Gründe:
I. Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten höheres Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III).
Die 1969 geborene Klägerin meldete sich am 31. August 2006 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Vom
1. Februar 2003 bis zum 31. August 2004 übte sie eine selbständige Tätigkeit als Finanzberaterin aus. Vom 1. September 2004
bis zum 30. September 2005 war die Klägerin als Finanzmanagerin bei einer Firma in der Schweiz beschäftigt. Ausweislich der
Bescheinigung "E 301" erzielte sie dort einen Monatsverdienst in Höhe von brutto 17.678,00 Schweizer Franken (CHF).
Mit Bescheid vom 10. Oktober 2006 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld für 180 Tage ausgehend von einem Bemessungsentgelt
in Höhe von 98,00 Euro täglich in Höhe von 35,09 Euro täglich. Dabei berücksichtigte die Beklagte ein fiktives Bemessungsentgelt
nach §
132 SGB III. Die Vorschrift in der ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23. Dezember 2005 (BGBl. I 2848) lautet:
(1) Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten
Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen.
(2) Für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgelts ist der Arbeitslose der Qualifikationsgruppe zuzuordnen, die der beruflichen
Qualifikation entspricht, die für die Beschäftigung erforderlich ist, auf die die Agentur für Arbeit die Vermittlungsbemühungen
für den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat. Dabei ist zugrunde zu legen für Beschäftigungen, die 1. eine Hochschul-
oder Fachhochschulausbildung erfordern (Qualifikationsgruppe 1), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel der
Bezugsgröße,
Die Bezugsgröße in der Sozialversicherung beträgt nach § 2 Abs. 1 Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2006 vom 21.
Dezember 2005 (BGBl. I 3627) im Jahr 2006 29.400 Euro jährlich und 2.450 Euro monatlich.
Die Klägerin legte Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. Oktober 2006 ein. Sie ist der Auffassung, der Berechnung des Arbeitslosengeldes
sei das von ihr zuletzt in der Schweiz erzielte Einkommen zugrunde zu legen. Widerspruch und Klage (vor dem Sozialgericht)
blieben erfolglos. Das Sozialgericht hat im Urteil vom 29. Juli 2009 ausgeführt, die Beklagte habe der Berechnung des Arbeitslosengeldes
nach §
132 SGB III zu Recht ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde gelegt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin in der Schweiz habe am 30. September
2005 geendet. Innerhalb des zweijährigen Bemessungsrahmens, der sich vom 1. Oktober 2003 bis zum 30. September 2005 erstrecke,
habe die Klägerin nicht mindestens 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt aufzuweisen. Sie habe zwar in der Schweiz mehr
als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt zurückgelegt. Diese Beschäftigungszeit in der Schweiz führe aber nicht dazu,
dass das Arbeitslosengeld auf der Grundlage des dort erzielten Verdienstes berechnet werde. Dem stehe Art. 68 EWG-VO 1408/71
entgegen. Diese Verordnung sei auch im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Schweiz anwendbar. Insoweit gelte das
am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten einerseits und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über Freizügigkeit (so genanntes Sektoralabkommen). Damit würden ab 1.
Juni 2002 für die vom persönlichen Geltungsbereich des Sektoralabkommens erfassten Personen die EWG-Verordnung über soziale
Sicherheit und nicht mehr das deutsch-schweizerische Sozialversicherungsabkommen gelten. Nach Art. 68 Abs.1 EWG-VO 1408/71
berücksichtige der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Vorschriften bei der Berechnung der Leistungen die
Höhe des früheren Entgelts zugrunde zu legen sei, ausschließlich das Entgelt, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung
im Gebiet dieses Staates erhalten habe. Habe jedoch seine letzte Beschäftigung dort weniger als vier Wochen gedauert, so würden
die Leistungen auf der Grundlage des Entgelts berechnet, das am Wohnort oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen für eine Beschäftigung
üblich sei, die der Beschäftigung, die er zuletzt im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaats ausgeübt habe, gleichwertig oder
vergleichbar sei. So verhalte es sich hier. Innerhalb des Bemessungsrahmens sei die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland
nicht mindestens vier Wochen beschäftigt gewesen. Dies führe nach der EWG-VO 1408/71 dazu, dass als Bemessungsentgelt ein
fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen sei. Für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgelts sei der Arbeitslose entsprechend
seiner beruflichen Qualifikation einer bestimmten Qualifikationsgruppe zuzuordnen. Die Beklagte habe die Klägerin in die höchste
Qualifikationsstufe eingeordnet, so dass die Berechnung insgesamt nicht zu beanstanden sei. Ein Verstoß gegen Abkommen mit
der EU bzw. der Schweiz liege nicht vor.
