Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Unfallfolge in der gesetzlichen Unfallversicherung bei vorbestehenden
psychiatrischen Erkrankungen
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 29. Mai 2003.
Der 1958 geborene Kläger war seit 1988 bei der Deutschen Bundesbahn beziehungsweise ihrem Rechtsnachfolger als Zugbegleiter
beschäftigt. Zuvor war er von 1974, nur unterbrochen durch den Wehrdienst, bis zur Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik
Deutschland im Jahr 1988 bei der Deutschen Reichsbahn tätig gewesen.
Am 6. Februar 2000 befand sich der Kläger auf dem Weg von seinem Wohnort zu einem Diensteinsatz in H und war im Zug als Fahrgast
unterwegs, als dieser nachts im Bahnhof B entgleiste. Unmittelbar nach dem Unfall beteiligte sich der Kläger an der Organisation
der Hilfsmaßnahmen. Vom 7. Februar 2000 bis 1. März 2000, 23. Oktober 2000 bis 13. November 2000, 12. November 2002 bis 29.
November 2002 und ab 30. Mai 2003 war der Kläger wegen einer leichten depressiven Episode beziehungsweise einer Angst und
depressiven Störung gemischt arbeitsunfähig erkrankt. Darüber hinaus war er in der Zeit vom 15. November 2000 bis 7. November
2001 an 15 Arbeitstagen in Behandlung bei dem Diplom-Psychologen D. Vom 1. Mai 2005 bis 28. Februar 2007 erhielt der Kläger
eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit und im Anschluss daran eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.
Während seiner Schicht als Zugbegleiter am 29. Mai 2003 wurde eine Person von dem Zug erfasst. Der Kläger beteiligte sich
an der Suche der Person bzw. der Leiche, konnte jedoch bis auf Anhaftungen von Blut am Triebkopf nichts weiter feststellen.
Mit Schreiben vom 2. Juni 2003 zeigten der den Kläger behandelnde Arzt, der Facharzt für Innere Medizin K, bei dem der Kläger
am 2. Juni 2003 eingetroffen war, und mit Schreiben vom 12. August 2003 der Arbeitgeber des Klägers der Beklagten diesen zuletzt
genannten Unfall an.
Die Beklagte holte unter anderem Behandlungsberichte des Diplom-Psychologen D, des Facharztes für psychotherapeutische Medizin,
Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S sowie eine neurologisch-psychiatrische Stellungnahme nach Aktenlage des Facharztes für
Neurologie und Psychiatrie Dr. B vom 14. Januar 2004 ein, der unter anderem ausführte, unter Berücksichtigung der Verletzungsereignisse,
die psychotraumatologisch als wenig gravierend anzusehen seien und der übrigen Darlegungen bei einer allerdings außerordentlich
dünnen psychologischen Befundberichterstattung sei der Zusammenhang zwischen dem jetzigen Unfallereignis vom 29. Mai 2003
und einer als wesentlich darauf zurückzuführenden psychischen Symptomatik nicht belegt. Nach Auswertung dieser Unterlagen
erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Januar 2004 einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
wegen Folgen des Ereignisses vom 29. Mai 2003 im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen bis zum 1. Juni 2003 an, lehnte einen
Anspruch auf Leistungen über diesen Zeitpunkt hinaus jedoch ab. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, die über den
1. Juni 2003 hinaus bestehenden psychischen Beschwerden seien nicht auf das Ereignis vom 29. Mai 2003 zurückzuführen. Es handele
sich dabei um unfallunabhängig bestehende Erkrankungen.
Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog die Beklagte Kopien des Sozialversicherungsausweises des Klägers bei, aus denen
sich unter anderem ergibt, dass der Kläger vom 10. November 1981 bis zum Februar 1988 bei der Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie Dr. A in Behandlung war. Arbeitsunfähigkeit bestätigte diese Ärztin für die Zeit vom 10. November 1981 bis 17.
November 1981, 5. April 1983 bis 19. Juli 1983 sowie vom 22. November 1984 bis 21. Januar 1985. Weiter zog die Beklagte ein
Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. E bei, welches im Auftrag des Bundeseisenbahnvermögens erstellt worden
war und die Frage der weiteren Arbeitsunfähigkeit sowie möglicherweise notwendiger medizinischer oder beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen
beantworten sollte. Dieser führte in seinem Gutachten vom 5. April 2004 unter anderem aus, der Kläger leide unter einer phobischen
Störung, wahrscheinlich vor dem Hintergrund einer eher ängstlichen und auch sensitiven Störung der Persönlichkeitsentwicklung
(lebensbegleitend) und im Zuge der notwendigen Anpassungen an äußere Belastungen und Konflikte. Die geschilderten Unfallumstände
2000 und 2003 würden auch nach den Maßstäben des subjektiven Erlebens nur ganz bedingt den Charakter eines vital bedrohlichen
Traumas tragen. Tatsächlich weise die einsetzende, überaus ängstliche und auch depressive Verarbeitung dieser Ereignisse auf
primär bestehende Eigenheiten der Persönlichkeitsentwicklung hin, auch wenn die Symptomatik mit immer wiederkehrenden traumatischen
Erinnerungen an konkrete Erlebnisse, die dann labilisierend wirken und zu einem ängstlichen Vermeidungsverhalten führen würden,
an eine so genannte posttraumatische Belastungsstörung denken lasse. Im Falle des Klägers seien aber Faktoren, die in der
Person des Klägers selbst lägen, wesentlich, die eine besondere Vulnerabilität erklären und vor allem auch für den protrahierten
Verlauf von psychischen Störungen verantwortlich zu machen seien. Grundsätzlich sei der Kläger in körperlich und geistig angepassten
Arbeitsbereichen leistungsfähig. Mit seinen Möglichkeiten könne er körperlich sicherlich mittelschwere Anforderungen erfüllen.
