Unzulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren bei nicht fristgerechter Einlegung
Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus gesundheitlichen Gründen
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die endgültige Entscheidung über Grundsicherungsleistungen und eine darauf beruhende Erstattungsentscheidung
des Beklagten für den Zeitraum vom 1. November 2016 bis 30. April 2017.
Die Klägerin zu 1) ist seit 1999 selbständig tätig und betreibt einen Online-Handel mit Kosmetik- und Textilwaren und bezieht
zusammen mit ihrer 2004 geborenen Tochter, der Klägerin zu 2), aufstockend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II).
Die Klägerin zu 1) nahm im Dezember 2015 eine Darlehenssumme i.H.v. 21.000 EUR auf, welches ihr am 9. Dezember 2015 auf das
eigene Konto überwiesen wurde. Der Darlehensvertrag wurde mit der Klägerin zu 1) als Privatperson geschlossen und enthält
keinen unmittelbaren schriftlichen Bezug zur ihrer selbständigen Tätigkeit. Das Darlehen wird seit Februar 2016 von der Klägerin
zu 1) mit monatlichen Raten i.H.v. 355,00 EUR getilgt. Vom selben Konto wurden seitdem u.a. Beträge mit dem Betreff "F", "Steuerberater",
"j AG", "u AG" sowie "Finanzamt" wiederholt in nicht unerheblicher Höhe abgebucht.
Die Klägerinnen zogen im ersten Quartal 2016 in eine neue Wohnung.
Am 31. Mai 2016 beantragte die Klägerin zu 1) für sich und ihre Tochter aufstockend Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 25. August 2016 gewährte der Beklagte endgültig Leistungen für die Monate Mai bis Oktober 2016 von jeweils
1.487,48 EUR.
Mit dem Weiterbewilligungsantrag vom 19. September 2016 reichte die Klägerin zu 1) eine vorläufige Erklärung zum Einkommen
aus selbständiger Tätigkeit (EKS) für den Zeitraum vom 1. November 2016 bis zum 30. April 2017 sowie weitere betriebsbezogene
Unterlagen ein. Dabei gab sie an, Belastungen für die Tilgung eines betrieblichen Darlehens i.H.v. 2.130,00 EUR gehabt zu
haben.
Mit Bescheid vom 29. Dezember 2016 gewährte der Beklagte vorläufig Leistungen für die Monate November und Dezember 2016 i.H.v.
jeweils 364,28 Euro und für die Monate Januar bis April 2017 i.H.v. jeweils 388,88 Euro. Dabei wich der Beklagte von den klägerischen
Angaben zu den betrieblichen Ausgaben ab. Mit Änderungsbescheid vom 23. Februar 2017 setzte der Beklagte den vorläufigen Leistungsanspruch
der Klägerinnen neu fest; für die Monate November und Dezember 2016 i.H.v. jeweils 1.010,60 EUR und für die Monate Januar
bis April 2017 i.H.v. jeweils 1.035,20 EUR. Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 29. Dezember 2016 wies der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2017 im Übrigen zurück.
Am 31. Juli 2017 reichten die Klägerinnen eine abschließende EKS für die Monate November 2016 bis April 2017 ein. Nach Anhörung
der Klägerinnen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 23. Oktober 2017 Grundsicherungsleistungen für die Monate November 2016
bis April 2017 mangels Hilfebedürftigkeit endgültig ab und forderte mit Bescheid vom gleichen Tag eine Erstattung i.H.v. insgesamt
6.162,00 Euro.
Auf den Widerspruch der Klägerinnen vom 30. Oktober 2018 änderte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 9. November 2017 den
angefochtenen Bescheid vom 23. Oktober 2017 ab.
Bereits am 11. Dezember 2017 erhoben die Klägerinnen dagegen Klage bei dem Sozialgericht Lübeck. Mit Widerspruchsbescheid
vom 4. Januar 2017 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23. Oktober 2017 zurück.
Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17. Dezember 2019 hat das Sozialgericht der Klage teilweise stattgegeben
und im Übrigen abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen, Bl. 61 ff der Gerichtsakte.
Gegen die der Klägerin zu 1) am 12. Februar 2020 zugestellte Entscheidung richtet sich der am 16. März 2020 bei dem Sozialgericht
Lübeck eingegangene Schriftsatz vom 11. März 2020, mit dem die Klägerin zu 1) in den Verfahren S 42 AS 578/18 und S 42 AS 1178/17 Berufung beantragen will und eine zeitnahe Begründung ankündigt. Die Berufung hat das Sozialgericht zuständigkeitshalber
am 20. März 2020 an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht weitergeleitet.
