X). Danach ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im hier zu entscheidenden
Fall handelt es sich bei dem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung um den Verwaltungsakt des Landes B vom 1. März 2005. Ob im Sinne
der genannten Vorschrift in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine
wesentliche Änderung eingetreten ist, kann indes dahinstehen, denn der angefochtene Verwaltungsakt vom 3. März 2010 überschreitet
hinsichtlich der darin angeordneten Rechtsfolge den Rahmen der Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Entgegen der Ermächtigungsnorm hat der angefochtene Verwaltungsakt vom 3. März 2010 den Dauerverwaltungsakt vom 1. März
2005 nicht mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben, sondern mit Wirkung für die Vergangenheit. Nach dem Verfügungsteil des
Bescheides vom 3. März 2010 sollte die Aufhebungswirkung ab demselben Tag eintreten. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam,
in dem er ihm bekannt gegeben wird. Mithin konnte die Wirkung des angefochtenen Verwaltungsakts vom 3. März 2010 gegenüber
dem Kläger erst ab der Bekanntgabe im Sinne des § 37 SGB X eintreten und nicht bereits am 3. März 2010. Tatsächlich handelte es sich damit um eine Aufhebung mit Wirkung bereits für
die Vergangenheit und nicht um eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft.
Die Rechtswidrigkeit führt auch zur vollständigen Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Insbesondere kommt eine Aufhebung
nur für die Zeit vor Bekanntgabe des Bescheides nicht in Betracht, da eine Teilbarkeit des Bescheides in zeitlicher Hinsicht
nicht gegeben ist. Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise
aufgehoben wird, ist nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch
Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden
könnte (a.A. wohl 11. Senats des LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10). Bei einem Entziehungsbescheid, der eine günstige Feststellung in einem Dauerverwaltungsakt ändert, handelt es sich seinerseits
nämlich nicht um einen Dauerverwaltungsakt (so auch LSG Hamburg, Urteil vom 24. Juni 2014, L 3 SB 23/12, juris). Seine Wirkung beschränkt sich darauf, den aufzuhebenden Dauerverwaltungsakt zum Zeitpunkt der von der Behörde intendierten
Wirksamkeit ganz oder teilweise aufzuheben. Für nachfolgende Zeiträume enthält er hingegen keinerlei Feststellung. Maßgeblich
ist insoweit einzig der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in der Fassung, die er durch den Entziehungsbescheid erhalten hat.
Diese zeitlich punktuelle Wirkung eines Aufhebungsbescheides führt dazu, dass eine erst später eintretende Wirkung der intendierten
Entziehung - anders eine geringer ausfallende Entziehung der Begünstigung - nicht ein Minus gegenüber der ursprünglichen Regelung
ist, sondern ein Aliud.