Teilrückforderung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
Unzureichende Berechnung einer Rückforderung
Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen
Tatbestand:
Die 1958 geborene Klägerin wendet sich gegen eine Teilrückforderung der ihr zuvor gewährten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Mit Bescheid vom 26. März 2014 sprach die Beklagte der Klägerin rückwirkend ab Mai 2012 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
unter Zuerkennung einer vorläufig nicht ausgezahlten Nachzahlung in Höhe von 7.476,23 EUR zu.
Mit ihrem damaligen Widerspruch vom 9. April 2014 begehrte die Klägerin, ihr darüber hinaus eine Rente wegen voller Erwerbsminderung
zuzusprechen.
Nach weiteren medizinischen Ermittlungen sprach die Beklagte der Klägerin mit weiterem Bescheid vom 20. September 2014 ebenfalls
rückwirkend ab Mai 2012 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Es wurde für die zurückliegende Zeit eine - wiederum
vorläufig nicht ausgezahlte - Nachzahlung in Höhe von 24.802,74 EUR zuerkannt.
In der Anlage 10 zu diesem Bescheid hielt die Beklagte unter der Überschrift "Ergänzende Begründungen und Hinweise" insbesondere
Folgendes fest:
"Der Bescheid vom 26. März 2014 über die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird hinsichtlich des Zahlungsanspruches
für die Zeit ab 01.05.2012 nach § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) aufgehoben.
Für die Zeit 01.05.2012 bis 31.10.2014 ergibt sich eine Überzahlung von 10.034,95 EUR. Der überzahlte Betrag ist zu erstatten
(§ 50 Absatz 1 SGB X).
Bitte beachten Sie dazu Folgendes: Erst wenn wir die Nachzahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung abgerechnet haben,
steht fest, ob überhaupt ein Betrag verbleibt, den Sie zurückzahlen müssen (siehe dazu Näheres unten unter 'Wie geht es weiter?')."
In diesem Abschnitt "Wie geht es weiter?" hatte die Beklagte ausgeführt:
"Sobald geklärt ist, in welcher Höhe Ansprüche anderer Stellen bestehen, rechnen wir die Nachzahlung der Rente wegen voller
Erwerbsminderung ab. Dabei werden wir zunächst die Ansprüche der anderen Stellen aus der Nachzahlung erfüllen. Wir werden
Ihnen dann mitteilen, ob noch ein Betrag verbleibt, den Sie zurückzahlen müssen oder ob wir Ihnen noch einen Betrag auszahlen
können."
Nachdem die Beklagte Erstattungsansprüche der beigeladenen Sozialleistungsträger abgerechnet hatte, teilte sie der Klägerin
mit weiterem Bescheid vom 3. Februar 2015 mit:
Wir haben nun die Nachzahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung abgerechnet. Die einbehaltene Rentennachzahlung beträgt
24.802,74 EUR. Davon haben wir zur Erfüllung des Erstattungsanspruchs der Agentur für Arbeit 12.497,50 EUR überwiesen ...
einen Betrag in Höhe von 186,12 EUR an die Krankenkasse DAK überwiesen und einen Betrag von 3.159,14 EUR an das Jobcenter
L. überwiesen. Damit mindert sich die Nachzahlung auf den Betrag von 8.959,98 EUR.
Den überzahlten Betrag in Höhe von 10.034,95 EUR haben wir mit dieser Nachzahlung verrechnet. Wir sind dabei davon ausgegangen,
dass diese Vorgehensweise in Ihrem Interesse liegt. Die restliche Überzahlung beträgt noch 1.074,97 EUR. Diesen Betrag müssen
Sie zurückzahlen (§ 50 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches)
Hiergegen hat die Klägerin mit Schreiben vom 2. Dezember 2015 Widerspruch eingelegt, zu dessen Begründung sie sich insbesondere
auf die mangelnde Nachvollziehbarkeit der Berechnungen der Beklagten berief. Einen bezüglich des Bescheides vom 26. September
2014 gestellten Überprüfungsantrag wies die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 13. April 2015 zurück, woraufhin die Klägerin
unter Bezugnahme auf dieses Schreiben mitteilte, dass ihr "Widerspruch aufrecht erhalten" bleibe. Auf die Nachfrage der Beklagten
im Schreiben vom 4. Mai 2015, ob damit ein Widerspruch gegen den Überprüfungsbescheid habe eingelegt werden sollen, hat die
Klägerin mit Schreiben vom 26. Mai 2015 (Bl. 580 VV) ausgeführt, dass sie den Widerspruch aufrechterhalte und um erneute Überprüfung
bitte. Eine Bescheidung des damit anzunehmenden Widerspruchs gegen den Bescheid vom 13. April 2015 ist nach Aktenlage jedoch
nicht erkennbar.
Demgegenüber wies die Beklagte den von der Klägerin gegen den Bescheid vom 3. Februar 2015 eingelegten Widerspruch mit Bescheid
vom 2. Juli 2015 zurück.
