Anerkennung; Berufskrankheit; Arbeitsplatz; Berufung; Erkrankung; Glaubhaftmachung; hinreichende Wahrscheinlichkeit; Krankheit;
Unfallversicherung; versicherte Tätigkeit; Vollbeweis; Wahrscheinlichkeit; ärztlicher Sachverständiger
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1301 (BK 1301) der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) - Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine.
Der 1956 geborene Kläger war vom 07.06.2003 bis 28.02.2014 bei der Firma G. als gewerblicher Mitarbeiter Reifenherstellung
im Bereich Heizung beschäftigt; seit 01.03.2014 ist er dort gewerblicher Mitarbeiter in der Resteverwertung. Bei der Tätigkeit
"Reifenherstellung im Bereich Heizung" wurden Reifenrohlinge in Heizpressen bei Temperaturen von ca. 150° vulkanisiert. Dazu
musste der Kläger die Reifenrohlinge außerhalb der Presse auf eine Zuführungseinrichtung auflegen; nach dem Pressen wurden
die vulkanisierten Reifen automatisch ausgeworfen und abtransportiert.
Vor seiner Tätigkeit bei der Firma G. war der Kläger vom 16.12.1989 bis 27.12.1989 in stationärer Behandlung wegen eines Harnblasen-Karzinoms
und vom 30.09.1991 bis 07.10.1991 wegen eines Rezidivs. Ende 2012/Anfang 2013 wurde bei ihm erneut ein Harnblasentumor festgestellt,
weswegen er sich vom 17.02.2013 bis 22.02.2013 in stationärer Behandlung im Klinikum B-Stadt befand.
Am 21.02.2013 erfolgte bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit. In einer ersten Stellungnahme
des Präventionsdienstes der Beklagten vom 10.06.2013 kam dieser zu dem Ergebnis, dass nach den durchgeführten Ermittlungen
und einer Anfrage beim Arbeitgeber nicht wahrscheinlich gemacht werden könne, dass der Kläger im Beschäftigungszeitraum mit
Stoffen in Berührung gekommen sei, die aromatische Amine enthalten. Mit Bescheid vom 14.08.2013 lehnte die Beklagte daraufhin
die Anerkennung einer BK 1301 ab. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte nach Einholung einer ergänzenden
Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 08.01.2014 zurückwies.
Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Das SG hat am 13.10.2014 nochmals eine Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten eingeholt, die unter Berücksichtigung
von Auskünften des Arbeitgebers des Klägers zu den eingesetzten Produktionsstoffen erfolgt ist. In der Stellungnahme hat der
Präventionsdienst ausgeführt, dass nicht beweisbar und unter Betrachtung des gesamten Arbeitsprozesses auch nicht wahrscheinlich
sei, dass der Kläger aromatischen Aminen nicht ausgesetzt gewesen sei. Da aber auch die tatsächlichen Expositionsverhältnisse
nicht ermittelbar seien und damit Aussagen zur Dauer und Höhe der Exposition nicht seriös zu machen seien, unterstelle man
unter Zugrundelegung des BK-Reports der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zu aromatischen Aminen von 1/2014, dass
der Kläger einer Gesamtdosis von 2,25 Milligramm (mg) Binaphthylamin (BNA) ausgesetzt gewesen sei.
Das SG hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachtens
des ärztlichen Sachverständigen Professor Dr. Dr. K. (im Folgenden: K) vom 29.11.2014 mit ergänzender Stellungnahme vom 29.01.2015.
Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers, dass er bis 1989 19 pack-years an Zigarettenkonsum aufgewiesen und seit 1989
bis zur völligen Aufgabe des Rauchens im Oktober 1991 nur noch 5 Zigaretten pro Tag geraucht habe, kam der ärztliche Sachverständige
zu dem Ergebnis, dass das 2013 festgestellte Harnblasenkarzinom nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die berufliche
Tätigkeit bei G. ab 01.06.2003 wesentlich ursächlich zurückgeführt werden könne. Bei der angenommenen Exposition des Klägers
von 2,25 mg BNA werde die Grenze von 6 mg, ab der eine Risikoverdopplung, an einem Harnblasenkarzinom zu erkranken, angenommen
werde, deutlich unterschritten. Demgegenüber sei das Risiko, nach einem nach Nikotinkonsum festgestellten Harnblasenkarzinom
innerhalb von 21 Jahren erneut zu erkranken, höher einzuschätzen.
Mit Gerichtsbescheid vom 09.03.2015 hat das SG daraufhin die Klage abgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt.
Nach Durchführung einer nicht-öffentlichen Sitzung vom 15.07.2015 hat der Senat zunächst eine weitere Stellungnahme des Präventionsdienstes
der Beklagten eingeholt. Dieser verblieb bei der Auffassung, dass die unterstellte Exposition gegenüber Binaphthylamin die
mögliche maximale Belastung des Klägers widerspiegele.