Arbeit mit Nachtschicht und unter besonderem Zeitdruck könnten immer und in jedem Fall labilisieren und sollten deswegen nicht
abverlangt werden. Darüber hinaus seien auftretende Ängste an besondere Umstände des einzelnen Arbeitsplatzes gebunden. Probleme
könne es darüber hinaus beim notwendigen Anmarsch zur Arbeitsstelle, wenn öffentliche Verkehrsmittel notwendig seien, geben.
Mit solchen Einschränkungen könne er aber regelmäßig und vollschichtig jederzeit arbeiten. Tatsächlich mute sich der Kläger
bereits jetzt im Alltag einiges zu. Hierauf würden Gebrauchsspuren an beiden Händen schließen lassen. Darüber hinaus sei er
aktiv im Fitnessstudio.
Nachdem die Beklagte eine erneute Stellungnahme des Dr. B vom 12. Juli 2004 zu diesem Gutachten sowie zu einer vom Kläger
übersandten Stellungnahme des Diplom-Psychologen D vom 14. Januar 2004 eingeholt hatte, wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 23. August 2004 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren holte das Sozialgericht zunächst Befundberichte der Ärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische
Medizin L vom 31. Mai 2005 sowie vom Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie G vom 13. Juni 2005 ein und zog ein im Auftrag
der zuständigen Rentenversicherung erstelltes nervenfachärztliches Gutachten der Chefärztin der psychiatrischen Klinik der
R Kliniken Dr. B vom 9. Februar 2005 bei.
Die als Sachverständige bestellte Fachärztin für psychotherapeutische Medizin Dr. M hat in ihrem Gutachten vom 26. Juni 2007
unter anderem ausgeführt, der Kläger leide unter einer abklingenden Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung
und einer Anpassungsstörung mit ängstlich-depressiver Entwicklung bei depressiver Persönlichkeitsstruktur mit altruistischen
Zügen. Nach dem zweiten Zugunglück habe beim Kläger zweifellos das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung, also
einer unfallbedingten psychischen Störung, vorgelegen. Für diese Annahme sprächen zum einen die vom Kläger geschilderte Symptomatik,
zum anderen die Dokumentation im Aktenmaterial und auch die Tatsache, dass sich der Kläger bis zum heutigen Tag in traumatherapeutischer
Behandlung befinde. Hieraus lasse sich indirekt ein erheblicher Leidensdruck beim Kläger ableiten, es sei unwahrscheinlich,
dass sich jemand über einen so langen Zeitraum ohne entsprechende Symptomatik in eine doch belastende traumatherapeutische
Behandlung begeben würde. Auf den ersten Zugunfall im Februar 2000 habe der Kläger eine reaktive ängstlich-depressive Symptomatik
entwickelt, habe sich jedoch nach einer psychotherapeutischen Behandlung allmählich wieder stabilisieren und seine Tätigkeit
als Zugbegleiter bald wieder aufnehmen können. Die Beteiligung an dem zweiten Zugunglück im Mai 2003 habe der Kläger hingegen
psychisch nicht mehr angemessen verarbeiten können. Er habe mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung reagiert,
also einer psychischen Störung, die eindeutig im Zusammenhang mit den beiden erlittenen Zugunfällen stehe. Die aus der psychischen
Störung resultierende MdE werde ab Wegfall der arbeitsbedingten Arbeitsunfähigkeit im Juni 2003 mit 20 v. H. eingeschätzt.
Unter einer ambulanten traumatherapeutischen Behandlung, die Ende August 2004 in Berlin aufgenommen worden sei, sei es inzwischen
zu einer deutlichen Rückläufigkeit der Symptomatik gekommen. Zum Begutachtungszeitpunkt lasse sich nur noch eine leichte,
abklingende Restsymptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung feststellen. Im Alltag resultiere hieraus keine entschädigungsrelevante
Beeinträchtigung mehr. Eine signifikante intrusive Symptomatik lasse sich jetzt nicht mehr erkennen. Die traumaspezifische
Angstsymptomatik bzw. Vermeidung sei deutlich rückläufig. Lediglich bei den Schilderungen der Zugunfälle in der Begutachtungssituation
werde die psychische Betroffenheit noch deutlich spürbar. Außerhalb des Begutachtungskontextes könne sich der Kläger aber
inzwischen gut von den traumatischen Erinnerungen distanzieren. Die MdE werde dementsprechend ab dem Begutachtungszeitpunkt
auf unter 10 v. H. eingeschätzt. Die bei dem Kläger diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung sei im Sinne der erstmaligen
Entstehung mit Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis vom 29. Mai 2003 zurückzuführen. Als Vorschaden sei eine depressive Persönlichkeitsstruktur
mit altruistischen Zügen feststellbar. Bei der Persönlichkeitsstruktur handle es sich jedoch nicht um eine Erkrankung im eigentlichen
Sinne, sondern um eine Beschreibung des psychischen Verarbeitungsmodus. Psychische Symptome von Krankheitswert seien bei dem
Kläger vor den beiden Zugunfällen nicht dokumentiert. Die Selbstwertproblematik mit ängstlich-depressiver Entwicklung nach
beruflichem Ausscheiden im Mai 2004 sei jedoch vorrangig in der Persönlichkeit des Klägers begründet. Die diagnostizierte
posttraumatische Belastungsstörung lasse sich den "Belastungsstörungen mit emotionaler Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
in erheblichem Ausmaß mit insbesondere angstbestimmten Verhaltensweisen" zuordnen, die laut Mehrhoff/Meindl/Muhr (Unfallbegutachtung,
11. Auflage, Kapitel 4, Seite 258) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit zwischen 20 und 30 v. H. zu bewerten sei. Eine
MdE von 20 v. H. scheine somit für die vom Kläger berichteten und im Aktenmaterial auch dokumentierten Einschränkungen für
den Zeitraum ab Juni 2003 und bis zum Zeitpunkt der Begutachtung angemessen. Unter der erfolgten traumatherapeutischen Behandlung
sei die Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung inzwischen weitestgehend rückläufig, zum Begutachtungszeitpunkt
lasse sich nur noch eine Belastungsstörung in geringem Ausmaß und ohne wesentliche soziale Anpassungsschwierigkeiten feststellen,
die laut Fachliteratur mit einer MdE bis 10 v. H. zu bewerten sei.
