Anspruch eines ambulanten Pflegedienstes auf Entscheidung über Widersprüche eines verstorbenen Empfängers von Hilfe zur Pflege
zum Anspruchsübergang nach § 19 Abs. 6 SGB XII
Gründe:
I
Im Streit ist ein Anspruch des Klägers auf Bescheidung von der verstorbenen Hilfeempfängerin eingelegter Widersprüche.
Der Beklagte bewilligte der am 29.10.2007 verstorbenen Hilfeempfängerin unter Berücksichtigung eines Einkommens in Höhe von
monatlich 237,67 Euro ("Eigenanteil") für die Zeit vom 3.2.2006 bis 30.4.2007 dem Grunde nach Hilfe zur Pflege in Form der
häuslichen Pflege im Umfang einer 24-Stunden-Pflege täglich (bestandskräftiger Bescheid vom 10.4.2006). Die Pflege führte
der Kläger aus. Für die Zeit ab 15.10.2006 setzte der Beklagte den Umfang der Hilfe zunächst auf 20 Stunden täglich herab
und hob insoweit die Bewilligung auf (Bescheid vom 4.10.2006). Hiergegen legte die Hilfeempfängerin Widerspruch ein. Später
verlangte sie außerdem die Berücksichtigung eines geringeren Einkommens. Mit Schreiben vom 23.4.2007 erklärte sich der Beklagte
dem Kläger gegenüber wieder zur Übernahme der Kosten einer 24-Stunden-Pflege bereit; der Eigenanteil sollte jedoch noch geprüft
werden. Gleichzeitig bewilligte er für den Folgezeitraum vom 1.5.2007 bis 31.1.2008 erneut unter Berücksichtigung eines Einkommens
von - wie bisher - monatlich 237,67 Euro dem Grunde nach Hilfe zur Pflege in einem Umfang von 24 Stunden täglich (Bescheid
vom 23.4.2007). Mit Schreiben vom 25.5.2007 verlangte die Hilfeempfängerin erneut, den sog "Eigenanteil" herabzusetzen, bevor
der Beklagte nach dem Ableben der Hilfeempfängerin die Bearbeitung des Widerspruchs einstellte (Schreiben an den von der Hilfeempfängerin
bevollmächtigten Sohn vom 21.11.2007).
Am 27.11.2007 zeigte der Kläger den Übergang der Ansprüche aus den Widerspruchsverfahren unter Berufung auf § 19 Abs 6 Sozialgesetzbuch
Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) gegenüber dem Beklagten an. Dieser lehnte eine Bestätigung ab, weil § 19 Abs 6 SGB
XII nicht für ambulante Dienste gelte (Schreiben vom 19.12.2007).
Die vom Kläger erhobene, auf eine Entscheidung der Beklagten über die Widersprüche gegen die Bescheide vom 4.10.2006 und 23.4.2007
gerichtete Klage blieb erst- und zweitinstanzlich ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts [SG] Berlin vom 10.9.2008; Urteil
des Landessozialgerichts [LSG] Berlin-Brandenburg vom 28.5.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt,
die Klage sei unzulässig, weil der Anspruch der Hilfeempfängerin auf Bescheidung ihres Widerspruchs mit ihrem Tod untergegangen
und nicht kraft Gesetzes auf den Kläger übergegangen sei. Weder sei ein Anspruch auf Pflegegeld noch auf Leistungen für Einrichtungen
betroffen, wie dies § 19 Abs 6 SGB XII voraussetze. Der Einrichtungsbegriff des § 19 Abs 6 SGB XII beziehe sich nur auf stationäre
oder teilstationäre Einrichtung; er erfasse nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte nicht die durch einen ambulanten
Pflegedienst erbrachten Leistungen. Soweit es den Bescheid vom 23.4.2007 betreffe, fehle es zudem an einem Widerspruch der
Hilfeempfängerin.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 19 Abs 6 SGB XII. Er ist der Ansicht, er habe auf Grund eines Anspruchsübergangs
nach dieser Vorschrift einen Anspruch auf Bescheidung der bereits von der Hilfeempfängerin erhobenen Widersprüche. Auch ambulante
Pflegedienste seien Einrichtungen im Sinne dieser Norm.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über die Widersprüche gegen die Bescheide vom 4.10.2006 und 23.4.2007 zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
II
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet,
soweit der Kläger eine Untätigkeit der Beklagten auf den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.4.2007 geltend macht (§
170 Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]); im Übrigen ist die Revision unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 2
SGG).