Mit der am 15. Juli 2015 erhobenen Klage hat die Klägerin insbesondere auf ihren (im Widerspruchsverfahren) noch anhängigen
Überprüfungsantrag hinsichtlich des Bescheides vom 26. März 2014 hingewiesen.
Mit Urteil vom 8. Februar 2016, der Klägerin zugestellt am 19. Februar 2016, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur
Begründung hat es insbesondere dargelegt, dass die Beklagte auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X "offenbar berechtigt" gewesen sei, die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zurückzunehmen. Die rückwirkende
Bewilligung der höheren Rente lasse damit nachträglich den Zahlungsanspruch auf die niedrigere Rente entfallen.
Mit der am 17. März 2016 eingelegten Berufung verweist die Klägerin erneut auf den (im Widerspruchsverfahren) noch anhängigen
Überprüfungsantrag.
Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 8. Februar 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2015 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verweist insbesondere auf die aus ihrer Sicht festzustellende Bestandskraft des Bescheides vom 20. September
2014.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2015 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2015 ist rechtswidrig.
1. Für die ausgehend von seinem Verfügungssatz vorzunehmende Auslegung eines Verwaltungsaktes ist der in §
133 BGB ausgedrückte allgemeine Rechtsgedanke heranzuziehen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen
der Behörde bzw. des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die
Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts
der Verfügung beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht.
Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und die Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (BSG, Urteil vom 08. Februar 2012 - B 5 R 38/11 R -, SozR 4-5075 § 3 Nr 1; BSG, U.v. 7. April 2016 - B 5 R 26/15 R -).
Ausgehend von der danach maßgeblichen Auslegung aus der Sicht eines im vorstehend erläuterten Sinne verständigen Empfängers
hat die Beklagte im vorausgegangenen Bescheid vom 26. September 2014 keine Regelung des Inhalts getroffen, dass die Klägerin
einen Betrag von 10.034,95 EUR zu erstatten habe.
In dem Bescheid findet sich zwar in der Anlage 10 der Satz: "Für die Zeit 01.05.2012 bis 31.10.2014 ergibt sich eine Überzahlung
von 10.034,95 EUR. Der überzahlte Betrag ist zu erstatten (§ 50 Absatz 1 SGB X)."
Diese Aussage wurde aber im nachfolgenden Satz sogleich mit folgenden Worten modifiziert und korrigiert: "Bitte beachten Sie
dazu Folgendes: Erst wenn wir die Nachzahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung abgerechnet haben, steht fest, ob überhaupt
ein Betrag verbleibt, den Sie zurückzahlen müssen (siehe dazu Näheres unten unter 'Wie geht es weiter?')."
In diesem Abschnitt "Wie geht es weiter?" hatte die Beklagte ausgeführt: "Sobald geklärt ist, in welcher Höhe Ansprüche anderer
Stellen bestehen, rechnen wir die Nachzahlung der Rente wegen Rente wegen voller Erwerbsminderung ab. Dabei werden wir zunächst
die Ansprüche der anderen Stellen aus der Nachzahlung erfüllen. Wir werden Ihnen dann mitteilen, ob noch ein Betrag verbleibt,
den Sie zurückzahlen müssen oder ob wir Ihnen noch einen Betrag auszahlen können."
Mit den zitierten Ausführungen hatte die Beklagte klar zum Ausdruck gebracht, dass sie die für einen etwaigen Erstattungsanspruch
maßgeblichen Umstände des vorliegenden Einzelfalls noch gar ermittelt hatte und namentlich noch gar nicht zu überblicken vermochte,
ob sich aus ihrer Sicht im Ergebnis überhaupt eine Erstattungsforderung zulasten der Klägerin ergeben würde.
Bei dieser Ausgangslage konnte die Klägerin als verständige Empfängerin die Ausführungen der Beklagten im Gesamtzusammenhang
nur dahingehend verstehen, dass noch gar nicht abschließend über das Bestehen und ggfs. die Höhe eines eventuellen Erstattungsanspruchs
entschieden worden war und dass die Beklagte diesbezüglich zunächst den Sachverhalt aufklären wollte. Dementsprechend war
aus der Sicht einer verständigen Empfängerin gerade nicht erkennbar, dass in diesem Zusammenhang eine abschließende Regelung
bereits in dem Bescheid vom 26. September 2014 getroffen werden sollte.
2. Nur ergänzend ist anzumerken, dass ausgehend von einer abweichenden Auslegung in dem von der Beklagten befürworteten Sinne
eine entsprechende Rückerstattungsregelung als nichtig im Sinne des § 40 SGB X anzusehen wäre. Nach den gesetzlichen Vorgaben bedarf es vor Erlass einer Regelung zunächst der Aufklärung des Sachverhalts
von Amts wegen (§ 20 SGB X). Ein Erlass von Zahlungsbescheiden gewissermaßen "auf Vorrat" für den eventuellen Fall, dass künftige Ermittlungen erst
die Begründetheit eines entsprechenden Anspruchs ergeben könnten, sieht das Gesetz gar nicht vor. Diese Anforderungen hätte
die Beklagte ausgehend von der von ihr befürworteten Bescheidauslegung in einer besonders schwer wiegenden Weise offenkundig
missachtet.