Gegen das am 27. August 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 25. September 2009 bei dem Hessischen Landessozialgericht
Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, es sei nicht Art. 68, sondern Art. 71 EWG-VO 1408/71 anzuwenden. Sie
dürfe als Arbeitnehmerin, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt gewesen sei, gegenüber inländischen Arbeitnehmern
nicht benachteiligt werden.
In der mündlichen Verhandlung des Senats am 22. August 2011 hat die Klägerin angegeben, während ihrer Tätigkeit in der Schweiz
von September 2004 bis September 2005 habe sie ihren Wohnsitz in Deutschland aufrechterhalten. Sie sei einmal im Monat nach
Hause gefahren. In der Schweiz habe sie nur ein Zimmer gehabt. Nach Beendigung der Tätigkeit in der Schweiz sei sie wieder
nach Deutschland zurückgekehrt. In der Zeit zwischen der Beendigung ihrer Tätigkeit in der Schweiz und der Stellung des Arbeitslosengeldantrages
habe sie Arbeit gesucht, hauptsächlich in Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas. Sie habe sich nach der Rückkehr
aus der Schweiz nicht sofort bei der Bundesagentur arbeitsuchend gemeldet, weil sie davon ausgegangen sei, dass sie zeitnah
wieder ein Arbeitsverhältnis werde eingehen können. Außerdem bestehe nach ihrem Eindruck das Problem der Stigmatisierung,
wenn man arbeitslos (gemeldet) sei bzw. über die Arbeitsagentur vermittelt werde.
II. Die beantragte Auslegung ist für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich, da dessen Entscheidung davon abhängt.
Das Verfahren war daher auszusetzen, um nach Art. 267 AEUV i.d.F. vom 1. Dezember 2009 eine Vorabentscheidung des Europäischen
Gerichtshofes (EuGH) einzuholen.
Die EWG-VO 1408/71 ist auf den vorliegenden Fall anwendbar (die EG-VO 883/2004 vom 29. April 2004 ersetzt die EWG-VO 1408/71
erst zum 1. Mai 2010 nach Inkrafttreten der EG-VO 987/09 - vgl. Kretschmer in Niesel/Brand,
SGB III, 5. Aufl. 2010, Anh. A vor Art. 67-71a EWG-VO 1408/71 Rdnr. 15). Die EWG-VO 1408/71 findet auch im Verhältnis zur Schweiz aufgrund des Abkommens vom 21. Juni
1999 (BGBl. 2001 II 810 i.V.m. ABlEG L 114, 480) Anwendung (vgl. Kretschmer in Niesel/Brand, s.o., Anh. A vor Art. 67 71a
EWG-VO 1408/71 Rdnr. 25).
Nach Art. 67 Abs. 3 EWG-VO 1408/71 ist eine Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedsstaat zurückgelegten Versicherungszeiten
grundsätzlich nur möglich, wenn unmittelbar vor Eintritt des Leistungsfalles eine Beschäftigung im Inland ausgeübt wurde.
Eine Beschäftigung im Inland (Deutschland) hat die Klägerin vor Stellung des Antrages auf Arbeitslosengeld nicht ausgeübt.