Mit Schriftsatz vom 4. Mai 2020, eingegangen am 8. Mai 2020, hat die Klägerin zu 1) die Berufung begründet. Mit gerichtlicher
Verfügung vom 12. Mai 2020 ist die Klägerin zu 1) darauf hingewiesen worden, dass die Berufung nicht fristgemäß erhoben worden
sei und aufgefordert worden, darzulegen, welche Anstrengungen sie unternommen habe, um den am 11. März 2020 gefertigten Schriftsatz
aufzugeben habe. Mit weiterer Verfügung vom 4. Juni 2020 ist die Klägerin zu 1) darauf aufmerksam gemacht worden, dass weder
die Bestätigung eines Unfalles noch eine Arbeitsunfähigkeit zur Beurteilung der Wiedereinsetzung ausreichend sei. Ferner wurde
sie aufgefordert, die näheren Umstände zum Versand des Berufungsschreibens mitzuteilen.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2020 hat der Senat eine Entscheidung nach §
158 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in Aussicht gestellt und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die
beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 11. Dezember 2019 (Az.: S 42 AS 578/18) ist als unzulässig zu verwerfen (vgl. §
158 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes [SGG]). Die Berufung ist nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt worden (vgl. §
151 SGG). Die Entscheidung konnte gemäß §
158 Satz 2
SGG durch Beschluss ergehen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht für erforderlich erachtet. Die Beteiligten
wurden zur beabsichtigten Entscheidung durch Beschluss mit dem Schreiben des Gerichts vom 14. Juli 2020 angehört.
Gemäß §
151 Abs.
1 SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll
des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Nach §
151 Abs.
2 SGG ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll
des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das
Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.
Gemäß §
64 Abs.
1 SGG beginnt der Lauf einer Frist, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit dem Tag nach der Zustellung oder, wenn diese nicht
vorgeschrieben ist, mit dem Tag nach der Eröffnung oder Verkündung. Gemäß §
64 Abs.
2 SGG endet eine nach Monaten bestimmte Frist mit dem Ablauf des letzten Monats, welcher nach Benennung oder Zahl dem Tag entspricht,
in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder
einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages (vgl. §
64 Abs.
3 SGG).
Das Urteil vom 11. Dezember 2019 ist den Klägerinnen am 12. Februar 2020 mit Postzustellungsurkunde durch Einlegen in den
Briefkasten (§
63 SGG i.V.m. §§
176,
180 Zivilprozessordnung (
ZPO)) zugestellt worden. Somit begann die Monatsfrist am 13. Februar 2020 (§
64 Abs.
1 SGG) und endete am Donnerstag, dem 12. März 2020 (§
64 Abs.
2 SGG). Die Berufungsschrift der Klägerin zu 1) vom 11. März 2020 ging ausweislich des Eingangsstempels erst am Montag, dem 16.
März 2020 beim Sozialgericht Lübeck ein. Die Berufung wurde folglich zu spät eingelegt.
Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht gegeben.
Nach §
67 Abs.
1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war,
eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach §
67 Abs.
2 SGG ist der Antrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen
glaubhaft gemacht werden. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann
die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden. Ein Verschulden im Sinne von §
67 Abs.
1 SGG liegt grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt
außer Acht gelassen wurde. Zudem sind besondere Anforderungen an die Sorgfalt der Beteiligten zu stellen, wenn diese - wie
vorliegend - die zu wahrende Frist vollständig ausnutzen. Zwar dürfen die vom Gesetz eingeräumten Fristen bis zu ihren Grenzen
ausgenutzt werden (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 1976 - 10 RV 225/75 -Rn. 12, juris). Jedoch werden die Grenzen zusätzlich durch den Postbeförderungslauf, den Dienstbetrieb und sonstige Umstände
gezogen, so dass die Risiken, eine Frist zu versäumen, steigen, wenn diese voll ausgeschöpft wird.
Die Klägerin zu 1) hat nicht glaubhaft gemacht, dass sie aus gesundheitlichen Gründen unfähig war, die Berufung rechtzeitig
einzulegen. Zwar hat die Klägerin zu 1) auf den Hinweis des Senats, dass die Berufung verspätet bei dem Sozialgericht Lübeck
eingegangen ist, auf einen Unfall am 14. Januar 2020 hingewiesen. Die Klägerin zu 1) ist von ihrem langsam auf sie zurollenden
PKW erfasst und mit dem linken Unterschenkel an einer Wand eingequetscht worden, nachdem sie beim Öffnen ihres Garagentores
- nach dem Aussteigen aus dem PKW - vergessen hat die Handbremse zu betätigen. Dazu hat die Klägerin zu 1) den Entlassungsbericht
des A_________-Krankenhauses bezogen auf einen stationären Aufenthalt vom 14. Januar 2020 bis 16. Februar 2020 zur Akte gereicht,
der eine komplexe Unterschenkelfraktur links mit Komplikationen beschreibt. Ferner hat sie ein ärztliches Attest ("zur Vorlage
beim Jobcenter") vom 12. März 2020 vorgelegt, dass eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht vor dem 1. Juli 2020
bestätigt. Ein weiteres Attest ("zur Vorlage Beim Sozialgericht") vom 12. Juni 2020 bestätigt die hausärztliche Behandlung
und die dreimal wöchentlich erfolgte Vorstellung zur Wundbehandlung in der Praxis ab dem 18. Februar 2020. Zudem hat die Klägerin
zu 1) auf eine an das Verwaltungspostfach des Sozialgerichts Lübeck gerichtete E-Mail vom Mittwoch, dem 11. März 2020 (21.39
Uhr) hingewiesen, mit der sie "fristgerecht vorab per Mail und schriftlich folgend" zum Verfahren S 42 AS 1178/17 und S 42 AS 578/18 Berufung beantragt hat. Auf Nachfrage hat die Klägerin zu 1) weiter angegeben, ein Freund - R__________ - habe ihr bei dem
Brief - gemeint ist offensichtlich der Berufungsschriftsatz vom 11. März 2020 - sehr geholfen. Er habe über viele Tage immer
wieder auf ihren Wunsch den Inhalt ihres Schreibens in den PC getippt, dann das fertige Schreiben in ihrem Beisein in den
Briefumschlag gelegt und sich auch um die Frankierung gekümmert, da sie keine Briefmarken vorrätig gehabt habe.
