Feststellung eines GdB als tatrichterliche Aufgabe
Rückwirkende Bewertung eines Aneurysmas
Auswirkung nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
Tatbestand:
Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die ihm seitens des Sozialgerichts (SG) Stade auferlegte Verpflichtung, den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers für den Zeitraum vom 22. Juni 2015 bis zum 19.
Juli 2016 insbesondere aufgrund eines im Juni 2016 per Zufallsbefund festgestellten Aneurysmas der Bauchaorta (Aussackung
der Hauptschlagader) mit 60 festzustellen. Dem Kläger, der seit dem 1. Juli 2016 eine Rente für langjährig Versicherte bezieht,
wäre ein Wechsel in die ihm günstigere Rente für Schwerbehinderte noch möglich, wenn bis zum 30. Juni 2016 eine Schwerbehinderung
vorgelegen haben sollte. Dementsprechend ist die Frage der rückwirkenden Bewertung des Aneurysmas für den Kläger von Bedeutung.
Die Bewertung des GdB nach dem 19. Juli 2016 ist nicht Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens.
Bei dem 1952 geborenen Kläger, von Beruf Kraftfahrer, wurde aufgrund von Wirbelsäulenbeschwerden mit Bescheid vom 11. April
2007 ein GdB von 30 festgestellt. In den Jahren 2008, 2011 und 2013 gestellte Neufeststellungsanträge blieben erfolglos. Am
20. Februar 2014 stellte der Kläger aufgrund des Hinzutretens einer Herzerkrankung den hier den Ausgangspunkt des Verfahrens
bildenden Neufeststellungsantrag. Nachdem zum Jahresende 2013 Thoraxschmerzen aufgetreten waren, wurden im Januar 2014 kardiologische
Untersuchungen und u. a. Herzkathetereingriffe am 23. und 30. Januar 2014 durchgeführt. Der Beklagte lehnte den Neufeststellungsantrag
mit Bescheid vom 22. April 2014 ab, nachdem der Ärztliche Dienst - Dr. J. - die Herzerkrankung lediglich mit einem Einzel-GdB
von 10 bewertet hatte. Der Kläger legte Widerspruch ein und berief sich auf eine seines Erachtens zu geringe Bewertung der
Herzerkrankung sowie eine Verschlimmerung der Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS). Der Beklagte holte einen
Bericht des Allgemeinmediziners K. nebst beigefügten fachärztlichen Befundberichten sowie eine weitere Stellungnahme des Ärztlichen
Dienstes - Dr. L. - ein. Nach Ansicht des Ärztlichen Dienstes waren die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule leidensgerecht
beurteilt und die koronare Herzerkrankung sei zusammen mit dem (eingestellten) Bluthochdruck bei leichter Einschränkung und
einer Belastbarkeit bis 150 Watt ebenfalls mit dem insoweit angenommenen Einzel-GdB von 10 angemessen beurteilt. Daraufhin
wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 10. September 2014 zurück.
Der Kläger, der sich vom 14. August bis 4. September 2014 in Rehabilitation in M. befand, hat am 15. September 2014 Klage
erhoben. Weder aus dem Rehabilitationsbericht aus M. noch aus anderen Unterlagen ergeben sich bis zu diesem Zeitpunkt Anhaltspunkte
für das Vorliegen des nunmehr in seiner Bewertung nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) streitgegenständlichen
Aneurysmas oder für diesbezügliche Beschwerden des Klägers. Der Kläger hat vielmehr weiterhin seine Wirbelsäulen- und Herzerkrankung
für zu gering bewertet erachtet. Das SG Stade hat Befundberichte des Allgemeinmediziners K., der Pneumologin Dr. N. und des
Kardiologen Dr. O. eingeholt. Der Hausarzt hat weiterhin eine Einschränkung durch die koronare Herzkrankheit gesehen, eigentlich
sei eine Bypass-Operation indiziert. Durch Gewichtsreduktion sei es zu einer leichten Besserung gekommen. Hinsichtlich der
Rückenbeschwerden wurde im Jahr 2015 Physiotherapie durchgeführt, die koronare Belastbarkeit war ausweislich des Rehabilitationsberichts
aus M. bis 100 Watt gut, teilweise war auch eine Belastung bis 175 Watt möglich (im Mai 2014 unproblematisch 150 Watt). Für
den Ärztlichen Dienst des Beklagten sah Dr. R. weiterhin keinen Bedarf für eine Neubewertung.