Auch nachdem die Beklagte unter Berufung auf eine von ihr übersandte neurologisch-psychiatrische Stellungnahme des Dr. B vom
8. September 2007 Einwände gegen das Gutachten erhob, blieb die Sachverständige in einer ergänzenden Stellungnahme vom 25.
Oktober 2007 bei ihrer Einschätzung.
Mit Urteil vom 31. Juli 2008 hat das Sozialgericht Neuruppin die Klage abgewiesen und zur Begründung unter anderem ausgeführt,
unstreitig sei der Kläger durch den plötzlichen Zugstopp am 29. Mai 2003 einer starken Verunsicherung ausgesetzt gewesen.
Erst am 2. Juni 2003 habe der Kläger seinen Hausarzt aufgesucht, welcher daraufhin bei dem Kläger den Verdacht auf eine endogene
Depression mit akuter Entgleisung durch Trauma mit Entwicklung von Angst und Panikattacken diagnostiziert habe. Mit Datum
vom 21. August 2003 habe der den Kläger behandelnde Diplom-Psychologe D mit der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung
bei der Beklagten den Antrag auf eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gestellt. Diese Diagnose setze jedoch nach
den wissenschaftlich-medizinischen Leitlinien, die neben der Fachliteratur oder fundierten aktuellen Veröffentlichungen zur
Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes herangezogen werden könnten, ein entsprechend schweres Ereignis
voraus; nach der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (10. Revision,
Version 2007: ICD-10-GM 2007) sei unter ICD-10: F 43. 1 "ein belastendes außergewöhnliches Ereignis oder eine Situation kürzerer
oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde", erforderlich. Dies habe der Kläger jedoch selbst verneint. Er habe mit seinem Schreiben vom 25. März 2004
darauf hingewiesen, dass das Unfallereignis vom 29. Mai 2003 für ihn keine lebensbedrohliche Situation dargestellt habe. Dies
jedoch müsse im Zusammenhang mit dem ersten Unfallereignis vom 6. Februar 2000 gesehen werden, da die Entgleisung des Personenzuges
am Bahnhof Brühl mit hoher Geschwindigkeit, welche zu Todesopfern und vielen Verletzten unter den Fahrgästen geführt habe,
eine lebensbedrohliche Situation für ihn gewesen sei. Dem schließe sich auch die gerichtliche Sachverständige Dr. M an; nicht
jedoch die Kammer. Zur Überzeugung der Kammer leide die bei dem Kläger gestellte Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung,
also einer psychischen Störung, die nach den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen Dr. M eindeutig im Zusammenhang
mit den beiden erlittenen Zugunfällen stehe, an einer klaren Herausarbeitung der so genannten Primärpersönlichkeit des Klägers
und des Ausmaßes des hier angeschuldigten Ereignisses vom 29. Mai 2003. Bereits der im Verwaltungsverfahren mit der Begutachtung
des Klägers beauftragte Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. E habe unter anderem in seinem Gutachten vom 5. April 2004
darauf hingewiesen, dass der Kläger "psychobiografisch" vorbelastet und seinen Schilderungen nach bereits in den siebziger
Jahren aus psychischen Gründen vom Wehrdienst befreit worden sei. Eine konkrete Aufklärung darüber bleibe dem Gericht verwehrt.
