Sitzverlegung in der vertragspsychotherapeutischen Versorgung in ein überversorgtes Gebiet im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes
im sozialgerichtlichen Verfahren; Anforderungen an eine Anordnung der sofortigen Vollziehung
Gründe:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2014 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat auf Antrag der Antragstellerin zu Unrecht die sofortige Vollziehung des Bescheides
des Antragsgegners vom 05. November 2013 angeordnet, mit dem der Antragsgegner die Verlegung des vertragspsychotherapeutischen
Sitzes der Antragstellerin von Pallee Berlin-Neukölln nach F-W-Straße Berlin-Tempelhof/Schöneberg zum 01. Dezember 2013 genehmigt
hat.
1.) Nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung
haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Im vorliegenden Fall hatte die Klage der Beigeladenen gegen
den Bescheid des Antragsgegners vom 05. November 2013 aufschiebende Wirkung [vgl. §
97 Abs.
4 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V)] mit der Folge, dass die Antragstellerin von der Genehmigung bis zum Eintritt der Bestandskraft des Genehmigungsbescheides
grundsätzlich keinen Gebrauch machen durfte, solange der Antragsgegner gemäß §
97 Abs.
4 SGB V oder das Sozialgericht gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG die sofortige Vollziehung des Bescheides nicht anordnete. Während der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Genehmigungsbescheides
ausschließlich im öffentlichen Interesseanordnen darf, kann das Sozialgericht - wie hier auch geschehen - die sofortige Vollziehung
sowohl aus Gründen des öffentlichen Interesses als auch dann anordnen, wenn sie im überwiegenden Interesse eines Beteiligten
erforderlich ist (vgl. hierzu §
86a Abs.
2 Nr.
5 SGG). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht vor. Die Anordnung der sofortigen
Vollziehung ist weder aus Gründen des öffentlichen Interesses noch wegen des Vorliegens überwiegender Interessen der Antragstellerin
geboten.
2.) Welche Anforderungen an das Vorliegen öffentlicher oder überwiegender privater Interessen für die Anordnung der sofortigen
Vollziehung eines Verwaltungsaktes bei der von den Sozialgerichten vorzunehmenden Interessenabwägung zu stellen sind, hängt
zunächst davon ab, ob sich der Verwaltungsakt im Rahmen der Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren als (offensichtlich)
rechtmäßig erweist oder ob das Obsiegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren unsicher ist; ist der Verwaltungsakt offensichtlich
rechtswidrig, scheidet die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides aus. Denn an der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht weder ein öffentliches noch ein überwiegendes privates Interesse. Erweist sich
der Verwaltungsakt als rechtmäßig, sind die Anforderungen an das Vorliegen eines öffentlichen oder eines überwiegenden privaten
Interesses als Voraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung geringer als wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens
zum Zeitpunkt der Entscheidung der Sozialgerichte offen ist: Im letzten Fall sind an das Vorliegen eines öffentlichen Interesses
oder eines überwiegenden privaten Interesses hohe Anforderungen zustellen, weil der Gesetzgeber in §§
96 Abs.
4 Satz 2 und
97 Abs.
4 SGB V als Regelfall das Eintreten des Suspensiveffekts bestimmt hat. Nur wenn das öffentliche oder ein überwiegendes privates Interesse
die Anordnung der sofortigen Vollziehung dringend gebieten, weil die Versorgung der Versicherten ansonsten nicht sichergestellt
erscheint oder der betroffene Vertragsarzt oder Vertragspsychotherapeut in seiner beruflichen Existenz aus einem Grund gefährdet
ist, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt, kommt eine Anordnung der sofortigen Vollziehung in Betracht. Diese Voraussetzungen
liegen hier ersichtlich nicht vor.
a) Der Ausgang der Hauptsache ist völlig offen. Wie der Senat in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2013 (L 7 KA 77/13 B ER, zitiert nach juris) entschieden hat, ist sozialgerichtlich noch ungeklärt, von welchen tatsächlichen und rechtlichen
Voraussetzungen nach der seit dem 01. Januar 2013 geltenden Rechtslage ein Anspruch eines Vertragsarztes auf Genehmigung der
Verlegung seines Sitzes von einem Verwaltungsbezirk im Zulassungsbezirk Berlin in einen anderen abhängt. Zwar mag einiges
dafür sprechen, dass der Antragsgegner die vom LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Beschluss vom 15. Oktober 2009(L 3 KA 73/09 B ER, zitiert nach juris) genannten Gesichtspunkte berücksichtigen muss. Es ist jedoch unter Bezugnahme auf das Urteil des
BSG vom 10. Mai 2000 (B 6 KA 67/98 R, zitiert nach juris) darauf hinzuweisen, dass es auch beachtliche Gründe für den Rechtsstandpunkt der Beigeladenen gibt,
eine Verlegung von einem deutlich schlechter versorgten Verwaltungsbezirk in einen besser versorgten auszuschließen (hier
Versorgungsgrad Neukölln: 104,4 %; Versorgungsgrad Tempelhof/Schöneberg: 328,3 %).