Im Rahmen eines Erörterungstermins am 17. November 2016 vor dem SG Stade hat der persönlich anwesende Kläger erstmals berichtet,
bei ihm sei zusätzlich noch als Zufallsbefund ein Bauchaneurysma diagnostiziert worden. Nach Aussage der Ärzte sei dieses
innerhalb der letzten eineinhalb Jahre entstanden. Das Aneurysma sei anlässlich der bei ihm durchgeführten Wirbelsäulenoperation
im Juni 2016 entdeckt und alsdann operativ versorgt worden. Nach einem Bericht der neurochirurgischen Klinik des Klinikums
P. hatte das abdominale Aorten-Aneurysma einen Durchmesser von ca. 5,5 cm. Anlass des Eingriffs war eigentlich ein Bandscheibenvorfall
im LWS-Bereich gewesen. Im Zusammenhang mit einer diesbezüglich durchgeführten Magnetresonanztomografie (MRT) ist das Aneurysma
festgestellt worden. Am 20. Juli 2016 ist im Klinikum Q.R. eine komplikationslose Implantation eines Aorten-Stents mit der
Folge kompletter Ausschaltung des Aneurysmas durchgeführt worden. Der Durchmesser des Aneurysmas wurde nunmehr mit 5,9 cm
angegeben. Aus einem dem Kläger seitens des Klinikums überreichten Aufklärungsbogen ergibt sich, dass die zufällige Entdeckung
des Aneurysmas einen häufigen Fall darstellt. Eine derartige Aussackung der Hauptschlagader verursache meist kaum Beschwerden,
könne jedoch aufgrund einer plötzlichen Ruptur zum innerlichen Verbluten innerhalb weniger Minuten führen.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten - Dr. S. - hat sich insoweit auf den Standpunkt gestellt, weder durch die am 30. Januar
2014 durchgeführte Stentimplantation bei Herzgefäßerkrankung noch hinsichtlich der Stentversorgung bei Aorten-Aneurysma sei
ein GdB festzustellen, weil nicht Diagnosen, sondern nur dauerhafte und/oder wesentliche Funktionsbeeinträchtigungen bewertet
werden dürften. In einer weiteren Stellungnahme - Dr. T. vom 14. Juli 2017 - hat der Ärztliche Dienst angenommen, das Ergebnis
sei mit einem Gefäßersatz der Bauchschlagader gleichzusetzen. Daraus resultiere ein GdB von 20 seit dem Eingriff. Soweit das
Gericht angefragt habe, ob nicht ein derartiges Aneurysma nach Teil B Nr. 9.2.2 VMG mit einem GdB von 50 beurteilt werden
müsse, sei dies wegen fehlender Feststellungen nicht möglich. Zudem sei etwa einen Monat vor dem Eingriff ein Durchmesser
von 5,5 cm festgestellt worden, somit sei es offenbar zu einer raschen Größenzunahme gekommen.
In einem Befundbericht vom 6. Juni 2017 hat die Oberärztin Dr. U. mitgeteilt, zufällig sei im wegen Bandscheibenbeschwerden
durchgeführten MRT das Aneurysma entdeckt worden. Auf den Bildern habe sich ein Durchmesser von ca. 5,5 cm ablesen lassen.
Der Kläger sei beschwerdefrei gewesen. Die Größe habe sich in einer gefäßchirurgischen Untersuchung am 4. Juli 2016 bestätigt.
Die Operation sei dann am 20. Juli 2016 mit sehr zufriedenstellendem Ergebnis durchgeführt worden. Auch nachfolgend sei der
Kläger beschwerdefrei gewesen. Ein hohes Rupturrisiko bestehe bei Aneurysmen ab einer Größe von 5 cm Durchmesser, was als
Grenze für eine operative Versorgung in Fachkreisen anerkannt sei. Ein "großes" Aneurysma liege ihrer Auffassung nach vor,
wenn eine Indikation zur Operation bestehe, das sei bei einer Größe von mehr als 5 cm. Üblicherweise sei das Wachstum von
0,3 cm bis 0,5 cm im Jahr. Aus der von der Ärztin überreichten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie ergibt
sich, dass durchaus unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten bekannt sind. Für "kleine AAA" zwischen 3,0 cm und 5,0 cm
wird eine engmaschige Ultraschalluntersuchung empfohlen, bei darüber liegender Größe solle eine gefäßchirurgische Begutachtung
und Therapieplanung erfolgen. Der Ärztliche Dienst des Beklagten - Dr. P. - hat weiterhin keinen Durchmesser des Aneurysmas
von mehr als 5,5 cm über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten belegt gesehen, hat diesbezüglich keinen Einzel-GdB von
50 in Betracht gezogen und ergänzend auf Teil A Nr. 2 f S. 1 VMG hingewiesen. Es könne durchaus auch zu einem schnellen Wachstum
kommen. Zudem sei für ein Aneurysma ohne oder mit nur geringer lokaler Funktionsstörung ein Beurteilungsspielraum von 20 bis
40 vorgesehen. Schließlich sei aus gutachterlicher, wenn auch nicht aus therapeutischer Sicht durchaus eine weitere Differenzierung
bei Aneurysmen mit 5 cm oder noch größerem Durchmesser angezeigt, da abhängig von der Größe deutliche Unterschiede der Gefahr
einer Ruptur bestünden.