Die Sachverständige Dr. M setze sich erst ab dem Zeitpunkt 28. Januar 2000 damit auseinander. Gleichwohl stelle die Sachverständige
unter anderem fest, im Vordergrund habe bei dem Kläger zunächst "- gemäß seiner depressiv strukturierten Primärpersönlichkeit
mit deutlich altruistischen Zügen - sein Verantwortungsgefühl, die Sorge um andere und das Funktionieren beziehungsweise Organisieren
gestanden". Danach aber habe bei dem Kläger bereits vor dem ersten Zugunglück im Jahr 2000 und sodann insbesondere vor dem
29. Mai 2003 eine depressive Symptomatik bestanden. Die Sachverständige Dr. M stelle dazu fest, nach dem ersten Zugunglück
vom Februar 2000 habe bei dem Kläger kein Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung, wohl aber eine reaktiv-depressive
Symptomatik mit Panikattacken vorgelegen. Und, auch wenn bei dem zweiten Zugunglück für den Kläger selbst keine unmittelbare
oder potentielle Lebensbedrohung bestanden habe, sei jedoch das Miterleben des tatsächlichen oder drohenden Todes oder der
ernsthaften Verletzung einer anderen Person nach traumatherapeutischen Erkenntnissen ausreichend, eine posttraumatische Belastungsstörung
auszulösen. Dem könne die Kammer nicht folgen. Das Ereignis vom 29. Mai 2003 stelle zur Überzeugung der Kammer lediglich eine
weitere Episode dar, die jedoch nicht so ausgeprägt gewesen sei, dass sie als länger dauernde Unfallfolge zu berücksichtigen
sei. Dieses Ereignis führe nicht zu einer qualitativ neuen psychopathologischen Symptomatik. Die Kammer folge hier nach eigener
Überzeugung den Ausführungen des Dr. E, der auf primär bestehende Eigenheiten der Persönlichkeitsstruktur bei der ängstlichen
und auch depressiven Verarbeitung der Unfallumstände 2000 und 2003 verwiesen habe. Auch in ihrer psychotherapeutisch-psychosomatischen
Stellungnahme vom 25. Oktober 2007 erfolge keine kritische Auseinandersetzung mit der Schwere und dem Krankheitsverlauf der
vorbestehenden Symptomatik. Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen Dr. M vermöge zur Überzeugung der Kammer die Persönlichkeitsstruktur
sowie die im persönlichen Umfeld neben dem angeschuldigten Ereignis von 2003 erlebten Belastungen das Auftreten der gegenwärtig
zu beobachtenden Störung zu erklären, wie dies Dr. E auch eingehend dargelegt habe. Danach jedoch könne auch zur Überzeugung
der Kammer der von der Sachverständigen Dr. M geschätzten MdE aufgrund der diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung
aufgrund des Ereignisses vom 29. Mai 2003 nicht gefolgt werden.
Gegen das ihm am 2. Oktober 2008 zugestellte Urteil richtet sich die am 3. November 2008, einem Montag, eingelegte Berufung
des Klägers.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 31. Juli 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.
Januar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2004 zu verurteilen, ihm aufgrund des Arbeitsunfalls
vom 29. Mai 2003 ab 2. Juni 2003 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v. H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils.
Die im Berufungsverfahren gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) als Sachverständige bestellte Ärztin für Psychiatrie/Psychotherapie und psychotherapeutische Medizin L hat in ihrem Gutachten
vom 4. Januar 2010 unter anderem ausgeführt, nach Berücksichtigung der ihr vorliegenden Unterlagen, der Gutachten und Gegengutachten
und der gültigen wissenschaftlichen Lehrmeinung komme sie zu dem Schluss, dass das Unfallereignis vom 29. Mai 2003 als ursächlich
für die Entstehung beziehungsweise Verschlimmerung der posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen sei. Die partielle posttraumatische
Belastungsstörung nach dem Unfallereignis in Brühl sei durch das Ereignis vom 29. Mai 2003 reaktiviert worden und führe jetzt
zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, die trotz intensiver (Trauma-)Therapie eine Rückkehr in den Beruf eines Zugbegleiters
nicht erlaube. Der Kläger sei auf einem Niveau stabilisiert, das die Arbeit auf der Straußenfarm zulasse, nicht aber Arbeiten,
die Fahrten mit einem Hochgeschwindigkeitszug notwendig machten oder das Risiko erneuter Traumakonfrontationen und Retraumatisierungen
in besonderem Maße mit sich brächten. Der Kläger leide damit an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die depressive
Persönlichkeitsstruktur habe an sich keinen Krankheitswert, vielmehr sei sie durch die altruistische Verarbeitung ich-stärkend.
Die akute subdepressive Verstimmung sei als Symptom der posttraumatischen Belastungsstörung zu werten. Die posttraumatische
Belastungsstörung sei durch den Unfall 2000 als partielle posttraumatische Belastungsstörung vorhanden gewesen. Sie habe zunächst
durch die alltägliche Arbeit und die damit verbundene Befriedigung weitgehend kompensiert werden können. Durch den Unfall
2003, bei dem einige Elemente des ersten Unfalls wieder aufgetreten seien (plötzliches Bremsen, Personenschaden, Beule am
Zug, Blut, Kollege außer Fassung) sei dieser Unfall wie eine Wiederholung oder gar Verstärkung des ersten Unfalls erlebt worden,
damit wie eine unvermeidbare Wiederholung, die das Verarbeitungsvermögen und die Kompensationsmechanismen überfordert habe.
Die von den (medizinischen) Kollegen ursächlich genannte primäre Persönlichkeitsstörung könne von ihr nicht bestätigt werden.