3. Des Weiteren hat die Beklagte in dem Bescheid vom 26. September 2014 der Klägerin auch mitgeteilt, dass sie nach Ermittlung,
in welcher Höhe Ansprüche anderer Stellen bestehen, ihr noch mitteilen werde, ob ein Betrag verbleibe, den sie zurückzahlen
müsse oder ob ihr noch ein Betrag auszahlen sei. Mit diesen Ausführungen hat die Beklagte aus der Sicht einer verständigen
Empfängerin zugleich die Aufrechnung eines eventuell gegenüber der Klägerin bestehenden allenfalls in Höhe von 10.034,95 EUR
in Betracht kommenden Erstattungsanspruchs mit dem in diesem Bescheid zugleich festgesetzten Nachzahlungsanspruch in Höhe
von 24.802,74 EUR im Sinne des §
51 SGB I erklärt. Auch soweit ein Erstattungsanspruch bestehen konnte, vermochte er hiervon ausgehend nur den Nachzahlungsanspruch
der Klägerin zu mindern.
4. Überdies hätte eine Nichterklärung einer solchen Aufrechnung sich als sachwidrige Ausübung des diesbezüglich der Beklagten
durch §
51 Abs.
1 SGB I eingeräumten Ermessens dargestellt, soweit dies mit Rechtsnachteilen zulasten der Klägerin verbunden gewesen wäre.
5. Ausgehend von den vorstehenden Ausführung kann sich die Beklagte bezüglich des mit dem angefochtenen Bescheid vom 3. Februar
2015 festgesetzten Erstattungsanspruchs in Höhe von 1.074,97 EUR schon im Ausgangspunkt nicht auf eine Bestandskraft des Bescheides
vom 26. September 2014 berufen.
6. Auch als erstmalige eigenständige Festsetzung eines solchen Erstattungsanspruchs kann diese Regelung keinen Bestand haben.
Soweit sich die Beklagte auf §§ 48, 50 SGB X beruft, verkennt sie bereits, dass keine dem Bescheid vom 26. März 2014 zeitlich nachfolgende wesentliche Veränderung in
den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen erkennbar ist. Die Beklagte hat lediglich zunächst die bereits bei Erlass
dieses Bescheides vorgefundene tatsächliche Ausgangslage verkannt und daher rechtsirrtümlich an Stelle der bereits seinerzeit
zuzusprechenden Rente wegen voller Erwerbsminderung anfänglich nur eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zuerkannt.
Auf §§ 45, 50 SGB X kann sich die Beklagte schon angesichts der bereits im Ansatz fehlenden Ermessensausübung nicht erfolgreich berufen.
7. Abgesehen von der von der Beklagten selbst zum Ausdruck gebrachten Aufrechnung etwaiger Erstattungsansprüche mit dem zugleich
zuerkannten Nachzahlungsanspruch hat die Beklagte überdies bereits versäumt, die Höhe der geltend gemachten Erstattungsforderung
auch nur substantiiert aufzuzeigen. Der Senat hat sie diesbezüglich zu einer detaillierten Darlegung und zu einer insbesondere
auch monatsweisen Aufschlüsselung der (angeblichen) Erstattungsforderung mit Verfügung vom 29. April 2016 aufgefordert (vgl.
auch §
103 SGG zur gebotenen Heranziehung der Beteiligten bei der Aufklärung des Sachverhalts); dieser Anordnung ist die Beklagte nicht
nachgekommen. Auch vor diesem Hintergrund vermag der Senat schon im Ausgangspunkt nicht zu überblicken, ob überhaupt irgendeine
Erstattungsforderung in Betracht zu ziehen sein könnte.
8. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich
zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Vorschrift dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs und
soll das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken und den Bürger vor Überraschungsentscheidungen
schützen (BSG, Urteil vom 25. März 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 14), sowie sicherstellen, dass die Beteiligten alle für sie günstigen Umstände vorbringen können (BSG, Urteil vom 4. November 1981 - SozR 1300 § 24 Nr 2). Der Betroffene soll Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt die vorgesehene
Entscheidung zu beeinflussen. Hierzu ist es notwendig, dass der Verwaltungsträger die entscheidungserheblichen Tatsachen dem
Betroffenen in einer Weise unterbreitet, dass er sie als solche erkennen und sich zu ihnen, ggfs. nach ergänzenden Anfragen
bei der Behörde, sachgerecht äußern kann (BSG, Urteil vom 15. August 2002 - B 7 AL 38/01 R -, SozR 3-1300 § 24 Nr 21 mwN). Auch diesen Anforderungen hat die Beklagte nicht genügt. Die Berechnungen der Beklagten bezüglich
einer angeblichen Rückforderung waren nicht in einer Weise verständlich erläutert worden, dass sich die Klägerin dazu sachgerecht
zu äußern vermochte. Diese Mängel sind von der Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren gerügt worden, von der Beklagte jedoch
weder seinerzeit noch im gerichtlichen Verfahren behoben worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), sind nicht gegeben.