Eine Ausnahme gilt aber nach Art. 71 Abs. 1 Buchst. a, ii EWG-VO 1408/71 für echte Grenzgänger und nach Art. 71 Abs. 1 Buchst.
b, ii EWG-VO 1408/71 für unechte Grenzgänger. Nach den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geht der Senat unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 13. November 1990 - C-216/89 -) davon aus, dass die Klägerin als unechte Grenzgängerin im Sinne des Art. 71 Abs. 1 Buchst. b, ii EWG-VO 1408/71 anzusehen
ist. Nach Art. 71 Abs. 1 Buchst b, ii VO 1408/71 erhalten solche Arbeitnehmer, sofern sie nicht Grenzgänger sind und sich
der Arbeitsvermittlung des Staates zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen (hier: Deutschland), bei Vollarbeitslosigkeit
Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären (so genannte unechte
Grenzgänger).
Die Berechnung der Leistungen regelt Art. 68 Abs. 1 EWG-VO 1408/71. Danach berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats,
nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung der Leistungen die Höhe des früheren Entgelts zugrunde zu legen ist, ausschließlich
das Entgelt, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet dieses Staates erhalten hat. Hat jedoch seine
letzte Beschäftigung dort weniger als vier Wochen gedauert, so werden die Leistungen auf Grundlage des Entgelts berechnet,
das am Wohnort oder Aufenthaltsort des Arbeitslose für eine Beschäftigung üblich ist, die der Beschäftigung, die er zuletzt
im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt hat, gleichwertig oder mit ihr gleichartig ist. Zur Auslegung des Art. 68
Abs. 1 EWG-VO 1408/71 hat der EuGH mit Urteil vom 28. Februar 1980 - 67/79 - SozR 6050 Art 68 Nr 1) entschieden, dass die
Bestimmung im Lichte des Art. 51 EWG-Vertrages und in der von ihm verfolgten Ziele dahin auszulegen sei, dass im Falle eines
vollarbeitslosen Grenzgängers (Art. 1 Buchst. b EWG-VO 1408/71) der zuständige Träger des Wohnsitzmitgliedsstaats, nach dessen
Rechtsvorschriften der Berechnung der Leistungen die Höhe des früheren Entgelts zu Grunde zu legen ist, diese Leistungen unter
Berücksichtigung des Entgelts zu berechnen habe, das der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung in dem Mitgliedsstaat
erhalten hat, in dem er unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit beschäftigt gewesen ist.
Damit ist in der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Art. 68 Abs. 1 EWG-VO 1408/71 geklärt, dass außer in Fällen, in
denen die vierwöchige Mindestbeschäftigung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 2 EWG-VO 1408/71 nicht erfüllt ist, bei der Berechnung
der Leistungen das in dem letzten Beschäftigungsstaat unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erzielte Entgelt zu berücksichtigen
ist. Der EuGH hat aber in der genannten Entscheidung (mangels Entscheidungserheblichkeit) nicht zu der Frage Stellung genommen,
ob für die Berücksichtigung des im Beschäftigungsstaat erzielten Entgelts ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen
dem Ende der Beschäftigung (in einem anderen Mitgliedstaat) und der Arbeitslosmeldung im Wohnsitzmitgliedstaat zwingend bestehen
muss. Bejaht man diese Frage, lägen im Falle der Klägerin die Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EWG-VO 1408/71 nicht
vor, so dass die Berechnung der Leistungen nach den nationalen Vorschriften, hier nach §
132 SGB III, zu erfolgen hätte. Verneint man dagegen das Erfordernis eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Ende der
Beschäftigung in dem anderen Mitgliedstaat und der Arbeitslosmeldung im Wohnsitzmitgliedstaat, wäre nach Art. 68 Abs. 1 Satz
1 EWG-VO 1408/71 das im Beschäftigungsstaat erzielte Entgelt der Berechnung der Leistungen zu Grunde zu legen, obwohl diese
elf Monate vor der Arbeitslosmeldung beendet wurde.
Demgemäß hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der dem EUGH obliegenden Auslegung europäischen Sekundärrechts, nämlich
des Art. 68 EWG-VO 1408/71 ab, weshalb der Rechtsstreit nach §
114 SGG auszusetzen und diesem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vorzulegen war.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).