Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung einer Divergenz; Anspruch auf Prozesskostenhilfe
Gründe:
Die am 15. Mai 2012 bei dem Thüringer Landessozialgericht eingelegte Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der
Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 2. April 2012, ihnen zugestellt am 18. April 2012 ist zulässig, insbesondere
statthaft.
Die Berufung bedarf der Zulassung durch den Senat, weil sie weder von dem SG zugelassen noch ohne Zulassung statthaft ist.
Nach §
144 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts,
wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt
betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als
ein Jahr betrifft (§
144 Abs.
1 S. 2
SGG).
Vorliegend ist allein eine Rückforderung in Höhe von 34,89 Euro für den Kalendermonat August 2010 gegenständlich erfasst.
Die Berufung ist nach §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG zuzulassen, weil das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
Eine die Zulassung begründende Abweichung liegt vor, wenn erstens das SG bewusst einen abstrakten Rechtssatz seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, der zweitens im Zeitpunkt der Entscheidung über
die Beschwerde von einem abstrakten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, des Bundessozialgerichts bzw. des Gemeinsamen
Senats der obersten Gerichte des Bundes oder eines Landessozialgerichts abweicht und drittens für die Entscheidung von tragender
Bedeutung ist.
Der vorbezeichnete Rechtssatz ist der Entscheidung des SG nur zu entnehmen, wenn es im Einzelfall bewusst eine Rechtsfrage geklärt hat, deren Beantwortung ein über den Einzelfall
hinaus gültigen Rechtssatz bei verständiger Auslegung der Entscheidungsgründe des SG erkennen lässt (vgl. zu §
160a SGG: BSG, Beschluss vom 4. Dezember 2007 - B 2 U 165/05, juris; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl., Rn. 389 m.w.N.).
Der vorbenannte Rechtssatz des SG weicht von der obergerichtlichen Rechtsprechung ab, wenn er objektiv im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde einem
abstrakten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, des Bundessozialgerichts bzw. des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte
des Bundes oder des örtlich zuständigen Landessozialgerichts (hierzu: Leitherer in Meyer-Ladewig, u.a.,
SGG, 10. Aufl., §
144 Rn. 30) zu derselben Rechtsmaterie (hierzu: Leitherer, aaO. Rn. 13a m.w.N.) widerspricht, auch wenn das dem SG im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht bewusst gewesen ist oder aufgrund der erst nach seiner Entscheidung ergangenen obergerichtlichen
Rechtsprechung noch nicht einmal hätte bewusst sein können (vgl. zur Begründungsfrist des §
160a Abs.
2 SGG: BSG, Beschluss vom 29. November 1989 - 7 BAr 130/88, juris; Leitherer in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 10. Aufl., § 160 Rn. 12). Nicht ausreichend hierfür ist, dass das SG die obergerichtliche Rechtsprechung lediglich fehlerhaft anwendet, d.h. lediglich die Reichweite des obergerichtlichen rechtlichen
Maßstabs bei der Anwendung im konkreten Einzelfall verkennt, obwohl es ihn seiner Entscheidung zugrunde legen will (zu §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG: vgl. BSG, Beschluss vom 4. Dezember 2007 - B 2 U 165/05, juris m.w.N.).
Von tragender Bedeutung ist die Abweichung einerseits nur, wenn die angefochtene Entscheidung auf der festzustellenden Abweichung
beruht, d.h. auf Grundlage des abweichenden obergerichtlichen Maßstabs eine andere Entscheidung hätte ergehen müssen (zu §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG: BSG, Beschluss vom 26. Januar 2005 - B 12 KR 62/04 B, juris; Leitherer in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 10. Aufl., §
160 Rn. 15 m.w.N.). Andererseits ist die tragende Bedeutung selbst dann zu verneinen, wenn in dem zuzulassenden Rechtsmittelverfahren
die angefochtene Entscheidung auf einen anderen, nicht von der Abweichung erfassten Rechtssatz gestützt werden kann (vgl.
für Revision: BSG, Beschluss vom 4. Juli 2011 - B 14 AS 20/11 B, juris m.w.N.).
