Keine Haftung des Insolvenzverwalters für nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund einer geduldeten selbstständigen
Tätigkeit entrichtete Rentenversicherungsbeiträge
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Zeitraum vom 15. November 2006 bis
26. November 2007) aufgrund einer selbstständigen Tätigkeit der Beigeladenen entstandene, Beitragsschuld in Höhe von 6.014,67
Euro eine Masseverbindlichkeit darstellt.
Die am 21. April 1966 geborene Beigeladene übt seit April 2002 nach Aktenlage laufend eine selbstständige Tätigkeit als Dozentin
aus. Die Versicherungspflicht wurde mit nicht vorliegendem Bescheid festgestellt. Der Überprüfungsantrag der Beigeladenen
mangels Mitwirkung mit Bescheid vom 19. Oktober 2005 abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch ist mangels Mitwirkung
der Beigeladenen noch nicht entschieden.
Die Beigeladene erließ im September 2006 durch ihren damaligen Prozessbevollmächtigten einen Schuldenregulierungsplan erstellen
und der Beklagten vorlegen. Diese stimmte dem Plan nicht zu.
Mit Bescheid vom 14. November 2006 stellte die Beklagte fest, dass die Beigeladene ab 1. April 2002 "nach §
2 Abs.
1 Nr.
1 bis
3 des
SGB VI" versicherungspflichtig sei. Die Versicherungspflicht beginne mit dem Tag der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit. Ein
freiwilliges Ausscheiden aus der Versicherungspflicht sei nicht möglich. In der Anlage enthielt der Bescheid eine Beitragsrechnung
für die Zeit ab 1. April 2002, die eine Gesamtforderung von 15.706,44 EUR bis zum 30. November 2006 begründete.
Am 20. November 2006 ging bei der Beklagten der Beschluss über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der
Beigeladenen vom 15. November 2006 ein. Am 28. November 2006 ging die Aufforderung des Klägers als Insolvenzverwalter bei
der Beklagten ein, Forderungen anzumelden. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2006 meldete die Beklagte zunächst eine Gesamtbeitragsforderung
zum 14. November 2006 in Höhe von 15.451,64 EUR an.
Mit Bescheid vom 16. Februar 2007 erließ die Beklagte gegenüber dem klagenden Insolvenzverwalter einen Bescheid, mit dem sie
die laufenden Beitragsansprüche ab 15. November 2006 nach §
55 Abs.
2 Satz 1Insolvenzordnung (
InsO) als Masseforderung geltend machte, da die selbstständige Tätigkeit im Eröffnungsverfahren weiterhin ausgeübt werde. Die
Pflichtbeiträge betrügen für den Zeitraum 15. November bis 31. Dezember 2006 monatlich 477,75 EUR, für den Zeitraum ab 1.
Januar 2007 bis laufend 487,55 EUR. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben aus März und Mai 2007 Widerspruch ein und trug
vor, dass die Beigeladene einer selbstständigen Beschäftigung außerhalb des Insolvenzverfahrens nachgehe. Die beigeladene
Schuldnerin führe ihre Erwerbstätigkeit mit unpfändbaren Sachen gemäß §
811 Abs.
1 Ziff. 5
ZPO außerhalb des Insolvenzverfahrens fort, ohne dass es seiner Zustimmung bedürfe. Masseverbindlichkeiten könnten dadurch von
der Schuldnerin nicht begründet werden. Soweit die Schuldnerin aus der Tätigkeit Beiträge erwirtschafte, die den nichtpfändbaren
Betrag übersteigen, seien diese an die Insolvenzmasse abzuführen. Die Rentenversicherungspflicht der Schuldnerin sei jedoch
keine Massenverbindlichkeit, sondern von der Schuldnerin außerhalb des Insolvenzverfahren aus den nichtpfändbaren Teilen ihres
Einkommens aufzubringen. Bei der Fortführung der selbstständigen Tätigkeit und der damit verbundenen Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen
handele es sich nicht um eine Verwaltung, Verwertung oder Verteilung der Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter, so dass
die Voraussetzungen des §
55 Abs.
1 Nr.
1 InsO nicht vorlägen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 15. April 2008 zurück, da nach ihrer Auffassung die durch die selbstständige
Tätigkeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, entstehenden Beitragsforderungen Masseverbindlichkeiten darstellen würden.