Nachfolgend hat das SG Stade zwei Stellungnahmen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 24. Oktober
2017 und vom 7. Dezember 2017 eingeholt. Von dort ist die Auffassung mitgeteilt worden, was unter einem großen Aneurysma zu
verstehen sei, sei relativ und hänge vor allem davon ab, welches Blutgefäß betroffen sei. Für die Beurteilung der Frage, ab
wann ein Aneurysma der Aorta abdominalis groß im Sinne der VMG sei, sei allein das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung maßgebend.
Durch ein solches Aneurysma hervorgerufene Funktionsstörungen könnten sehr variabel sein und korrelierten nicht zwangsläufig
mit deren Durchmesser. Morphologische und funktionelle Kriterien seien in der Gesamtschau zu betrachten und deren Auswirkung
auf die Teilhabe zu bewerten. Außerdem sei auf eine sachgerechte Relation des GdB zu Gesundheitsstörungen zu achten, für die
in den VMG feste GdB-Werte angegeben seien. Das Rupturrisiko hänge außerdem nicht nur vom Durchmesser, sondern auch von anderen
morphologischen Umständen ab. Bestimmte Umstände wie die Form, verursachte Schmerzen und Einbeziehung von Arterienabgängen
legten auch bei identischem Durchmesser des Aneurysmas eine unterschiedliche Bewertung nach den VMG nahe. Nähme man den Durchmesser
als einziges Kriterium, würde dies dazu führen, dass unterschiedliche Teilhabebeeinträchtigungen mit demselben GdB bewertet
würden. Das Vorliegen eines großen Aneurysmas i. S. von Teil B Nr. 9.2.2 VMG könne folglich nicht ausschließlich von dessen
Durchmesser als einzigen Bewertungskriterium abhängig sein.
Das SG Stade hat nachfolgend noch auf ein Gutachten des Sachverständigen Dr. V. hingewiesen, das zu einem Rechtsstreit (S 2 SB 198/17) eines anderen Klägers eingeholt worden ist. In jenem Rechtsstreit habe zwischen Sachverständigem und Ärztlichen Dienst Übereinstimmung
bestanden, dass ab ca. 5 cm Durchmesser von einem großen Aneurysma auszugehen sei. Eine Beiziehung dieses Gutachtens zum vorliegenden
Rechtsstreit ist unterblieben. Der Ärztliche Dienst ist der Sichtweise des SG Stade entgegengetreten und hat u. a. darauf
hingewiesen, im "Vergleichsfall" habe eine Teilhabebeeinträchtigung bestanden, während der Kläger vor der Operation beschwerdefrei
gewesen sei, außerdem sei eine andere Aorta betroffen gewesen und es sei dort keine Operation durchgeführt worden. In einer
Stellungnahme vom 28. August 2018 hat Dr. T. zudem auch zu den Stellungnahmen des Sachverständigenbeirats nochmals Stellung
bezogen.