Nach §
88 Abs
2 iVm Abs
1 SGG ist eine Untätigkeitsklage zulässig, wenn über einen Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt ohne zureichenden Grund in angemessener
Frist nicht entschieden worden ist, wobei als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt. Ob die Klage, soweit es
den Bescheid vom 23.4.2007 betrifft, zulässig und begründet ist, lässt sich erst nach Erlass eines Widerspruchsbescheids im
Rahmen eines Zwischenverfahrens zur Klärung der Rechtsnachfolge beurteilen.
Entgegen der Auffassung des LSG ist allerdings ein Widerspruch gegen diesen Bescheid jedenfalls in dem Schreiben vom 25.5.2007
zu sehen, mit dem die Hilfeempfängerin (vertreten durch ihren bevollmächtigten Sohn) die "Herabsetzung des Eigenanteils" verlangt.
Der Begriff Widerspruch muss nicht ausdrücklich verwendet werden; ausreichend ist es vielmehr, wenn hinreichend deutlich wird,
dass sich die Hilfeempfängerin gegen die - von dem Beklagten errechnete - Eigenbeteiligung im Bewilligungsbescheid wendet.
Über diesen Widerspruch hat der Beklagte noch nicht befunden. Die - vom LSG bestätigte - Auffassung des SG, die Untätigkeitsklage sei schon deshalb unzulässig, weil der Kläger nicht nach § 19 Abs 6 SGB XII Rechtsnachfolger sei, verkennt, dass der Streit hierüber eine Frage der Begründetheit (Aktivlegitimation) ist,
wenn sich der Kläger - wie hier - der Rechtsnachfolge oder der Berechtigung zum Beitritt in das Verfahren der verstorbenen
Hilfeempfängerin als Sonderrechtsnachfolger rühmt.
Über diesen Streit ist allerdings nicht ohne Weiteres in dem mit der Untätigkeitsklage angemahnten abschließenden Widerspruchsbescheid
zu befinden. Ist die Rechtsnachfolge streitig, ist diese Frage vielmehr in einem Zwischenverfahren zu beantworten. Verstirbt
ein Widerspruchsführer nach Einlegung des Widerspruchs, wird das Vorverfahren dann entsprechend der Regelung des §
239 Zivilprozessordnung (
ZPO) bis zur Aufnahme durch den Rechtsnachfolger unterbrochen (BVerwG, Beschluss vom 14.11.2000 - 8 B 187/00 -, NVwZ 2001, 319, allerdings beschränkt auf die Rechtsfolge, dass die Klagefrist nicht zu laufen beginnt; OVG Bremen, Beschluss vom 14.2.1984
- 1 BA 91/83 -, NVwZ 1985, 917 f). Eine Unterbrechung fände hier nach §
246 Abs
1 ZPO analog zwar nicht statt, weil der Sohn der Hilfeempfängerin eine Vollmacht zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens besaß,
die durch den Tod der Hilfeempfängerin nicht endete (§ 13 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - [SGB X]). Ein Streit über die Rechtsnachfolge kann aber zwangsläufig wie im Gerichtsverfahren nur in einem Zwischenverfahren
geklärt werden (zur Situation im Prozess: Greger in Zöller,
ZPO, 28. Aufl 2009, §
239 ZPO RdNr 12). Wird die Rechtsnachfolge in einem Klageverfahren verneint, ist dies dann durch selbständig anfechtbares Endurteil
auszusprechen, mit dem die Aufnahme des Prozesses durch den vermeintlichen Rechtsnachfolger zurückgewiesen wird (Greger aaO).
Wird die Rechtsnachfolge bejaht, ergeht hierüber ein Zwischenurteil nach §
303 ZPO oder ein Endurteil über die entscheidungsreife Hauptsache mit Feststellung der Aufnahme des Verfahrens durch den Rechtsnachfolger
lediglich in den Gründen (Greger aaO).
