Beitragsbemessung in der freiwilligen Krankenversicherung für Schüler mit Einkommen aus BAföG
Gründe:
Die Beschwerde ist begründet.
Das Antragsbegehren war dahingehend auszulegen, dass von Anfang an die Antragsgegnerin auch als Pflegekasse in verpflichtet
sein soll, da diese eine eigenständige Körperschaft ist und die Beiträge lediglich in einem gemeinsamen Bescheid festgesetzt
werden können, § 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 11. Buch
Nach §
86 a Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung entfällt nach §
86 a Abs.
2 Nr.
1 SGG unter anderem bei Beitragsbescheiden wie hier.
Gemäß §
86 b Abs.
1 S. 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache jedoch auf Antrag durch Beschluss die aufschiebende Wirkung anordnen.
Es handelt sich um eine gerichtliche Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei welcher die für und gegen einen
Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen sind.
Diese Abwägung fällt hier zu Gunsten der Antragstellerin aus:
Die Antragsgegnerinnen wären nämlich nach §
86a Abs.
3 S. 2, 2. Alt.
SGG verpflichtet gewesen, von Amts wegen selbst die Aussetzung des streitgegenständlichen Beitragsfestsetzungsbescheides anzuordnen.
Denn die Vollziehung bedeutet für die Antragstellerin eine unbillige Härte, die nicht durch überwiegende öffentliche Interessen
geboten ist:
Für Schüler besteht keine (direkte) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Eine solche besteht nur für Studenten
(§
5 Abs.
1 Nr.
9 Sozialgesetzbuch 5. Buch,
SGB V) und bestimmte Praktikanten (Nr. 10).
Die Antragstellerin, die als vermögens- und einkommenslose Gymnasiastin BaföG-Bezieherin ist, ist auch nicht familienversichert
nach §
10 SGB V, da ihre Mutter bereits verstorben ist, und der Vater unerreichbar im Ausland lebt.
Sie ist deshalb freiwillig versichert, hier nach Aktenlage konkret nach §
9 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB V.
Da sie aber weder Berufs- noch Fachschülerin und auch keine Wandergesellin ist oder an einer Hochschule im Ausland eingeschrieben
ist, haben die Antragsgegnerinnen die Beitragshöhe nach dem allgemeinen Satz (Tarif 5501) bemessen und nicht nach dem ermäßigten
für Studenten nach §
240 Abs.
4 S. 7
SGB V i. V. m. §§
236,
245 Abs.
1 SGB V entsprechend. Letzterer betrüge - nach den Angaben der Antragsgegnerinnen im Widerspruchsbescheid - 64,77 € für die Kranken-
und 11,64 € für die Pflegeversicherung monatlich im Gegensatz zu den festgesetzten 126,90 € + 16,61 € = 143,51 € monatlich.
Die Antragsstellerin bleibt die Differenz unverschuldet schuldig: Sie verfügt glaubhaft selbst nicht über die Mittel. Weder
das BaföG-Amt noch das JobCenter haben die Kostenübernahme bewilligt. Ihr gerichtlicher Eilantrag auf Verpflichtung des JobCenters
ist vom Sozialgericht zurückgewiesen worden (B. v. 22.05.2012 -S 148 AS 8691/12 ER).
Diese Situation ist ihr nicht zuzumuten: Einerseits gehen hier alle Beteiligten davon aus, dass die einfachgesetzliche Rechtslage
verfassungsrechtlich untragbar ist und irgendeiner der in Betracht kommenden Träger für die Deckung der anfallenden Kranken-
und Pflegeversicherungsbeiträge zuständig sein muss. Es steht nämlich außer Diskussion, der Antragstellerin anzusinnen, den
Schulbesuch abzubrechen und sich eine (Hilfs-)Arbeit zu suchen. Andererseits muss die Antragstellerin ohne Aussetzung damit
rechnen, dass ihre Leistungsansprüche zum Ruhen gebracht werden (§
16 Abs.
3a SGB V) mit der Folge, dass sie nur noch bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen versichert ist, obwohl ihre Säumnis unverschuldet
ist und es insoweit fehl geht, wenn die Antragsgegnerinnen lapidar auf das Vollzugsrisiko abstellen.
Auch der Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.03.2000 (B 12 KR 2/00 B), mit dem Leitsatz, es verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, freiwillig krankenversicherte Schüler einer
allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler einer Fachschule oder Berufsfachschule, steht
- entgegen der Annahme der Antragsgegnerinnen und des Sozialgerichts - einer Aussetzung nicht entgegen. Maßgeblich war für
das BSG nämlich, dass der dort klagende Schüler die allgemeinen Beiträge aufbringen konnte: Der Senat habe schon entschieden, dass
aufgrund der Regelung zur Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei der Beitragsbemessung die
fiktive Mindestgrenze auch bei einkommenslosen Mitgliedern nicht unterschritten werden dürfe (BSG aaO., juris-Rdnr. 6 mit Bezugnahme auf BSGE 70, 13 = SozR 3-2500 § 240 Nr. 6) und diese Regelung selbst dann nicht gegen das
GG verstoße, wenn fünf Familienangehörige gleichzeitig betroffen seien (BSG SozR 3-1300 § 40 Nr. 2). Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung
angenommen, weil jedenfalls der damalige Beschwerdeführer durch die angegriffene Beitragsregelung nicht überfordert worden
sei (BSG SozR 3-1300 § 40 Nr. 3). Von einer solchen Überforderung ist hier allerdings auszugehen.
Der Fall der Antragstellerin zeigt jedoch, dass die gesetzliche Typisierung, die davon ausgeht, dass Besucher einer allgemeinbildenden
Schule angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert seien, nicht immer greift.
Es spricht hier auch einiges dafür, die Gesetzeslücken durch eine entsprechende Anwendung des §
240 Abs.
4 S. 7
SGB V zu Lasten der Krankenversicherung zu schließen:
Da der Gesetzgeber selbst für kleine Personengruppen wie für im Inland versicherte Studenten ausländischer Hochschulen oder
Wandergesellen Ausnahmevorschriften in §
240 Abs.
4 S. 7
SGB V geschaffen hat, spricht dies für ein Gebot, eine entsprechende Regelung auch für Vollwaisen bzw. für Halbwaisen, deren lebender
Elternteil nicht greifbar ist, oder für andere Fälle fehlender Familienversicherung ohne eigener Leistungsfähigkeit zu treffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG entsprechend.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).