Mit Gerichtsbescheid vom 5. September 2018 hat das SG Stade den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. April 2014
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2014 sowie Abänderung des Bescheides vom 11. April 2007 verurteilt,
bei dem Kläger für den Zeitraum vom 22. Juni 2015 bis zum 11. Juli 2016 einen Gesamt-GdB von 60 sowie ab dem 20. Juli 2016
einen Gesamt-GdB von 40 festzustellen und hat die Klage im Übrigen abgewiesen. Der angenommene Gesamt-GdB von 60 setze sich
zusammen aus dem GdB von 30 für das Rückenleiden (Teil B Nr. 18.9 VMG) und einem Wert von 50 für das, bei schnellstmöglich
angenommenen Wachstum von 0,5 cm pro Jahr spätestens ab 22. Juni 2015 einen Durchmesser von 5 cm überschreitende und damit
große, Aneurysma der Bauchaorta. Ergänzend hat sich das SG Stade auf das im Verfahren S 2 SB 198/17 eingeholte, aber nicht zum vorliegenden Rechtsstreit beigezogene Gutachten des Dr. V. und dessen Einschätzung berufen, dass
es für ein großes Aneurysma i. S. von Teil B Nr. 9.2.2 VMG nicht auf das Vorliegen von Funktionsbeeinträchtigungen oder Leistungseinschränkungen
ankommen könne und entscheidend das extrem hohe Risiko einer Ruptur sei, das ab Durchmessern von über 5 cm vorliege. Vor diesem
Hintergrund könne das Gericht den Ausführungen des Ärztlichen Dienstes - Dr. T. - und den Stellungnahmen des Sachverständigenausschusses
nicht folgen.
Gegen den ihm am 14. September 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 4. Oktober 2018 Berufung eingelegt.
Zur Begründung hat er sich auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Leitenden Medizinaldirektorin Dr. W. vom 25. September
2018 bezogen. Sie hat mitgeteilt, trotz intensiver Suche in der vorgelegten Akte habe sie keinen einzigen Befund gefunden,
der ein Vorliegen eines Aneurysmas der Bauchaorta bereits vor dem 22. Juni 2016 belege. Es sei erst bei der MRT-Untersuchung
der LWS vom 21. Juni 2016 zufällig entdeckt worden. Es sei in keiner Weise durch ärztliche Befundunterlagen belegt, dass das
Aneurysma über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten bestanden habe, insbesondere auch nicht, dass es sich dauernd um
ein sogenanntes "großes Aneurysma" gehandelt habe. Die im Bericht vom 26. Juli 2016 mitgeteilte deutliche Größenzunahme innerhalb
von nur vier Wochen spreche sogar eher gegen diese Annahme.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des SG Stade vom 5. September 2018 insoweit abzuändern, als er verurteilt worden ist, für den Zeitraum
vom 22. Juni 2015 bis zum 19. Juli 2016 einen GdB von 60 festzustellen, und die Klage auch insoweit abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er meint, es sei aufgrund der Beschaffenheit seines Aneurysmas sowie dem grundsätzlichen Umstand, dass 80 % der Aneurysmen
ein langsames Wachstum aufwiesen, davon auszugehen, dass auch sein Aneurysma bereits einen längeren Zeitraum der Entartung
hinter sich habe. Seine Ärzte hätten ihm mitgeteilt, es sei über einen Zeitraum von insgesamt eineinhalb Jahren gewachsen.
Er habe auch unter mehreren Risikofaktoren gelitten, die ein Wachstum über einen längeren Zeitraum begünstigt hätten. Er sei
Raucher gewesen, habe an Bluthochdruck und einer Lungenerkrankung gelitten. Auch seien über einen längeren Zeitraum Rückenschmerzen
aufgetreten, was ebenfalls auf eine stattfindende Aortenausdehnung hinweise.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten
verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) eingelegte Berufung ist zulässig (§
143 SGG) und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 22. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September
2014 ist rechtmäßig, soweit bezogen auf den Zeitraum vom 22. Juni 2015 bis zum 19. Juli 2016 der Antrag auf Neufeststellung
abgelehnt worden ist. Bezogen auf den Zeitraum ab dem 20. Juli 2016 bleibt es hingegen bei der erstinstanzlich ausgesprochenen
Verpflichtung des Beklagten, einen GdB von 40 festzustellen; insoweit unterliegt der Bescheid des Beklagten vom 22. April
2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2014 der Änderung, was indes nicht Gegenstand der Berufung
des Beklagten und mithin nicht der Überprüfung durch den Senat ist.
Vorliegend wäre eine Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil nach §
125 SGG und nicht durch Gerichtsbescheid nach §
105 Abs.
1 SGG erforderlich gewesen. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG Stade aus diesem Grund ist jedoch einerseits rechtlich
nicht zulässig, da die Voraussetzungen des §
159 Abs.
1 SGG nicht vorliegen. Eine erstinstanzliche Sachentscheidung liegt vor und das Erfordernis einer umfassenden und aufwändigen Beweisaufnahme
besteht nicht. Andererseits erachtet der Senat im konkreten Fall eine solche Zurückverweisung auch nicht für zweckmäßig, da
sie zu einer Verzögerung des Verfahrens führen würde und dieser Nachteil im konkreten Fall durch entsprechende Vorteile -
insbesondere kommt hier die Verhinderung des Verlustes einer Gerichtsinstanz in Betracht - nicht aufgewogen wird.