Dagegen hat der Kläger am 15. Mai 2008 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben. Er hat vorgetragen, dass die Beklagte nur die Möglichkeit habe, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
entstehenden Beiträge wie die übrigen Gläubiger durch schlichte Anspruchsstellung beim Insolvenzverwalter geltend zu machen.
Im Übrigen sei der Beitragsbescheid in formeller Hinsicht rechtswidrig, da der Kläger durch den Bescheid nicht als Insolvenzverwalter,
sondern vielmehr persönlich in Anspruch genommen worden sei. Die Fortführung der selbstständigen Tätigkeit der Beigeladenen
sei im Übrigen nicht auf Veranlassung des Klägers bzw. unterdessen Mitwirkung erfolgt. Hierzu habe auch keine Veranlassung
bestanden, da die insoweit bedeutsame Regelung des §
35 InsO erst mit Wirkung vom 1. Juli 2007 in Kraft getreten sei und für das vorliegende Insolvenzverfahren keine Bedeutung gehabt
habe.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. August 2007 die Auffassung vertreten,
dass es sich bei der Beitragsforderung um eine Masseverbindlichkeit handele. Im Übrigen solle das SG der Frage nachgehen, ob die Versicherungs- und Beitragspflicht der Beigeladenen vorliege. Diese habe bislang nicht ausreichend
mitgewirkt.
Das SG hat die Schuldnerin mit Beschluss vom 22. Dezember 2011 zum Verfahren beigeladen und den Bescheid der Beklagten von 16. Februar
2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 2008 mit Gerichtsbescheid vom 10. Januar 2010 aufgehoben. Der
Bundesgerichtshof (BGH) habe entschieden, dass die Einnahmen, die ein selbstständig tätiger Schuldner nach der Insolvenzeröffnung
erzielt habe, in vollem Umfang und ohne Abzug für beruflich bedingte Ausgaben zur Insolvenzmasse gehöre. In der Folge habe
der BFH entschieden, dass sich aus dem von ihm als zutreffend angesehenen Beschluss des BGH die weitere Konsequenz ergebe,
dass die im Zusammenhang mit der nach Insolvenzeröffnung erfolgten selbstständigen Berufstätigkeit entstandenen berufsbedingten
Ausgaben des Schuldners grundsätzlich keine Massenverbindlichkeiten im Sinne des §
55 Abs.
1 Nr.
1 InsO darstellen. Die Vorschrift des §
35 InsO sei vorliegend aufgrund des Art. 103 c des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung (EGInsO) noch nicht anzuwenden. Zu berücksichtigen sei, dass der Kläger im Verfahren geltend gemacht habe, dass die Beigeladene ihre
selbstständige Tätigkeit als Dozentin über den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinaus fortgesetzt habe, ohne
dass dies auf seine Veranlassung bzw. Mitwirkung hin erfolgt sei. Das im untätig bleiben des Klägers zu sehende Dulden der
weiteren Ausübung der selbstständigen Tätigkeit der Schuldnerin erfülle nicht die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals
des Verwaltens der Insolvenzmasse im Sinne von §
55 Abs.
1 Nr.
InsO. Als Handlung könne das untätig bleiben auch nicht angesehen werden. Die Beitragsschuld der Beigeladenen stelle zudem keine
Verbindlichkeit dar, die durch Verwertung der Insolvenzmasse begründet worden sei. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die
Schuldnerin als Dozentin im Wesentlichen ihre eigene Arbeitskraft und das damit verbundene Fachwissen eingesetzt habe. Die
eigene Arbeitskraft des Schuldners falle jedoch nicht in die Insolvenzmasse und die Nutzung derselben könne nicht mit der
Nutzung eines Massegegenstandes gleichgesetzt werden. Von der von der Beklagten zitierten Rechtsprechung des BFH habe sich
dieser mittlerweile distanziert. Bei dieser Sachlage bestehe keine Notwendigkeit durch weitere Ermittlungen zu klären, ob
die ursprüngliche Annahme der Beklagten, es seien wegen fortbestehender Versicherungs- und Beitragspflicht der Beigeladenen
Beiträge in streitiger Höhe zu entrichten gewesen, richtig oder unzutreffend gewesen sei, da die Klage ohnehin wegen der Nichterfüllung
der Voraussetzungen des §
55 InsO abzuweisen gewesen sei.
Gegen den der Beklagten am 17. Januar 2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat diese am 15. Februar 2013 Berufung eingelegt
und vorgetragen, dass der Kläger als Insolvenzverwalter von der weiteren Ausübung der selbstständigen Tätigkeit gewusst habe,
diese aber nicht lediglich geduldet habe, sondern die Fortführung klaglos akzeptiert habe. Aus diesem Grunde könnten die vom
SG in Bezug genommenen Entscheidungen des BFH nicht herangezogen werden. Das Urteil des BFH vom 29. August 2007 werde weiterhin
für einschlägig gehalten. Es handele sich um Verbindlichkeiten, die durch die Verwaltung der Insolvenzmasse begründet würden.
Der neue Senat des BFH habe auch die Auffassung lediglich im Hinblick auf die Frage der Haltervermutung zur Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer
geändert. Der Auffassung des SG, dass sowohl die Umsatzsteuer als auch Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich nicht als Masseverbindlichkeit
angesehen werden könnten, sei somit nicht zutreffend. Abschließend werde das Gericht gebeten, die Beigeladene zur Mitwirkung
der Klärung der Frage der Versicherungspflicht aufzufordern. Internetrecherchen zufolge sei sie (weiterhin) im Rahmen von
"Antiaggressivitäts-Trainings" als Lehrerin im Sinne von §
2 Abs.
1 Nr.
1 SGB VI selbstständig tätig.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 10. Januar 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und
die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung
geworden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Das SG hat den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April
2008 zutreffend aufgehoben, da die Beklagte nicht berechtigt war, die laufenden Beiträge zur Sozialversicherung als Masseverbindlichkeit
gegenüber dem Insolvenzverwalter geltend zu machen.
Abgesehen davon, dass eine bloße "Geltendmachung" von Ansprüchen als solche schon nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit
(§ 33 Abs. 1 SGB X) eine konkrete hoheitliche Regelung im Sinne des § 31 SGB X zum Ausdruck bringt, ist bereits materiellrechtlich keine Grundlage für die Inanspruchnahme des Insolvenzverwalters ersichtlich.
Die Voraussetzungen des §55
InsO liegen nicht vor. Die Beitragsforderung der Beklagten ist nicht durch Verwaltung, Verwertung oder Verteilung der Insolvenzmasse
entstanden. Auch die übrigen Voraussetzungen des §
55 InsO liegen nicht vor.
Nach §
55 InsO, in der im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltenden Fassung, sind Masseverbindlichkeiten weiter die Verbindlichkeiten:
1) die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der
Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören; 2) aus gegenseitigen Verträgen, soweit
deren Erfüllung zur Insolvenzmasse verlangt wird oder für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgen muss;
3) aus einer ungerechtfertigten Bereicherung der Masse (§
55 Abs.
1 InsO).
Das Tatbestandsmerkmal des Verwaltens ist nicht erfüllt. Die bloße Duldung einer Tätigkeit des Schuldners durch den Insolvenzverwalter
erfüllt nicht das Tatbestandsmerkmal des Verwaltens der Insolvenzmasse im Sinne §
55 Abs.
1 Nr.
1 InsO erfüllt (BFH, U.v. 17. März 2010 - XI R 2/08 -, BFHE 229, 394). Auch von Seiten der Beklagten sind keine Gesichtspunkte (substantiiert) aufgezeigt worden, die dafür sprechen könnten,
dass der Kläger eine Fortsetzung der selbständigen Tätigkeit auf Seiten der Beigeladenen mehr als nur geduldet hat.