Durch die nach §
136 Abs.
3 SGG zulässige Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Widerspruchbescheids des Beklagten hat das SG zu erkennen gegeben, dass es seiner Entscheidung den Rechtssatz zugrunde gelegt hat, dass nach Kenntnis der genauen Höhe
des anrechenbaren Einkommens eine Abänderung der endgültigen Bewilligung nach §§ 40 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 SGB II a.F., 330 Abs. 3 S. 1 SGB X, § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, S. 3 SGB X - unter weiteren Voraussetzungen - für die Vergangenheit zu erfolgen hat, wenn der Leistungsträger im Zeitpunkt des Erlasses
des Bewilligungsbescheids mit einer endgültigen Festsetzung der Leistungshöhe bereits Kenntnis vom Zufluss anrechenbaren Einkommens
in noch ungewisser Höhe im Bewilligungszeitraum hat. Damit weicht das SG von der Rechtsprechung des BSG ab, nach der in diesem Fall eine Abänderung für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen der §§ 40 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1 SGB II a.F., 330 Abs. 2
SGB III, 45 2 S. 3 SGB X - und weiteren Voraussetzungen - ohne Ermessensbetätigung erfolgen darf, weil der Bewilligungsbescheid in diesem Fall anfänglich
rechtswidrig ist. Eine endgültige Bewilligung darf vor Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts für den gesamten
Bewilligungszeitraum nicht erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R, juris, insbesondere Rn. 17 f.).
Die Abweichung ist als entscheidungserheblich anzusehen, weil unter Anwendung des von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Maßstabs der rechtliche Bestand des angefochtenen Rückforderungsbescheids insbesondere davon abhängt, ob den
Klägerinnen Unlauterkeitsgründe nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 SGB X vorzuwerfen sind. Auch wenn bereits nach Aktenlage mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass ihnen zur Last
gelegt werden kann, jedenfalls grob fahrlässig nicht gewusst zu haben, dass der Bewilligungsbescheid vom 30. April 2010 rechtswidrig
gewesen ist (Unlauterkeitsgrund Nr. 3), bedarf es einer weiteren Klärung des Sachverhalts, um verbleibende Zweifel vollständig
ausräumen zu können.
Eine solche Unlauterkeit liegt vor, wenn der Regelungsadressat die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes im Zeitpunkt seiner
Bekanntgabe kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die
erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt,
wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem
einleuchten muss; dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem
Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff;
(BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R, juris m.w.N).
Wesentliche Anhaltspunkte für den erforderlichen Schuldvorwurf sind darin zu sehen, dass die Klägerin zu 1 und der Kindsvater
bereits aus vergangenen Bewilligungszeiträumen hätten wissen können, dass nach Vorlage der maßgeblichen Einkommensnachweise
Ihrer Arbeitgeber der Zahlbetrag nochmals geprüft und geändert wird. So haben beide auch für den hiesigen Bewilligungszeitraum
ihre Einkommensnachweise erst am 4. Mai 2010 und damit nach Erlass des Bewilligungsbescheids vom 30. April 2010 eingereicht.
Ihr Wissen wäre als gesetzliche Vertreter (§
1629 Abs.
1 S. 1
BGB) der Klägerin zu 2 entsprechend §
166 Abs.
1 BGB zurechenbar. Andererseits verlangt der subjektive Fahrlässigkeitsmaßstab in der Regel eine persönliche Befragung in der mündlichen
Verhandlung, um die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit zu den relevanten Umständen der rechtswidrigen Bewilligung abschließend
beurteilen zu können.
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen gleichwohl nicht vor.
Gemäß §
114 S. 1
ZPO, der über die Verweisungsnorm des §
73a Abs.
1 S. 1
SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt, ist einem Beteiligten auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, der nach seinen
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen
kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig
erscheint.
Der Maßstab für die dabei geforderten Erfolgsaussichten ist im Lichte der grundrechtlich garantierten Rechtsschutzgleichheit
zu bestimmen. Sie folgt bei gerichtlichem Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt aus dem Gleichheitsgrundsatz des Art.
3 Abs.
1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsgrundsatz aus Art.