Nach §
105 Abs.
1 SGG kann das Gericht nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache
keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Selbst eine
im Interesse der Entlastung der Rechtspflege, der die mit Wirkung zum 1. März 1993 erfolgte Neuregelung des §
105 SGG - die sich in der Praxis bewährt hat - dient, großzügige Auslegung der Voraussetzungen der Entscheidung durch Gerichtsbescheid
vermag jedoch im vorliegenden Fall diesen Entscheidungsweg nicht zu eröffnen. Die Voraussetzungen des §
105 Abs.
1 SGG sind hier offenkundig nicht erfüllt. Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist u. a. nur dann zulässig, wenn die Sache
keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweist. Nach dem Gerichtsbescheid des SG Stade ist jedoch entscheidungstragend
die Auslegung des in Teil B Nr. 9.2.2 VMG verwendeten Begriffs des "großen" Aneurysmas gewesen, was bereits deswegen eindeutig
eine besondere rechtliche Schwierigkeit darstellt, weil das SG Stade seine Entscheidung auf eine Rechtsauffassung gestützt
hat, die seitens des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin gemäß zweier vom SG Stade selbst eingeholter Stellungnahmen
vom 24. Oktober 2017 und vom 7. Dezember 2017 nicht geteilt wird. Zudem ist diese Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum
bislang nicht geklärt. Der genannten Rechtsfrage dürfte grundsätzliche Bedeutung zukommen, eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid
ist in derartigen Fällen ausgeschlossen. Denn eine grundsätzlich bedeutsame Rechtssache i. S. des §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG weist "besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art" auf und schließt deshalb eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid aus (Bundessozialgericht
- BSG -, Urteil vom 16. März 2006 - B 4 RA 59/04 R - juris Rn. 17). Grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne hat eine Rechtssache dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft,
die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat, höchstgerichtlich noch nicht geklärt ist und ihre Beantwortung sich
nicht unmittelbar und ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt (BSG, a. a. O., juris Rn. 18). Außerdem muss die Rechtsfrage im konkreten Einzelfall klärungsfähig, also entscheidungserheblich
sein. Die Voraussetzungen der grundsätzlichen Bedeutung lagen nach der Sichtweise des SG Stade, auf dessen Sicht es insoweit
ankommt (BSG, Urteil vom 21. August 2008 - B 13 RJ 44/05 R - juris Rn. 19), sämtlich vor.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist bezogen auf den Zeitraum vom 22.
Juni 2015 bis zum 19. Juli 2016 noch § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. §
69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) in der zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, während die zum 1. Januar 2018 in Kraft getretene Neufassung durch das Gesetz
zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016,
3234 ff.) insoweit noch keine Anwendung findet. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist im Schwerbehindertenrecht
bei einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung
des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig
ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt (vgl. Bundessozialgericht &61531;BSG&61533;, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 26 m. w. N.).
Nach §
69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der
Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei nach §
69 Abs.
1 S. 4
SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung
waren dabei bis zum 31. Dezember 2008 die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP). Dieses Bewertungssystem ist zum 1. Januar 2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen
abgelöst worden durch die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach §
69 Abs.
1 S. 5
SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15. Januar
2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der
die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen
aufgestellt werden (§
70 Abs.
2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. §
153 Abs.
2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene §
159 Abs.
7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5
SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten.
Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades
der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die AHP und die
zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts &61531;BSG&61533;, vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß §
69 Abs.
3 S. 1
SGB IX a. F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen
im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. §
2 Abs.
1 SGB IX) und die damit einhergehenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt
sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten
Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer
Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden.
Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich
verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen
zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen,
die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen
mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen
(Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung
ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach §
2 Abs.
1, §
69 Abs.
1 und
3 SGB IX a. F., wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei
der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen
nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der Bescheid des Beklagten vom 22. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10. September 2014 bezogen auf den noch streitgegenständlichen Zeitraum vom 22. Juni 2015 bis zum 19. Juli 2016 nicht
zu beanstanden. Der Beklagte hat für diesen Zeitraum vielmehr zu Recht die Feststellung eines höheren GdB im Vergleich zum
Bescheid vom 11. April 2007, mit welchem der GdB des Klägers ab dem 20. Februar 2007 mit 30 festgestellt worden war, abgelehnt.