Vielmehr habe der Kläger mehrere Lebenskrisen ohne sichtbare Schwierigkeiten oder Störungen überwunden. Auch nachdem deutlich
geworden sei, dass er seinen Beruf als Zugbegleiter nicht mehr werde ausführen können, habe er neue Perspektiven gesucht und
gefunden, die seinem Leistungsvermögen gerecht würden. Im Übrigen könnten vorbestehende Neurosen eine posttraumatische Belastungsstörung
nicht auslösen. Der Kläger habe eine depressive Persönlichkeitsstruktur, die aber keinen Krankheitswert besitze, sondern sowohl
in seinem Beruf als Zugbegleiter als auch in der Arbeit auf der Straußenfarm gut kompensiert werden könne. Diese Persönlichkeitsstruktur
habe wohl kaum Einfluss auf die posttraumatische Belastungsstörung. Die Symptome (depressive Stimmung, Verzweiflung, Panik,
Selbstunsicherheit, Intrusionen, Vermeidung) seien hier eher Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie in
jedem Lehrbuch aufgeführt würden. Als Vorschaden komme insofern ursächlich nur der Unfall vom 6. Februar 2000 in Betracht.
Eine Verschlimmerung der dadurch bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung wäre ohne das Ereignis 2003 nicht eingetreten.
Die Traumatherapie sei abgeschlossen. Die posttraumatische Belastungsstörung sei unter den reduzierten Bedingungen (Vermeidung
von Hochgeschwindigkeitszügen, auch vom Verfolgen von Nachrichten über Unfälle oder Unregelmäßigkeiten) kompensiert. Eine
weitere Besserung könne in absehbarer Zeit nicht erwartet werden. Der Kläger sei aber in der Lage, seiner Arbeit auf der Straußenfarm
nachzugehen. Die Funktionseinschränkungen würden in der Unfähigkeit resultieren, mit der Bahn zu fahren, soweit es sich nicht
um Nahverkehrszüge handle, in einer erhöhten Stressanfälligkeit, die immer wieder zu kurzen aber prägnanten Einbrüchen führe,
sowie in gewissen sozialen Einschränkungen. Der Kontakt mit Menschen, die auf den Hof kommen würden, sei aber gut möglich.
Vermieden würden Gespräche, die an das Trauma erinnern könnten. Die arbeitsbedingte Arbeitsunfähigkeit sei in dem Moment weggefallen,
in dem der Kläger berentet worden sei. Sie würde die MdE zu diesem Zeitpunkt auf 30 v. H. ansetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt
sehe sie aufgrund der genannten Einschränkungen immer noch eine MdE von 20 v. H.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Az. ...) verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und teilweise begründet. Er hat wegen der Unfallfolgen
einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. für die Zeit vom 2. Juni 2003 bis zum 25. Juni
2007.
Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist §
56 SGB VII. Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die sechsundzwanzigste Woche nach
dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.
Unstreitig hat der Kläger am 29. Mai 2003 einen Arbeitsunfall erlitten, den die Beklagte mit dem Bescheid vom 20. Januar 2004
anerkannt hat. Die Beklagte ist bei ihm auch davon ausgegangen, dass bis zum 1. Juni 2003 Arbeitsunfallfolgen in Form einer
akuten Belastungsreaktion vorlagen. Nach Auffassung der Beklagten waren die über den 1. Juni 2003 hinaus bestehenden psychischen
Beschwerden jedoch nicht auf das Ereignis vom 29. Mai 2003 zurückzuführen, es handle sich dabei um unfallunabhängig bestehende
Erkrankungen.
Dem kann sich der Senat hinsichtlich der Nichtgewährung von Leistungen ab 02. Juni 2003 nicht anschließen. Der Kläger litt
auch über den 02. Juni 2003 hinaus unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dies folgt aus den schlüssigen und nachvollziehbaren
Sachverständigengutachten der Ärztin L und der Dr. M, die nachvollziehbar dargelegt haben, dass die bei dem Kläger festgestellten
Symptome depressive Stimmung, Verzweiflung, Panik, Selbstunsicherheit, Intrusionen und Vermeidung geradezu lehrbuchhaft den
Symptomen einer solchen Erkrankung, die sie nach dem ICD-10 entsprechend bezeichnet haben (F 43.1), entsprechen. Gestützt
wird diese Diagnose auch durch die Befunde der den Kläger behandelnden Dipl.-Psych. D, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie
G und der den Kläger für die zuständige Rentenversicherung begutachtenden Chefärztin Dr. B.
Danach steht für den Senat fest, dass der Kläger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1 ICD-10) leidet.
Zur Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Folge eines Versicherungsfalles muss zwischen dem Unfallereignis
und den geltend gemachten Unfallfolgen entweder mittels des Gesundheitserstschadens (z. B. bei einem Sprunggelenksbruch, der
zu einer Versteifung führt) oder direkt (z. B. bei einer Amputationsverletzung) ein Ursachenzusammenhang nach der im Sozialrecht
geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen (BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, Az. B 2 U 1/05 R, zitiert nach Juris).
Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie auf der naturwissenschaftlich-philosophischen
Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden
kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen
Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen
solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird,
und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.
Da Verschulden bei der Prüfung eines Versicherungsfalles in der gesetzlichen Unfallversicherung unbeachtlich ist, weil verbotswidriges
Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließt (§ 7 Abs. 2SGB VII), erfolgt im Sozialrecht diese Unterscheidung und Zurechnung
nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Nach dieser werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen,
die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich
ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt
des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSG Urteil vom 10. Juni 1955, Az. 10 RV 390/54, BSGE 1, 72, 76). Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet:
Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich
war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder
"annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende
Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben)
(BSG Urteil vom 11. Dezember 1963, Az. 5 RKn 31/60, SozR Nr. 69 zu § 542 a. F.