Diese Grundsätze müssen angesichts der vergleichbaren Situation auf das Widerspruchsverfahren übertragen werden. Wird die
Rechtsnachfolge also bejaht, kann hierüber in einem - dann - das Vorverfahren insgesamt abschließenden Widerspruchsbescheid
entschieden werden. Anderenfalls ist die Rechtsnachfolge - ohne gleichzeitige Entscheidung über den Widerspruchsbescheid -
vorab zu verneinen und ggf im Rahmen von Rechtsbehelfsverfahren zu klären. Vorliegend hat der Beklagte mit Schreiben vom 19.12.2007
mitgeteilt, er könne den Anspruchsübergang "nicht bestätigen". Hierin ist die Ablehnung der Rechtsnachfolge durch Verwaltungsakt
zu sehen, weil der Beklagte, auch wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlt, insoweit eine Entscheidung zur Regelung eines Einzelfalls
mit Außenwirkung (§ 31 SGB X) getroffen hat. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger bei sachgerechter Auslegung seines Klageantrags; in der Untätigkeitsklage
ist also zumindest auch der Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid vom 19.12.2007 enthalten. Vor einer endgültigen Entscheidung
über die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage hätte das LSG daher den Ausgang dieses Widerspruchsverfahrens abwarten müssen,
und zwar unabhängig davon, dass der Kläger nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 13.7.2010 - B 8 SO 13/09 R) kein
Rechtsnachfolger iS des § 19 Abs 6 SGB XII ist. Das LSG wird nach Zurückverweisung des Verfahrens deshalb dem Beklagten zunächst
Gelegenheit geben müssen, über den Widerspruch gegen die Entscheidung vom 19.12.2007 zu entscheiden. Bejaht der Beklagte darin
die Rechtsnachfolge, scheitert die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage jedenfalls nicht an der fehlenden Rechtsnachfolge. Bestätigt
der Beklagte jedoch die Ablehnung, wäre ggf der Ausgang eines Klageverfahrens hiergegen abzuwarten, wollte man nicht, was
naheliegen könnte, in der Erhebung der Untätigkeitsklage gleichzeitig schon eine Klage gegen die Ablehnung der Rechtsnachfolge
(bereits) vor Erlass eines Widerspruchsbescheids sehen.
Soweit mit der Klage eine Untätigkeit auf den Widerspruch gegen den Bescheid vom 4.10.2006 geltend gemacht wird, ist die Revision
hingegen unbegründet. Insoweit hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Denn die Klage war unzulässig. Die Zulässigkeit der Untätigkeitsklage setzt nach oben
Gesagtem voraus, dass der Widerspruch nicht beschieden worden ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
88 RdNr 4). Hier ist dem Widerspruch der Hilfeempfängerin gegen den Bescheid vom 4.10.2006 aber abgeholfen worden.
Mit Bescheid vom 4.10.2006 hat der Beklagte den bestandskräftigen Bescheid vom 10.4.2006 für die Zeit ab 15.10.2006 (bis 30.4.2007)
nur dahin abgeändert, dass der Umfang der durch den Bescheid vom 10.4.2006 (für die Zeit vom 3.2.2006 bis 30.4.2007) dem Grunde
nach bewilligten Hilfe zur Pflege von 24 auf 20 Stunden herabgesetzt wurde. Insoweit handelt es sich um einen Änderungsbescheid
nach § 48 SGB X. Mit ihrem Widerspruch hat sich die Hilfeempfängerin nur hiergegen gewandt und konnte dies auch nur. Mit Schreiben vom 23.4.2007
hat der Beklagte daraufhin wieder die Übernahme der Kosten im Umfang einer 24-StundenPflege erklärt; er hat dem Widerspruch
dadurch abgeholfen. Dies hat er auch mit der Bemerkung, er gehe davon aus, dass der Widerspruch insoweit erledigt sei, zum
Ausdruck gebracht. In dieser (vollständigen) Abhilfe liegt eine Bescheidung des Widerspruchs (§
85 Abs
1 SGG), die die Erhebung einer Untätigkeitsklage nicht mehr rechtfertigt.
Zwar hat die Hilfeempfängerin mit Schreiben vom 30.11.2006 "ihren Widerspruch dahin ergänzt", dass bei der Einkommensberücksichtigung
einige absatzfähige Ausgaben nicht berücksichtigt worden seien; der angefochtene Bescheid vom 4.10.2006 enthält insoweit aber
keine den bestandskräftigen Bescheid vom 10.4.2006 ändernde Regelung. Hieran ändert auch nichts, dass der Bescheid vom 4.10.2006
von einer "Aufhebung" des Bescheids vom 10.4.2006 spricht, weil es - sieht man vom Umfang der Pflege ab - bei der Bewilligung
(dem Grunde nach) vom 10.4.2006 bleibt und der Bescheid vom 4.10.2006 seinem Inhalt nach die frühere Bewilligung nur abändert.
Die "Ergänzung" des Widerspruchs muss deshalb als Antrag nach § 44 SGB X verstanden werden, über den nicht entschieden ist. Dies gilt umso mehr, als die Hilfeempfängerin eine Änderung des sog Eigenanteils
nicht erst ab 15.10.2006 begehrte, sondern die Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens bereits in dem Bescheid vom 10.4.2006
für falsch hielt. Auf eine Untätigkeit trotz Überprüfungsantrags bezieht sich die erhobene Klage aber gerade nicht.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.