Gegenüber der bei Erlass des Bescheides vom 11. April 2007 bestehenden Situation ist insoweit keine wesentliche Änderung eingetreten,
der GdB des Klägers war bis zum 19. Juli 2016 nach wie vor mit 30 korrekt bemessen. Weitere Funktionsstörungen und Beschwerden
des Klägers als die bereits festgestellten Wirbelsäulenbeschwerden rechtfertigten eine weitere Anhebung des GdB in Anwendung
von Teil A Nr. 3 d) ee) VMG in diesem Zeitraum nicht.
Dies gilt insbesondere für das nach Teil B Nr. 9.2.2 VMG zu bewertende Aneurysma. Diesbezüglich gilt wie in anderen Fällen
auch, dass anspruchsbegründenden Tatsachen zur vollen Überzeugung des Gerichts in der Weise nachgewiesen werden müssen, dass
vernünftige Zweifel nicht verbleiben und das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen zumindest mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Auch hinsichtlich des geltend gemachten Ausmaßes einer Gesundheitsstörung ist
für den Ausspruch einer entsprechenden Feststellung eine jeden vernünftigen Zweifel ausschießende volle Überzeugung erforderlich,
dass die Funktionsstörung in diesem Ausmaß vorliegt und die Möglichkeit einer lediglich mit einem geringeren GdB zu bewertenden
Störung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausscheidet. Verbleiben insoweit Zweifel, ist auch im Falle überwiegender
Wahrscheinlichkeit eines höher zu bewertenden Ausmaßes eine Höherbewertung nicht möglich, so lange deren Erforderlichkeit
auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht mit dem entsprechenden Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung
als erwiesen gelten kann.
Insoweit erweist sich die Annahme des SG Stade eines schnellstmöglich angenommenen Wachstums von 0,5 cm pro Jahr als spekulativ.
Zwar besteht hierfür eine gewisse Wahrscheinlichkeit, jedoch ergibt sich aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen (vgl.
Stellungnahme Dr. K. vom 6. Juni 2017 a. E.), dass es auch schneller wachsende Aneurysmen gibt, wofür zudem die Messung eines
Durchmessers des Aneurysmas des Klägers von zunächst 5,5 cm und wenige Wochen später die Feststellung eines Durchmessers von
5,9 cm spricht. Der Senat vermochte sich dementsprechend keine volle Überzeugung davon zu bilden, dass im kompletten streitgegenständlichen
Zeitraum bzw. für die Dauer von zumindest sechs Monaten (vgl. §
2 Abs.
1 S. 1
SGB IX) bereits ein "großes" Aneurysma von mehr als 5 cm Durchmesser gegeben war. Der erstmalige Zeitpunkt des Vorliegens eines
Aneurysmas dieser Größe lässt sich aufgrund von dessen Wachstum nicht mehr feststellen. Auch die Argumentation des Prozessbevollmächtigten
des Klägers im Schriftsatz vom 27. Dezember 2018 bewegt sich insoweit auf der Ebene der Spekulation. Ausgegangen vom dort
angenommenen Umstand, dass 80 % der Aneurysmen ein langsames Wachstum beschieden ist, trifft dies eben auf die restlichen
20 % nicht zu, so dass eine volle Überzeugungsbildung auf derartige Wahrscheinlichkeiten nicht gegründet werden kann.
Daher ist ein Anspruch des Klägers auf Feststellung der Schwerbehinderung im streitgegenständlichen Zeitraum vom 22. Juni
2015 bis zum 19. Juli 2016 auch auf der Grundlage der rechtlichen Annahme des SG Stade, ein "großes" Aneurysma sei ohne das
Hinzutreten weiterer Voraussetzungen bereits ein solches mit mindestens einem Durchmesser von 5 cm, mangels entsprechender
tatsächlicher Feststellungen nicht gegeben.