b) Vor diesem Hintergrund kommt eine Anordnung der sofortigen Vollziehung des Genehmigungsbescheides im vorliegenden Fall
nur dann in Betracht, wenn ohne sie die Versorgung der Versicherten in Gefahr wäre oder die berufliche Existenz der Antragstellerin
die sofortige Verlegung ihres Vertragspsychotherapeutensitzes an den Ort des Genehmigungsbescheides erfordern würde. Für das
Vorliegen entsprechender Tatsachen gibt es jedoch keine Anhaltspunkte.
c) Der Bezirk Tempelhof/Schöneberg ist bereits erheblich überversorgt. Weder die Antragstellerin noch der Antragsgegner haben
auch nur geltend gemacht, dass die psychotherapeutische Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung von
der sofortigen Sitzverlegung der Antragstellerin abhängig sei. Da die von der Antragstellerin an ihrem bisherigen Sitz behandelten
Patienten aus mindestens sechs Berliner Stadtbezirken und aus dem Brandenburger Umland kamen, ist auch aus der Versorgungsstruktur
des Patientengutes der Antragstellerin kein überzeugender Grund für das Vorliegen eines öffentlichen oder überwiegenden privaten
Interesses abzuleiten; das gilt erst recht für die von ihr geäußerte Absicht, am neuen Praxissitz gruppentherapeutisch tätig
zu werden, weil bereits jeweils drei andere Psychotherapeuten in dem von ihr angebotenen Richtlinienverfahren "Verhaltenstherapie"
in Neukölln und Tempelhof/Schöneberg Gruppentherapien anbieten und ein darüber hinausgehender Bedarf weder behauptet noch
glaubhaft gemacht worden ist.
d) Schließlich kann auch aus dem Ablauf des Widerspruchsverfahrens kein Grund hergeleitet werden, der eine sofortige Sitzverlegung
unumgänglich erscheinen ließe, wie das Sozialgericht meint. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin mit Bescheid vom 05.
November 2013 die Genehmigung zur Sitzverlegung erteilt; dieser Bescheid wurde ihr erst am 03. Dezember 2013 bekanntgegeben
und damit erst zu diesem Zeitpunktwirksam [vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X)]. Außerdem musste die schon im Widerspruchsverfahren von ihrem jetzigen Verfahrensbevollmächtigten anwaltlich vertretene
Antragstellerin damit rechnen, dass die Beigeladene - wie hier geschehen - gegen den Genehmigungsbescheid Klage erheben würde,
zumal diese im Widerspruchsverfahren einer Erteilung der Genehmigung schriftsätzlich entgegengetreten war. Ein schutzwürdiges
Vertrauen konnte sich deshalb unbeschadet des sonstigen Verhaltens der Verfahrensbeteiligten erst nach dem Verstreichen der
Klagefrist bilden, sofern der Genehmigungsbescheid unangefochten geblieben wäre. Tatsächlich hat die Antragstellerin aber
den Mietvertrag für die Räume ihres bisherigen Vertragspsychotherapeutensitzes schon am 18. November 2013 zum 30. November
2013 gekündigt, einen Mietvertrag für die Räume des neuen Sitzes bereits am 17. November 2013 zum 01. Dezember 2013 abgeschlossen
und ihre Tätigkeit zum 01. Dezember 2013 am Ort des neuen Sitzes aufgenommen, obwohl sie dazu noch gar nicht berechtigt war
und bei der Aushändigung ihres Vertragspsychotherapeutenstempels für den neuen Sitz am 26. November 2013 auch schriftlich
auf die oben dargestellte Rechtslage ausdrücklich hingewiesen worden ist. Deshalb kann sie aus den mündlichen Auskünften von
Mitarbeitern des Antragsgegners und der Aushändigung des Vertragspsychotherapeutenstempels kein schutzwürdiges Vertrauen herleiten.
Sie hat ihren bisherigen Vertragsarztsitz vielmehr auf eigenes Risiko aufgegeben, ohne auch nur den Eintritt der Wirksamkeit
der Entscheidung zur Begründung eines neuen Sitzes abzuwarten, obwohl der Sitz in Neukölln bis zum rechtskräftigen Abschluss
des sozialgerichtlichen Verfahrens der einzige Ort ist, an dem sie ihre vertragspsychotherapeutische Tätigkeit ausüben darf.
Sie muss sich deshalb vorhalten lassen, dass sie versucht hat, sich gegen die Rechtslage Vorteile durch die Herbeiführung
"vollendeter Tatsachen" zu verschaffen. Darin darf sie durch die Sozialgerichte nicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung
einer Genehmigung der Sitzverlegung unterstützt zu werden.
Angesichts dieser Gesichtspunkte bedurfte es keiner Klärung durch den Senat, ob aus dem Verhalten einzelner Mitarbeiter des
Antragsgegners vor dem Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom 05. November 2013 überhaupt und bejahendenfalls unter
welchen Voraussetzungen ein schutzwürdiges Vertrauen zu Gunsten der Antragstellerin und zu Lasten der Beigeladenen abgeleitet
werden könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a SGG,
154 Abs.
1 VwGO und entspricht dem Ausgang in der Sache. Die Wertfestsetzung beruht auf §§ 52, 53 GKG und orientiert sich an der bereits zitierten Entscheidung des Senats vom 25. Oktober 2013.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (vgl. §
177 SGG).