20 Abs.
3 GG und der Rechtsschutzgarantie des Art.
19 Abs.
4 S. 1
GG. Gefordert ist hiernach eine Angleichung der Rechtsschutzmöglichkeiten eines Unbemittelten mit denen eines Bemittelten, der
seine Erfolgsaussichten unter Berücksichtigung des Kostenrisikos vernünftig abwägt. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist
zu bejahen, wenn für den Antragsteller eine nicht fernliegende Möglichkeit besteht, sein Rechtsschutzziel durch Inanspruchnahme
gerichtlichen Rechtsschutzes jedenfalls unter Zuhilfenahme aller verfahrensrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen instanzgerichtliche
Entscheidungen durchzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2006 - 2 BvR 626/06 - und vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88; beide juris; stRspr). Ein höherer Wahrscheinlichkeitsgrad kann erforderlich sein, um die Prozessführung nicht mutwillig
erscheinen zu lassen, wenn die Bedeutung des Rechtsschutzzieles sonst völlig außer Verhältnis zum verbleibenden Prozesskostenrisiko
steht.
So verstandene hinreichende Erfolgsaussichten kommen im sozialgerichtlichen Verfahren aus zwei Gesichtspunkten in Betracht.
Sie sind einerseits anzunehmen, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage weder angesichts der gesetzlichen Regelung oder
im Hinblick auf von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellter Auslegungshilfen ohne Schwierigkeiten beantwortet
werden kann (BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347 (359)) noch höchstrichterlich geklärt ist. Nur so verbleibt dem Unbemittelten die Möglichkeit seinen klärungsbedürftigen
Rechtsstandpunkt zumindest im Hauptsacheverfahren zu vertreten und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (BVerfG,
Beschluss vom 14. Juni 2006 - 2 BvR 626/06 u.a., NVwZ 2006, 1156 m.w.N.).
Andererseits sind die Erfolgsaussichten grundsätzlich als hinreichend anzusehen, wenn eine weitere Sachverhaltsaufklärung
- über die geforderte Mitwirkungsobliegenheit des Antragstellers nach §
103 S. 1
SGG hinaus - ernstlich in Betracht kommt. Dabei darf die Erfolgsprognose in sehr engen Grenzen auf eine vorweggenommene Beweiswürdigung
gestützt sein. Hinreichende Erfolgsaussichten bestehen nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die
weitere Sachverhaltsaufklärung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Lasten des Antragstellers ausgehen wird (vgl. für Zivilprozess:
BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2008 - 1 BvR 1807/07, juris Rn. 22 m.w.N.).
Dabei kommt es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht allein auf die Erfolgsaussichten für die Zulassung der Berufung
an. Entscheidend ist vielmehr weiter, ob mit der zugelassenen Berufung das in der Hauptsache verfolgte Rechtsschutzziel jedenfalls
teilweise durchgesetzt werden kann (vgl. Kummer, Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl., Rn. 976, 978 m.w.N.).
Ist der rechtliche Maßstab für die Entscheidung in der Hauptsache geklärt, vermag allein die ggf. erforderliche persönliche
Befragung der Klägerin zu 1 und ggf. zeugenschaftliche Vernehmung des Kindsvaters in einem Verhandlungstermin hinreichende
Erfolgsaussichten nicht zu begründen.
Insoweit ist im Rahmen der erlaubten vorweggenommenen Beweiswürdigung davon auszugehen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit
die Beweisaufnahme zum Ergebnis haben wird, dass der Unlauterkeitsvorwurf nach § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB X zweifelsfrei vorliegt. Hierfür sprechen insbesondere die Umstände, dass die nachträgliche Korrektur der Einkommensanrechnung
auch in vorherigen Bewilligungszeiträumen der Praxis des Beklagten entsprochen hat, die Klägerin zu 1 und der Kindsvater aufgrund
ihrer Beschäftigungen über eine gewisse Erfahrung in geschäftlichen Angelegenheiten verfügen und erst nach Erlass des Bewilligungsbescheids
die maßgeblichen Einkommensnachweise vorgelegt haben.
Eine anwaltliche Beiordnung nach §
73a Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §
121 Abs.
2 ZPO kommt daher nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung bleibt der Berufung vorbehalten.
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).