Zudem - und das stellt eine selbständig tragende Erwägung der Senatsentscheidung dar - teilt der Senat die genannte Rechtsauffassung
nicht. Denn es erscheint vollkommen systemwidrig, in Bezug auf "große" Aneurysmen in Anbetracht der Bewertung nach Teil B
Nr. 9.2.2 VMG allein - trotz fehlender Beschwerden - auf das Vorliegen eines bloßen Befundes abzustellen, der den Kläger in
seiner Alltagsfunktion nicht beeinträchtigt hat. Zwar stellen Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Kommentar,
8. Aufl. 2017, S. 236 (Teil B 9.2.2 VMG), unter Hinweis auf den Sachverständigenbeirat auf die "zusätzlich bestehende Gefährdung"
ab. Dies ist aber in anderen Fällen ebenfalls nicht maßgeblich. Dies zeigt etwa eine Parallelbetrachtung bei koronaren Herzerkrankungen,
bei denen auch lebensgefährlichste Gefäßverengungen bei der Bewertung nach 9.1 VMG unberücksichtigt bleiben, wenn sie - was
nicht ungewöhnlich ist - keine Funktionseinschränkungen verursachen (und sie zudem, wie es in derartigen Fällen häufig vorkommt,
ebenso wie zunächst das Aneurysma des Klägers unentdeckt sind). Auch eine ggf. erhöhte Rezidivgefahr bei Krebserkrankungen
bewirkt nach Ablauf der Heilungsbewährung keinen eigenständigen GdB. Regelmäßig entscheidend für den festzustellenden GdB
ist nicht eine bestimmte Diagnose, sondern allein die Funktionsstörung in ihren konkreten Auswirkungen. Dies ist ein Grundsatz,
der das gesamte Bewertungsschema der VMG durchdringt.
Dementsprechend erscheint es bedenklich, bei nach Teil B Nr. 9.2.2 VMG zu bewertenden "großen" Aneurysmen in Anbetracht des
Wortlauts allein auf den Befund abzustellen. Der systematische Zusammenhang des Regelwerkes spricht insoweit deutlich gegen
eine derartige Auslegung. Zu bewerten sind demnach auch Aneurysmen zunächst nach den Kriterien lokaler Funktionsstörung und
Einschränkung der Belastbarkeit, wie dies jedenfalls im Bewertungsrahmen von 0 - 40 nach ausdrücklicher Darstellung in Teil
B Nr. 9.2.2 VMG auch klargestellt worden ist. Es stellt vor diesem Hintergrund nach Systematik, Sinn und Zweck der VMG kein
überzeugendes und nachvollziehbares Auslegungsergebnis dar, wenn für den sehr hohen Einzel-GdB bei "großen" Aneurysmen plötzlich
vollständig sowohl auf diese Kriterien als auch - was bereits der Grundnorm des in §
2 Abs.
1 SGB IX definierten Behinderungsbegriffs widersprechen würde - auf jegliche Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
verzichtet werden sollte. Der hier favorisierten Sichtweise entsprechen auch die Ausführungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats
Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Zu nennen ist hier zunächst die Stellungnahme vom 24. Oktober
2017, wonach maßgeblich für den Begriff des "großen" Aneurysmas das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung sei. Es seien hierbei
auch funktionelle Kriterien zu berücksichtigen, die zu einer Einschränkung der Belastbarkeit führten. In der weiteren Stellungnahme
vom 7. Dezember 2017 wird insoweit nochmals ausdrücklich darauf abgestellt, entsprechend dem biopsychosozialen Verständnis
des modernen Behinderungsbegriffs seien allein die Auswirkungen der Gesundheitsstörung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
maßgeblich, nicht jedoch bestimmte Diagnosen oder Befunde.
Hinzu tritt als weitere Erwägung, dass das Aneurysma im Falle des Klägers vor dem 21. Juni 2016 nicht einmal diagnostiziert
war und keinerlei eigenständige Beschwerden verursachte, die sich nicht mit den bereits mit einem Einzel-GdB von 30 bewerteten
Rückenbeschwerden vollständig i. S. von Teil A Nr. 3 d) cc) VMG überschneiden und die daher eine ernsthafte Erwägung einer
Erhöhung des GdB des Klägers zuließen. Vor dem Hintergrund dieser Regelung wäre ein höherer GdB auch dann nicht festzustellen,
wenn die bereits in die Bemessung des GdB eingeflossenen Rückenbeschwerden ganz oder teilweise auf das Aneurysma zurückzuführen
waren.