RVO; BSG Urteil vom 12. Februar 1970, Az. 7/2 RU 262/67, SozR Nr. 6 zu § 589
RVO; vgl. Krasney in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2006, §
8 RdNr. 314, Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, Kapitel 1.5, S 24 f.). Ist jedoch
eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur
die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSG Urteil vom 30. Juni 1960,
Az. 2 RU 86/56, BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr. 27 zu § 542
RVO; BSG Urteil vom 12. Februar 1970, Az. 7/2 RU 262/67, SozR Nr. 6 zu § 589
RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich"
anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet,
kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSG Urteil vom 27. Oktober
1987, Az. 2 RU 35/87, BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10; BSG Urteil vom 31. Juli 1985, Az. 2 RU 74/84, SozR 2200 § 548 Nr. 75; BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 jeweils RdNr. 11). Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen
einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage
so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art
unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit
die Erscheinung ausgelöst hätte (BSG Urteil vom 27. Oktober 1987, Az. 2 RU 35/87, BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10; BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 jeweils RdNr. 11; ähnlich Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO.). Bei der Abwägung kann der Schwere
des Unfallereignisses Bedeutung zukommen.
Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten
Ursache bzw. dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache
unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens - aber eine Ursache ist nicht deswegen
wesentlich, weil sie die letzte war -, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden
und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen
sein (vgl BSG Urteil vom 19. September 1974, Az. 8 RU 236/73, BSGE 38, 127, 129 = SozR 2200 § 548 Nr 4; BSG Urteil vom 09. Dezember 2003, B 2 U 8/03 R, SozR 4-2200 § 589 Nr. 1).
Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten
Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt (vgl zu den Unterschieden BSG Urteil vom 28. Juni 1988, Az. 2/9b RU 28/87, BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91; Krasney in Brackmann, aaO., § 8 RdNr. 312), bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine
Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht zu berücksichtigen oder bei ihr
entbehrlich wären (vgl. schon BSG Urteil vom 12. Februar 1970, Az. 7/2 RU 262/67, SozR Nr. 6 zu § 589
RVO). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von
Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt
eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder
seelische Störung hervorzurufen. Es geht dabei nicht um die Ablösung der für das Sozialrecht kennzeichnenden individualisierenden
und konkretisierenden Kausalitätsbetrachtung durch einen generalisierenden, besondere Umstände des Einzelfalls außer Betracht
lassenden Maßstab, sondern um die Bekräftigung des allgemeinen beweisrechtlichen Grundsatzes, dass die Beurteilung medizinischer
Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aufbauen muss (BSG Urteil vom 19. März
1986, Az. 9a RVi 2/84, SozR 3850 § 51 Nr. 9; BSG Urteil vom 10. Dezember 1987, Az. 9a RV 36/85, SozR 1500 § 128 Nr. 31; BSG
Urteil vom 17. Dezember 1997, Az. 9 RVi 1/95, SozR 3-3850 § 52 Nr. 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens,
4. Aufl 2005, III RdNr. 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., Kap 5.1.15.2, S 154).
Dieser wissenschaftliche Erkenntnisstand ist jedoch kein eigener Prüfungspunkt bei der Prüfung des Ursachenzusammenhangs,
sondern nur die wissenschaftliche Grundlage, auf der die geltend gemachten Gesundheitsstörungen des konkreten Versicherten
zu bewerten sind (vgl. BSG Urteil vom 18. Dezember 1962, Az. 2 RU 189/59, BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr. 61 zu § 542
RVO). Bei dieser einzelfallbezogenen Bewertung kann nur auf das individuelle Ausmaß der Beeinträchtigung des Versicherten abgestellt
werden, aber nicht so, wie er es subjektiv bewertet, sondern wie es objektiv ist. Die Aussage, der Versicherte ist so geschützt,
wie er die Arbeit antritt, ist ebenfalls diesem Verhältnis von individueller Bewertung auf objektiver, wissenschaftlicher
Grundlage zuzuordnen: Die Ursachenbeurteilung im Einzelfall hat "anhand" des konkreten individuellen Versicherten unter Berücksichtigung
seiner Krankheiten und Vorschäden zu erfolgen, aber auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes.
Diese vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 09. Mai 2006 (Az. B 2 U 1/05 R, zitiert nach Juris) ausführlich dargelegten Grundlagen der Theorie der wesentlichen Bedingung gelten für alle als Unfallfolgen
geltend gemachten Gesundheitsstörungen und damit auch für psychische Störungen.
Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente
aufgrund von ihnen ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen,
die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern (BSG Urteil vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84, zitiert nach Juris; vgl. BSG Urteil vom 19. August 2003 - B 2 U 50/02 R, zitiert nach Juris). Dies ist vorliegend die bereits oben beschriebene posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1 ICD-10),
die auch im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung hinreichend wahrscheinlich auf den Unfall des Klägers vom 29. Mai
2003 zurückzuführen ist.
Zur Überzeugung des Senates hat der Kläger durch den im Februar 2000 erlebten gravierenden Arbeitsunfall zunächst eine partielle
posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die folgenlos ausgeheilt war. Nach Aussage der Sachverständigen L hatte der
Kläger den ersten Unfall mit Hilfe einer Verhaltenstherapie recht gut bewältigen können. Dem entspricht, dass die Beklagte
bleibende Folgen dieses Unfalls nicht festgestellt und demgemäß auch nicht anerkannt hatte.