Auf Antrag des Klägers nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist daraufhin Professor Dr. E. (im Folgenden: B) mit wissenschaftlich begründetem arbeitsmedizinisch-toxikologischem Gutachten
vom 09.02.2016 gehört worden. Dieser ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei dem im Jahre 2013 diagnostizierten Harnblasenkarzinom
um ein Rezidiv gehandelt habe. Der Kläger sei bei seinem Arbeitgeber der Einwirkung des aromatischen Amins Anilin ausgesetzt
gewesen, das im Zweitbeschleuniger DPG enthalten gewesen sei. Dieses könne bei vorgeschädigter Harnblasenschleimhaut, wie
sie beim Kläger vorgelegen habe, über Entzündungsprozesse ein Rezidiv verursachen. Allerdings setze dies entsprechende Brückenbefunde
voraus, die beim Kläger bis zum Jahr 2013 nicht vorgelegen hätten. Gelange das Gericht zu der Ansicht, dass die Angaben des
Arbeitgebers zutreffend seien und keine weitere Exposition gegenüber kanzerogenen aromatischen Aminen vorgelegen habe, wäre
ein beruflich verursachtes Harnblasenkarzinom nicht hinreichend wahrscheinlich. Anders sei der Fall zu beurteilen, wenn beim
Kläger tatsächlich eine Exposition gegenüber BNA vorgelegen habe. Aufgrund der vom Kläger geschilderten arbeitshygienischen
Bedingungen sei dann von einer zwei- bis dreifach höheren Exposition des Klägers als den bislang angenommenen 2,25 mg auszugehen.
In diesem Fall sei das durch die Rauchervergangenheit des Klägers begründete Rezidivrisiko geringer einzuschätzen als das
durch die Einwirkung von aromatischen Aminen verursachte Risiko und eine Verursachung des Harnblasenkarzinoms durch die berufliche
Tätigkeit des Klägers hinreichend wahrscheinlich. Voraussetzung sei jedoch, dass der Arbeitgeber des Klägers bei der Reifenproduktion
ein Alterungsschutzmittel eingesetzt habe, dass N-phenylierte Naphthylamine wie BNA enthalten habe.
Infolgedessen hat der Senat ergänzende Auskünfte beim Arbeitgeber eingeholt. Dieser hat zum einen Messergebnisse bezüglich
des Gefahrstoffes Anilin für die Jahre 2012 und 2013 übermittelt und zudem die im Beschäftigungszeitraum des Klägers eingesetzten
Alterungsschutzmittel mitgeteilt und angegeben, es seien keine N-phenylierte Naphthylamine eingesetzt worden.
Daraufhin hat der Senat auf Antrag des Klägers eine ergänzende Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigen B vom 14.02.2017
eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass nicht belegbar sei, dass der Kläger während seiner Beschäftigung gegenüber N-phenylierten
Naphthylaminen exponiert gewesen sei. Der Arbeitgeber des Klägers habe die Alterungsschutzmittel Zonflax und Nailax eingesetzt.
In diesen seien die aromatischen Amine Anilin und o-Toluidin, das aber gegenüber anderen Aminen eine deutlich geringere krebserzeugende
Potenz aufweise, enthalten. Selbst bei Annahme eines Worst-Case-Szenarios (arbeitstägliche Verwendung von Nailax, Annahme
vergleichbarer o-Toluidinkonzentration am Arbeitsplatz wie von Anilin, obwohl aus stöchiometrischer-quantitativer Sicht eher
nur mit 50% zu rechnen sei) auf Grundlage der am Arbeitsplatz des Klägers gemessenen Werte sei es unwahrscheinlich, dass der
Kläger auch bei bereits vorgeschädigter Harnblasenschleimhaut in einem BK-relevanten Ausmaß o-Toluidin ausgesetzt gewesen
sei. Eine berufsbedingte Verursachung des Harnblasenkarzinomrezidivs könne nicht belegt werden.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 09.03.2015 sowie den Bescheid vom 14.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25.03.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das beim Kläger im Jahr 2013 diagnostizierte Rezidiv eines Harnblasentumors
als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der
Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen,
hilfsweise die Einholung eines Gutachtens einschließlich der Messung aller Gefahrstoffe, welche zum Rezidiv eines Blasenkarzinoms
führen können, am Arbeitsplatz des Klägers Presse 64 im Raum Heizung (H) des Betriebsgeländes der Fa. in C-Stadt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Behindertenakte
des Klägers beim G. sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung eines Rezidivs eines Harnblasenkarzinoms des Klägers als BK 1301 strittig. Mit
dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 14.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.03.2014 hat die Beklagte
die Anerkennung der Berufskrankheit abgelehnt.
Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung des im Jahr 2013 bei ihm diagnostizierten Rezidivs eines
Harnblasenkarzinoms als BK 1301. Er ist deshalb durch die ablehnende Entscheidung der Beklagten nicht in seinen Rechten verletzt.
Gemäß §
9 Abs.
1 S. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten
bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten
zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen
bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt
sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten
Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung,
die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können (§
9 Abs.
1 S. 2
SGB VII).
Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die gegebenenfalls
bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher
Zusammenhang) muss zur Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität)
und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung
gegebenenfalls den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllenden Kausalität), ist keine Bedingung
für die Feststellung einer Listen-BK (vgl. u.a. BSG vom 02.04.2009 - B 2 U 30/07 R, B 2 U 33/07 R, B 2 U 7/08 R, B 2 U 9/08 R m.w.N.; BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 26/10 R m.w.N.).
Die streitgegenständliche BK 1301 wird vom Verordnungsgeber folgendermaßen bezeichnet: "Schleimhautveränderung, Krebs oder
andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine". Nach dem Tatbestand der BK 1301 muss also der Versicherte auf Grund
einer versicherten Tätigkeit der Einwirkung von aromatischen Aminen auf seinen Körper ausgesetzt gewesen sein. Durch die der
versicherten Tätigkeit zuzurechnende Einwirkung müssen eine Schleimhautveränderung, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege
entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung muss ein sachlicher
Zusammenhang und zwischen dieser Einwirkung und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen.
Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingte schädigende Einwirkung einschließlich deren
Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein, während
für den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen Tatbestandsmerkmalen, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre
von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die
bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R; vom 22.08.2000 - B 2 U 34/99 R m.w.N.). Für den Vollbeweis ist keine absolute, jeden möglichen Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende
Gewissheit zu fordern, vielmehr genügt für die entsprechende richterliche Überzeugung ein der Gewissheit nahekommender Grad
von Wahrscheinlichkeit (BSG vom 27.03.1958 - 8 RV 387/55, juris Rn. 16). Die volle Überzeugung wird als gegeben angesehen, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, d.h. eine Wahrscheinlichkeit
besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt, weil sie bei jedem vernünftigen, die Lebensverhältnisse
klar überschauenden Menschen keine Zweifel mehr bestehen lässt (BSG vom 27.04.1972 - 2 RU 147/71, juris Rn. 30, Keller in Meyer Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
128 Rn. 3b m.w.N.). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu bejahen, muss absolut mehr für
als gegen die jeweilige Tatsache sprechen. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit
ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich eine anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen
Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG vom 08.08.2001 - B 9 RV 23/01 B, juris Rn. 4 m.w.N.; vom 02.02.1978 - 8 RU 66/77, juris Rn. 13). Die Beweisanforderungen bei der hinreichenden Wahrscheinlichkeit sind höher als bei der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
(Glaubhaftmachung im Sinne eines Beweismaßstabs, vgl. dazu BSG vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5). Überwiegende Wahrscheinlichkeit bedeutet die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei
durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können; dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet (vgl. BSG vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, juris Rn. 5 und Orientierungssatz; vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R, juris Rn. 116; vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, juris Rn. 36; Keller, a.a.O., Rn. 3d m.w.N.; zum Zivilrecht BGH vom 11.09.2003 - IX ZB 37/03, juris Rn. 8; vom 15.06.1994 - IV ZB 6/94).
1. Aufgrund des Befundberichts des Klinikums B-Stadt vom 22.02.2013 und der entsprechenden, übereinstimmenden Feststellungen
der ärztlichen Sachverständigen K und B stellt der Senat im Vollbeweis fest, dass beim Kläger im Februar 2013 das Rezidiv
eines Harnblasenkarzinoms vorlag.
2. Des Weiteren steht aufgrund der Angaben des Klägers sowie der in den Akten befindlichen Nachweise des Arbeitgebers zur
vollen Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger vom 07.06.2003 bis zu seiner Erkrankung im Jahr 2013 als Maschinenführer
in der Produktion bei der Firma G. gearbeitet hat.