Eine Parallelbetrachtung der Bewertung der ebenfalls außerordentlich gefährlichen und die Teilhabe in außergewöhnlich hohem
Maße einschränkenden Krebserkrankungen zeigt insoweit, dass nach der Systematik der VMG solche Krankheitsbilder, die keine
Beschwerden verursachen, vor ihrer Diagnose und Therapie auch im Falle hierdurch bestehender Lebensgefahr keine mit einem
GdB zu bewertenden Teilhabebeeinträchtigungen darstellen, falls der Betroffene nicht durch Symptome oder Auswirkungen dieser
Erkrankung in seiner Teilhabe beeinträchtigt wird. So hat etwa das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in einem Urteil vom
22. März 2017 (L 2 SB 86/15 - juris Rn. 108 ff.; siehe auch Senatsurteil vom 26. September 2017 - L 13 SB 43/16) zu einer Nierenkrebserkrankung ausgeführt, selbst wenn unterstellt würde, dass die zuvor dokumentierte Raumforderung im
Bereich der rechten Niere schon den später diagnostizierten bösartigen Tumor umfasst hätte und dieser Tumor bereits bei Antragstellung
vorgelegen hätte, könne für diesen Nierenschaden mangels funktioneller Einschränkungen im Bereich der Nierenfunktion kein
Einzel-GdB angesetzt werden. Die Frage des tatsächlichen Vorliegens der Krebserkrankung zu jenem früheren Zeitpunkt könne
daher offenbleiben (Bayerisches LSG, a. a. O., Rn. 108). Die Anhaltswerte für die Bewertung des GdB zur Zeit der Heilungsbewährung
seien auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen (a. a. O., Rn. 113); maßgeblicher
Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung sei der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie
als beseitigt angesehen werden könne. Hiermit trage der Verordnungsgeber der Sondersituation bei bösartigen Geschwulsterkrankungen
Rechnung, weil die mit einer solchen Erkrankung verbundenen funktionellen Einschränkungen regelmäßig nur einen niedrigeren
GdB zuließen (a. a. O., Rn. 114 f.). Angesichts der eindeutigen Regelung zum maßgeblichen Beginn der Heilungsbewährung - die
Beseitigung der Geschwulst - komme eine Anwendung der Heilungsbewährungsregelung für die Zeit vor der Operation nicht in Betracht.
Eine entsprechende bzw. analoge Anwendung dieser Sonderregelung sei auch nicht angezeigt, weil sich für die Zeit vor der Operation
die Höhe des Einzel-GdB nach den nachgewiesenen funktionellen Einschränkungen durch die Geschwulsterkrankung richte (a. a.O.,
Rn. 117). Die organisch bedingten funktionellen Einschränkungen im Bereich der Niere vermöchten aber bezogen auf den dort
entschiedenen Fall keinen Einzel-GdB zu begründen.
Dies entspricht dem generellen Beurteilungsschema der VMG, wonach regelmäßig die nachgewiesenen funktionellen Einschränkungen
für den GdB in prägender Weise maßgeblich sind. Vor der Diagnosestellung bestehen die vielfältigen körperlichen und seelischen
Auswirkungen einer Krebserkrankung, die in ihrer Gesamtheit die Vergabe der Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigen, regelmäßig
nicht (Senat, Urteil vom 26. September 2017, a. a. O.).
Der Senat sieht es ebenso wie der Ärztliche Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und
Soziales nicht für gerechtfertigt an, insoweit bei "großen Aneurysmen" aufgrund des missverständlichen Wortlauts der VMG eine
Ausnahme zuzulassen. Funktionelle Einschränkungen oder sonstige Beeinträchtigungen seiner Teilhabemöglichkeiten aber bestanden
für den Kläger aufgrund des ihm nicht bekannten Aneurysmas im streitgegenständlichen Zeitraum nicht.
Nach der Diagnose vom 21. Juni 2016 bestand die Gesundheitsstörung im festgestellten Ausmaß nicht mehr prognostisch für einen
Zeitraum von mehr als sechs Monaten (Teil A Nr. 2 f VMG), sondern wurde umgehend operativ versorgt und rechtfertigt seither
- wie das SG Stade im Gerichtsbescheid vom 5. September 2018 zutreffend ausgeführt hat - lediglich noch einen Einzel-GdB von
20 als Zustand nach einem größeren gefäßchirurgischen Eingriff in Anwendung von Teil B Nr. 9.2.2 VMG.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
1 und Abs.
2 SGG liegen nicht vor, da die Annahme des Vorliegens eines "großen" Aneurysmas i. S. von Teil B Nr. 9.2.2 VMG bereits auf tatsächlicher
Ebene scheitert und es auf die Entscheidung der vorstehend diskutierten Rechtsfrage, der grundsätzliche Bedeutung zukäme,
daher nicht mehr ankommt.