Vergeblich beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BFH vom 29. August 2007 (- IX R 4/07 -, BFHE 218, 435, BStBl II 2010, 145). In jener Entscheidung hat sich der BFH bereits im Ausgangspunkt auf die Regelung des §
34 Abs.
1 und
3 AO gestützt (vgl. Juris-Rz. 12 ff.). §
34 AO stellt aber eine steuerrechtliche Spezialvorschrift dar, die im Sozialbeitragsrecht keine Anwendung findet.
Die streitbetroffene Beitragsforderung beruht auch nicht auf einer "Verwertung" der Insolvenzmasse nach Maßgabe des §
55 Abs.
1 InsO entsprechend den vom BFH im Urteil vom 17. März 2010 (- XI R 30/08 - ZIP 2010, 2211) dargelegten Auslegungsgrundsätzen: "Verwertung" bedeutet, dass aus der Insolvenzmasse ein Geldbetrag erlöst wird, der an
die Gläubiger verteilt werden kann. Als Verwertung der Masse kann unter bestimmten Voraussetzungen zwar auch die ertragbringende
Nutzung der zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögensgegenstände anzusehen sein (BFH, Urteil vom 17. März 2010 - XI R 30/08 -, juris). Dabei fällt jedoch die eigene Arbeitskraft des Schuldners nicht in die Insolvenzmasse und kann deshalb auch nicht
der Nutzung eines Massegegenstandes gleichgesetzt werden (BFH, aaO.).
Die Beitragsforderung beruht ebenso wenig auf einer Verteilung der Insolvenzmasse.
Darüber hinaus steht der Heranziehung eines Insolvenzverwalters für die Pflichtbeiträge des nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
weiterhin selbständig tätigen Insolvenzschuldners die Spezialvorschrift des §
36 Abs.
1 Satz 2
InsO i.V.m. §§ 850i, 850e Nr.
1 ZPO entgegen. Danach sind dem Schuldner als pfändungsfreie Einkünfte die für seinen notwendigen Unterhalt benötigten Einkünfte
aus der selbständigen Tätigkeit unter Einschluss insbesondere der damit verbundenen Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung
zu belassen. Auch wenn der Pfändungsschutz der Einkünfte der von §
850 i
ZPO erfassten Personen nicht ohne weiteres demjenigen der abhängig Beschäftigten gleichgestellt ist, ist doch nach Sinn und Zweck
der Regelung der Freibetrag in Anlehnung an §§
850 a, c, d, e und f
ZPO zu bemessen Gemäß §
850 e Nr. 1
ZPO sind bei der Berechnung des pfändbaren Arbeitseinkommens die den Arbeitnehmer treffenden Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung
nicht mitzurechnen. Dieser Rechtsgedanke ist auch bei der Pfändung der unter §
850 i
ZPO fallenden Vergütungen heranzuziehen (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2008 - VII ZB 34/08 -, FamRZ 2008, 2021). Wenn der Gesetzgeber anordnet, dass dem Insolvenzschuldner die erforderlichen Mittel zur Begleichung der mit einer Fortführung
seiner selbständigen Tätigkeit verbundenen Sozialabgaben zu belassen sind, dann hat er damit zugleich zum Ausdruck gebracht,
dass der Insolvenzschuldner selbst (und gerade nicht der Insolvenzverwalter) diese Mittel auch aufzubringen hat.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der Anwendung des §
197 a SGG in Verbindung mit §
154 VwGO.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), sind nicht ersichtlich.