Weder aus den ärztlichen Attesten und der Angabe einer Arbeitsunfähigkeit bis zum 1. Juli 2020 noch dem Entlassungsbericht
des A_________-Krankenhauses ergeben sich Hinweise auf die gesundheitliche Unfähigkeit, eine Berufung einzulegen. Insbesondere
lässt sich den medizinischen Unterlagen nicht entnehmen, dass ihre Fähigkeit, einen kurzen Brief - wie der am 11. März 2020
- zu verfassen, ununterbrochen aufgehoben war, zumal dieses Schreiben über den Inhalt der am Vortag aufgegebenen E-Mail nicht
hinausging. Zwar erscheint es gemäß dem Vorbringen der Klägerin zu 1) nicht ausgeschlossen, dass jemand, der unter Dauerschmerzen
leidet und deswegen hoch dosiert Schmerzmittel einnehmen muss, an Konzentrationsstörungen leiden kann. Atteste der sie behandelnden
Ärzte, denen zufolge sie medikamentenbedingt außerstande war, die Berufungsfrist einzuhalten, hat sie hingegen nicht zur Akte
gereicht, obwohl ihr mit Verfügung der Berichterstatterin vom 12. Mai 2020 und 4. Juni 2020 Gelegenheit zur Begründung und
Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsantrags gegeben worden ist. Dass die Klägerin zu 1) trotz der beklagten Konzentrationsprobleme
grundsätzlich in der Lage war, ihre rechtlichen Interessen zu wahren, dokumentiert ihre in der Berufungsfrist liegende E-Mail.
Zudem hat die Klägerin zu 1) - trotz entsprechender Nachfrage der Berichterstatterin vom 4. Juni 2020 - nicht glaubhaft gemacht,
dass sie die von ihr mit dem Versand beauftragte Person auf die am 12. März 2020 ablaufende Berufungsfrist hingewiesen hat,
um für einen fristgerechten Zugang Sorge zu tragen. Warum zudem die mit der Klägerin zu 1) in einem Haushalt lebende Klägerin
zu 2), die 2004 geborene Tochter, die fristgerechte Erstellung des kurzen Berufungsschriftsatzes sowie deren Versand nicht
übernehmen konnte, erschließt sich nicht.
Der Umstand, dass die Klägerin zu 1) am Tag vor Ablauf der Berufungsfrist, dem 11. März 2020 um 21.39 Uhr, eine E-Mail an
das Verwaltungspostfach des Sozialgerichts Lübeck gesandt hat, vermag eine fristgemäße Berufung nicht zu ersetzen und eine
Wiedereinsetzung nicht zu begründen. Die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils weist zutreffend darauf hin, dass
die Berufung auch elektronisch eingelegt werden kann, dass es insoweit aber einer qualifizierten elektronischen Signatur bedarf
und das Schriftstück zudem über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach einzureichen ist. Eine einfache E-Mail
an das Verwaltungspostfach des Sozialgerichts reicht nicht. Darauf weist der Internetauftritt des Sozialgerichts Lübeck ausdrücklich
hin: "Über die E-Mail-Adresse des Sozialgerichts Lübeck (verwaltung@sg-luebeck.landsh.de) können Sie sich mit Fragen und Anregungen
an die Gerichtsverwaltung wenden. Elektronischer Rechtsverkehr (Klageerhebung et cetera) ist darüber nicht möglich (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LSG/
Sozialgerichte/_documents/ sozialgericht _Luebeck.html). Vor diesem Hintergrund sind an das Verwaltungspostfach gerichtete
E-Mails nicht zur Gerichtsakte zu nehmen und nicht geeignet, Fristen zu wahren. Angesichts des eindeutigen Hinweises in der
Rechtsmittelbelehrung und auf der Website des Sozialgerichts Lübeck, wonach die Einlegung einer Berufung mit einfacher E-Mail
regelmäßig nicht den Formerfordernissen genügt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. April 2016 - L 13 R 4912/15 -, juris), bedurfte es auch keines weiteren Hinweises des Sozialgerichts, dass die E-Mail zur Fristwahrung nicht geeignet
ist. Insoweit liegt auch kein fehlerhaftes Verhalten des Sozialgerichts und damit keine Mitverantwortung für das Fristversäumnis
vor, dass den Senat zur Gewährung der Wiedereinsetzung veranlassen müsste.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.