Durch den Unfall vom 29. Mai 2003 zeigte sich nun das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die eigentliche
Dekompensation des Klägers wurde dabei erst durch den zweiten streitgegenständlichen Unfall ausgelöst. Die Umstände dieses
Unfalles, die Beule an der Lok, die Blutspuren und der um Fassung ringende Zugführer wirkten nach dem für den Senat auch insoweit
schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachten der Ärztin L, als Trigger, also als Elemente, die das Wiedererleben
einer traumatischen Situation hervorrufen. Dies bedeutet, dass die traumatisierte Person sich so fühlt, als befände sie sich
in der alten traumatischen Situation. Ursache dafür, dass es zu einem Wiedererleben kommen konnte, war damit zwar der Unfall
vom 06. Februar 2000, der selbstverständlich nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das Wiedererleben entfiele. Nach den
oben dargelegten Grundsätzen kann es jedoch mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist dann allein
relevant, ob das (jetzige) Unfallereignis auch wesentlich war. Von überragender Bedeutung für die Ausbildung des Vollbildes
einer posttraumatischen Belastungsstörung war danach der zweite Unfall, denn die Gesundheitsstörungen des ersten Unfalles
waren auch nach Ansicht der Beklagten folgenlos ausgeheilt.
Das Ereignis vom 29. Mai 2003 war auch nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand geeignet eine posttraumatische Belastungsstörung
auszulösen, denn es erfüllte auch das so genannte "A-Kriterium". Zutreffend haben sowohl die Sachverständige Dr. M als auch
die Sachverständige L ausgeführt, dass der Unfall aus dem Jahr 2003 nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern vor dem
Hintergrund der beim Unfall am 6. Februar 2000 gemachten Erfahrungen des Klägers bewertet werden muss. Dem entspricht, dass
das Bundessozialgericht (Urteil vom 09. Mai 2006, Az. B 2 U 1/05 R, zitiert nach Juris) ausführt, dass der Versicherte so geschützt ist, wie er die Arbeit antritt. Es ist für den Senat nachvollziehbar,
dass das Ereignis vom 29. Mai 2003, in dem es objektiv betrachtet für den Kläger sowie für alle anderen Fahrgäste zunächst
lediglich zu einer Vollbremsung des Zuges auf freier Strecke kam, vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Erfahrungen des
Unfalls vom 6. Februar 2000, bei dem neun Menschen ums Leben kamen und die Hälfte der 300 mitreisenden Passagiere verletzt
wurden, bei dem Kläger zu ganz anderen Empfindungen und Wahrnehmungen führte, als dies bei einer nicht vorgeschädigten Person
der Fall gewesen wäre.
Nach alledem sind zur Überzeugung des Senats die bei dem Kläger vorliegenden psychischen Beeinträchtigungen (auch) Folge der
posttraumatische Belastungsstörung und auch über den 2. Juni 2003 hinaus hinreichend wahrscheinlich auf den Arbeitsunfall
vom 29. Mai 2003 zurückzuführen.
Der Bewertung des Arbeitsunfalls vom 29. Mai 2003 als wesentliche (Teil-)Ursache der beim Kläger noch bis zur Untersuchung
durch die Sachverständige Dr. M bestehenden psychischen Einschränkungen steht auch nicht die offenbar bestehende Vulnerabilität
für psychische Erkrankungen des psychiatrischen Formenkreises entgegen. Zwar hat bereits Dr. E darauf hingewiesen, dass die
vorzeitige Beendigung des Wehrdienstes wegen psychiatrischer Probleme, die Befassung mit der eigenen Homosexualität, die nach
den Angaben des Klägers gegenüber Dr. B zum Verlassen von Familie und Ehefrau durch Flucht in die Bundesrepublik geführt hat,
und der Tod des HIV-infizierten Lebenspartners 1993 nicht ohne psychiatrische Probleme abgegangen sein dürften. Die nachgewiesene
psychiatrische Behandlung in der ehemaligen DDR von 1981 bis 1988 ist ein Indiz dafür. Allerdings schließt dies - wie die
Beklagte offenbar meint - aber nicht aus, dass ein traumatisches Ereignis jedenfalls vorübergehend zu einer wesentlichen Ursache
für die Folgen einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung nach F 43.1 ICD-10 wird. So liegt es hier. Dementsprechend
hat auch die Sachverständige Dr. M eine Anpassungsstörung mit ängstlich-depressiver Entwicklung bei depressiver Persönlichkeitsstruktur
mit altruistischen Zügen als unfallfremde Gesundheitsstörungen diagnostiziert. Diese Erkrankungen, die letztlich zur Berentung
wegen voller Erwerbsminderung geführt haben, schließen aber das Bestehen von Unfallfolgen nicht aus, sie sind vielmehr von
diesen zu trennen. So bedarf die unfallunabhängige ängstlich-depressive Symptomatik auch nach Auffassung der Sachverständigen
L weiter psychotherapeutischer Behandlung.
Zur Überzeugung des Senats betrug die MdE lediglich vom 02. Juni 2003 bis zum 25. Juni 2007 20 v. H.; seither lässt sich eine
MdE in rentenberechtigendem Grade nicht mehr feststellen.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Versicherungsfalles
bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§
56 Abs.
2 SGB VII). Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG,
Urteil vom 29. November 1956, Az: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149; Urteil vom 27. Juni 2000, Az: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7; Urteil vom 02. Mai 2001, Az: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Dabei sind die medizinischen und sonstigen Erfahrungssätze ebenso zu beachten wie die Gesamtumstände
des Einzelfalles (vgl. BSG, Urteil vom 02. Mai 2001, Az. B 2 U 24/00, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Wie weit die Unfallfolgen bzw. die Folgen der anerkannten Berufskrankheit die körperlichen und
geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet.
Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie
versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht
binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der
täglichen Praxis (BSG, Urteil vom 26. Juni 1985, Az: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr. 23; Urteil vom 26. November 1987, Az: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27; Urteil vom 30. Juni 1998, Az: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, §
56 SGB VII Rn. 10.3). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der
medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach einheitlichen
Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE (vgl.
BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500 ff.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die MdE wie dargestellt zu bemessen. Der Senat folgt hinsichtlich der Einschätzung der
MdE dem Gutachten der Sachverständigen Dr. M. In der einschlägigen unfallrechtlichen Literatur werden folgende Abstufungen
gebildet (Mehrhoff/Meindl/Muhr: Unfallbegutachtung, 12. Auflage, 2010, Kapitel 4.4, S. 252; ähnlich Schönberger/Mehrtens/Valentin,
aaO., Kapitel 5.1, S. 157):
Belastungsstörung mit emotionaler Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
in geringerem Ausmaß, allgemeiner Leidensdruck auch mit leichteren vegetativen Beschwerden, ohne wesentliche soziale Anpassungsschwierigkeiten
|
bis 10 v. H.
|
in stärkerem Ausmaß, insbesondere mit sozial-kommunikativer Beeinträchtigung
|
10-20 v. H.
|
in erheblichem Ausmaß, insbesondere mit starker sozial-kommunikativer Beeinträchtigung, auch angstbestimmten Verhaltensweisen
|
20-30 v. H.
|
in schwerem Ausmaß, insbesondere mit starker sozial-kommunikativer Beeinträchtigung, Angstzuständen und ausgeprägtem Vermeidungsverhalten,
Antriebsminderung, vegetativer Übererregtheit (unter Umständen mit körperlicher Symptomatik)
|
30-50 v. H.
|
Bei dem Kläger lag in der Zeit vom 02. Juni 2003 bis zum 25. Juni 2007 eine Belastungsstörung in stärkerem Ausmaß vor, so
dass die MdE mit 20 v. H. zutreffend zu bewerten war. Eine Belastungsstörung mit erheblichem Ausmaß lässt sich dagegen entgegen
der Ansicht der Sachverständigen L nicht feststellen. Bereits der Gutachter Dr. E hat in seinem Gutachten von April 2004 ausgeführt,
dass der Kläger ein Fitnessstudio besucht und sich viel abverlange, wie seine verschwielten Hände zeigen würden. Anlässlich
der Untersuchung durch die Sachverständige Dr. M ließ sich lediglich noch eine Restsymptomatik, d. h. eine Belastungsstörung
in geringem Ausmaß feststellen, die allenfalls noch eine MdE von 10 v. H. bedingt. Insbesondere verkennt die Ärztin L, dass
bei dem Kläger als Vorschaden nicht nur das Ereignis vom 06. Februar 2000 in Betracht kommt. Sie selbst hat eine unfallunabhängige,
behandlungsbedürftige, psychiatrische Erkrankung festgestellt. Der Senat hat bereits oben auf die weiteren Probleme des Klägers
und eine etwa siebenjährige Behandlung in der ehemaligen DDR durch eine Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie hingewiesen.
Sowohl Dr. E als auch Dr. M haben hiermit zusammenhängende und damit unfallfremde psychiatrische Erkrankungen festgestellt,
die bei der Bildung der MdE nicht berücksichtigt werden dürfen. Dauerhafte Unfallfolgen bestehen daher nicht.
Die Einwände der Beklagten, dass entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG Urteil vom 19. August 2003,
Az. B 4 U 50/02 R) jeder Arbeitsunfall für sich betrachtet werden müsse und keine Gesamt-MdE gebildet werden dürfe, ist zwar grundsätzlich
zutreffend, führt im vorliegenden Fall jedoch zu keinem anderen Ergebnis. Die Sachverständigen haben keineswegs eine Gesamt-MdE
auf der Grundlage beider Arbeitsunfälle gebildet, sondern lediglich ausgeführt, dass die Psyche des Klägers durch den ersten
Unfall im Sinne einer partiellen posttraumatischen Belastungsstörung vorgeschädigt war, sich die Beschwerden jedoch durch
die Verhaltenstherapie zurückgebildet haben und sich nunmehr durch den zweiten Unfall am 29. Mai 2003 das Vollbild einer posttraumatischen
Belastungsstörung entwickelt und gezeigt hat. Erkennbar hat keine der beiden Sachverständigen dabei eine Gesamt-MdE gebildet,
sondern die Einschränkungen des Klägers aufgrund des Unfalls vom 29. Mai 2003 bestimmt und gewürdigt. Vor diesem erneuten,
zweiten Unfall ließen sich andauernde Unfallfolgen des ersten Unfalles nicht feststellen, wovon auch die Beklagte ausgeht,
wie sich der beigezogenen Akte hinsichtlich dieses Unfalls (Aktenzeichen 2000 000 6 000) entnehmen lässt.
Nach alledem ist der Berufung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben. Im Übrigen ist sie zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in §
193 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG genannten Gründe vorliegt.