Beendigung des sozialgerichtlichen Verfahrens durch Rücknahmefiktion
Voraussetzungen für die Klagerücknahmefiktion
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob das Verfahren durch Rücknahmefiktion beendet ist.
Im zu Grunde liegenden Verfahren wendet der Kläger sich gegen die im Bescheid vom 04.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19.08.2008 ausgesprochene Aufhebung und geltend gemachte Rückforderung bewilligter Leistungen nach dem SGB II. Die Beklagte stützt die Aufhebung darauf, dass die Ehefrau des Klägers Einnahmen gehabt habe, die bei der Berechnung der
Leistungen nicht berücksichtigt worden seien. Der Kläger stellte sich auf den Standpunkt, er habe von den Einnahmen seiner
- inzwischen - Ex-Ehefrau nichts gewusst, weil damals schon Spannungen zwischen ihnen bestanden hätten.
Am 22.09.2008 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Dortmund Klage erhoben. Mit Schreiben vom 14.10.2008 richtete das Sozialgericht
an den Bevollmächtigten die Anfrage, ob es Beanstandungen gebe gegenüber der Berechnung des Übergangsgeldes. Nachdem hierauf
keine Reaktion erfolgte, wurde mit Verfügung vom 18.11.2008 an die Erledigung erinnert. Daraufhin teilte der Bevollmächtigte
mit Schriftsatz vom 25.11.2008, der am gleichen Tage beim Sozialgericht einging, mit, er beantrage zunächst Akteneinsicht
und wolle danach Stellung nehmen. Mit Verfügung vom 27.11.2008 übersandte das Sozialgericht dem Bevollmächtigten eine Korrektur
des Schreibens vom 14.10.2008, in der der Begriff Übergangsgeld gegen den richtigen Begriff Überzahlungsbetrag ausgetauscht
wurde. Nach erfolgter Akteneinsicht teilte der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 18.12.2008 mit, es werde noch Stellung
genommen, die Überzahlungsbeträge seien auf jeden Fall zu hoch.
Nachdem daraufhin keine weitere Stellungnahme erfolgte, stellte das Sozialgericht dem Bevollmächtigten am 02.03.2009 eine
Betreibensaufforderung zu. Darin wurde er insbesondere aufgefordert, die angekündigte Stellungnahme einzureichen und das Schreiben
des Gerichts vom 14.10.2008 zu beantworten. Ferner wurde er darauf hingewiesen, falls er dieser Aufforderung nicht binnen
drei Monaten nachkommen werde, gelte die Klage nach §
102 Abs.
2 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) als zurückgenommen. Die Betreibensaufforderung war vom Vorsitzenden unterschrieben. Nachdem keine Reaktion erfolgte, wurde
das Verfahren als erledigt ausgetragen und die Beteiligten mit Verfügung vom 19.06.2009 darüber informiert, dass das Verfahren
nach §
102 Abs.
2 SGG als erledigt betrachtet werde.
Daraufhin teilte der Bevollmächtigte mit einem am 23.06.2009 eingegangenen Schriftsatz mit, es werde nicht akzeptiert, dass
das Verfahren als erledigt gelte. Die Voraussetzungen des §
102 Abs.
2 SGG lägen nicht vor. Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestünden nicht, die Klage sei schon mit Erhebung
begründet worden. Auch nach der Akteneinsicht sei mitgeteilt worden, dass Interesse am Fortgang des Verfahrens bestünde.
Der Kläger hat beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund von 17.06.2013 abzuändern und den Bescheid vom 04.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19.08.2008 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte vertrat die Auffassung, die Voraussetzungen des §
102 Abs.
2 SGG seien gegeben.
Das Sozialgericht hat daraufhin mit Urteil vom 17.06.2013 festgestellt, dass die Klage zurückgenommen ist. Die Voraussetzungen
des §
102 Abs.
2 SGG lägen vor. Dem Bevollmächtigten des Klägers sei eine Betreibensaufforderung zugestellt worden, die alle formalen Voraussetzungen
erfüllt habe. Weitere sachliche Voraussetzung für die Klagerücknahmefiktion sei es, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen
sei. Diese Voraussetzung sei gegeben, denn der Kläger habe angekündigt, eine Stellungnahme abgeben zu wollen. Dies sei innerhalb
eines Zeitraums von zwei Monaten vor Abfassen der Betreibensaufforderung nicht erfolgt, daraus habe sich der Eindruck aufgedrängt,
dass kein Interesse mehr am Verfahren bestünde.
Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten am 01.07.2013 zugestellt.
Hiergegen richtet sich die Berufung vom 11.07.2013. Die Voraussetzungen des §
102 Abs.
2 SGG seien ersichtlich nicht gegeben. Das Sozialgericht verkenne den Ausnahmecharakter der Vorschrift. Hier sei vielmehr erkennbar,
dass das Gericht das Verfahren nicht betrieben habe. Die Klage richte sich gegen einen Bescheid aus dem Jahre 2007 und werde
im Jahre 2013, also sechs Jahre später, als zurückgenommen fingiert. Das Sozialgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass
nach Juni 2009 noch zahlreiche Schriftsätze eingereicht worden seien, zu diesen seien auch noch Stellungnahmen des Beklagten
eingegangen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 17.6.2013 abzuändern und den Bescheid vom 4.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19.8.2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Es entspreche nicht den Tatsachen, dass das Verfahren erst
im Jahre 2013 als zurückgenommen angesehen worden sei, das sei bereits im Jahre 2009 erfolgt. Die Voraussetzungen für die
damalige Betreibensaufforderung hätten vorgelegen.
Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten, die der
Senat beigezogen hat und deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, sowie auf den Vortrag der Beteiligten
im Übrigen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage zurückgenommen ist.
Die Voraussetzungen des §
102 Abs.
2 SGG lagen vor. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen
Entscheidung, die er sich nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu Eigen macht (§
153 Abs.
2 SGG).
Auch aus dem Berufungsverfahren ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung.
Bedenken gegen die formellen Anforderungen an die Betreibensaufforderung sind nicht ersichtlich. Die Betreibensaufforderung
ist der gesetzlichen Vorschrift des §
102 Abs.
2 SGG entsprechend ergangen.
Es bestehen auch keine Bedenken gegen die Annahme des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses. Hierfür sind die Umstände des Einzelfalls
maßgeblich (Eschner in Jansen,
SGG, 4. Auflage 2012, §
102 Rdz 13). Im zu Grunde liegenden Sachverhalt ist festzustellen, dass der Kläger selbst angekündigt hat, nach erfolgter Akteneinsicht
eine Stellungnahme abgeben zu wollen, insbesondere vorzutragen, aus welchem Grunde seiner Meinung nach der überzahlte Betrag
auf jeden Fall zu hoch ist. Damit hatte er zu erkennen gegeben, neben der Anfechtung der Rücknahme dem Grunde nach auch die
Höhe der Forderung streitig zu stellen. Diese Stellungnahme ist von Mitte Dezember 2008 bis Anfang März 2009, also über einen
Zeitraum von mehr als zwei Monaten, nicht erfolgt. Daraufhin erging die Betreibensaufforderung, auf die hin trotz der am 02.06.2009
ablaufenden dreimonatigen Fristsetzung, selbst dann noch bis 19.06.2009 keine Stellungnahme erfolgte. Wenn ein anwaltlich
vertretener Kläger die Gewährung von Akteneinsicht beantragt, um sich auf diese Weise Informationen für seinen Sachvortrag
zu verschaffen, den er dann auch noch ankündigt, setzt er sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch, wenn er das Verfahren
über einen Zeitraum von insgesamt mehr als fünf Monaten nicht mehr betreibt und selbst auf eine gerichtliche Aufforderung,
die in seinem Interesse ergangen ist, nicht reagiert. Aus dem so dokumentierten Desinteresse am Fortgang des Verfahrens konnte
das Sozialgericht daher nur den Schluss ziehen, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers entfallen und deshalb nicht mehr
schützenswert ist. Indiziert wird dies insbesondere durch die ignorierte Betreibensaufforderung (Leitherer in Meyer Ladewig,
Kommentar zum
SGG, 11. Auflage 2014, §
102, Rdz 8a (a. E.)). Der Kläger wäre gehalten gewesen, durch eine Reaktion seinerseits dieses Indiz zu widerlegen, sei es auch
nur mitzuteilen, dass kein weiterer Vortrag beabsichtigt sei.
Der Vortrag des Klägers zur Begründung seiner Berufung liegt neben der Sache. Mit der Rücknahmefiktion gilt das Verfahren
als erledigt. Besteht Streit über die Wirksamkeit der Rücknahme, trifft das Gericht hierüber eine Entscheidung. Streitgegenstand
kann dann folgerichtig nur die Frage sein, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der Rücknahmefiktion gegeben sind. Wenn das Gericht
der Auffassung ist, die Klage sei wirksam zurückgenommen - davon ist das Sozialgericht entgegen der Auffassung des Klägers
bereits im Jahre 2009 ausgegangen - spricht es dies durch Urteil aus. Nach gegenteiliger Auffassung ist die Klage als unzulässig
abzuweisen, weil einer Entscheidung in der Sache die durch Klagerücknahme beseitigte Rechtshängigkeit entgegensteht (Eschner,
a. a. O. Rdz 27). Auch daraus ergibt sich aber, dass selbst unter Zugrundelegung dieser Auffassung Streitgegenstand des Verfahrens
nicht mehr der materielle Anspruch sein kann. Angesichts dessen kommt es auf den Vortrag des Klägers zum weiteren Verlauf
des Verfahrens nach Annahme von dessen Erledigung nicht mehr an, abgesehen davon, dass der Vortrag des Klägers zur Chronologie
des Verfahrens nicht den Tatsachen entspricht. Streitgegenstand des Verfahrens kann auch nicht mehr der materielle Anspruch
werden, nur weil der Beklagte sich inhaltlich hierzu geäußert hat. Die von Amts wegen zu prüfenden Prozessvoraussetzungen
stehen nicht zur Disposition der Beteiligten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG
Revisionszulassungsgründe sind nicht gegeben (§
160 Abs.
2 SGG). Es handelt sich um eine typische Einzelfallentscheidung.