Dabei sieht der Senat es als im Vollbeweis erwiesen an, dass der Kläger sowohl einer Einwirkung durch das aromatische Amin
Anilin als auch einer Einwirkung durch das aromatische Amin o-Toluidin ausgesetzt war. Die Überzeugung des Senats gründet
sich auf der Mitteilung des Arbeitgebers vom 07.11.2007, wonach am Arbeitsplatz des Klägers N,N-Diphenylguanidin (DPG) als
Zweitbeschleuniger eingesetzt wurde, und seiner Auskunft vom 11.11.2016, wonach am Arbeitsplatz des Klägers als Alterungsschutzmittel
bei der Reifenproduktion die Stoffe "Zonflax", "Heilax" und "Nailax" verwandt wurden. Sowohl der Zweitbeschleuniger als auch
die Alterungsschutzmittel "Zonflax" und "Nailax" enthalten nach den Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen B in seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 14.02.2017 das aromatische Amin Anilin. Zudem hat der Arbeitgeber des Klägers dem Gericht am
14.10.2016 Messwerte aus der Abteilung "Reifenherstellung im Bereich Heizung" aus den Jahren 2012 und 2013 übersandt, wonach
ein Anteil des Gefahrstoffs Anilin in der Raumluft von 0,020 ppm, 0,027 ppm bzw. 0,030 ppm - dies entspricht ca. einem Zehntel
des Grenzwerts - festgestellt wurde. Hinsichtlich einer Einwirkung des aromatischen Amins o-Toluidin stützt der Senat seine
Überzeugung ebenfalls auf die Auskunft des Arbeitgebers vom 11.11.2016. Das am Arbeitsplatz des Klägers eingesetzte Alterungsschutzmittel
"Nailax" enthält gemäß der ergänzenden Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigen B vom 14.02.2017 das aromatische Amin
o-Toluidin.
Hingegen kann sich der Senat nicht davon überzeugen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz "Reifenherstellung im Bereich
Heizung" gegenüber dem aromatischen Amin BNA exponiert gewesen ist. Eine solche Exposition des Klägers hat der Arbeitgeber
im Rahmen seiner Mitteilung vom 11.11.2016 ausdrücklich verneint. Er hat des Weiteren mitgeteilt, dass im Beschäftigungszeitraum
des Klägers Alterungsschutzmittel eingesetzt worden seien, die kein BNA enthielten, und diese mit "Zonflax", "Heilax" und
"Nailax" benannt. Soweit der Präventionsdienst in seinen Stellungnahmen von einer Exposition des Klägers gegenüber BNA ausgegangen
ist, beruhte dies darauf, dass er - trotz fehlender tatsächlicher Anhaltspunkte - zu Gunsten des Klägers Durchschnittswerte
aus dem BK-Report "Aromatische Amine" von 1/2014 für die Belastung bei Verwendung von BNA bei der Prüfung der arbeitstechnischen
Voraussetzungen der BK 1301 zu Grunde gelegt hat. Dieses Vorgehen ist aber nicht geeignet, die Feststellung der eingesetzten
Arbeitsstoffe im Rahmen der Prüfung des Einzelfalls zu ersetzen.
3. Ausgehend von den vorgenannten Feststellungen kann sich der Senat unter Berücksichtigung der Ausführungen des ärztlichen
Sachverständigen B in seinem Gutachten vom 09.02.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.02.2017 nicht mit der erforderlichen
hinreichenden Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, dass das beim Kläger im Jahr 2013 festgestellte Rezidiv eines Harnblasenkarzinoms
durch die Einwirkung aromatischer Amine am Arbeitsplatz verursacht wurde.
Hinsichtlich des aromatischen Amins Anilin führt der ärztliche Sachverständige B aus, dass dieses Amin nicht dafür bekannt
sei, Harnblasenkarzinome bei Menschen zu verursachen. Des Weiteren sei bei Einhaltung der MAKbzw. BAT-Werte ein Beitrag zum Krebsrisiko für den Menschen nicht zu erwarten. Für eine Überschreitung dieser Grenzwerte hat der Senat
jedoch keine Anhaltspunkte. Vielmehr zeigen die vom Arbeitgeber des Klägers mitgeteilten Messergebnisse vom 23.10.2012 (2
Messungen à 0,020 ppm und 0,027 ppm) und vom 30.08.2013 (0,030 ppm), dass der Arbeitsplatzgrenzwert für Anilin von 2 ppm gemäß
den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS), BArBl Heft 1/2006 S. 41-55, zuletzt geändert und ergänzt: GMBl 2017 S. 368-370
[Nr. 20 ] (v. 8.6.2017) am Arbeitsplatz des Klägers weit unterschritten wurde. Überdies wären im Falle eines Anilin-bedingten
Rezidivs im Zeitraum zwischen dem Auftreten des ersten Rezidivs des Harnblasenkarzinoms im Jahre 1991 und des weiteren im
Jahr 2013 Brückenbefunde zu erwarten gewesen, die aber nach den Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen B nicht vorliegen.
Auch bezüglich der Exposition des Klägers gegenüber dem aromatischen Amin o-Toluidin spricht nicht deutlich mehr dafür als
dagegen, dass ein Ursachenzusammenhang mit dem Rezidiv des Harnblasenkarzinoms im Jahr 2013 gegeben ist. Hierzu hat der ärztliche
Sachverständige B ausgeführt, dass selbst bei Zugrundelegung eines worst-case-Szenarios hinsichtlich der Belastung des Klägers
mit o-Toluidin auch bei bereits vorgeschädigter Harnblasenschleimhaut nicht angenommen werden könne, dass beim Kläger eine
berufsbedingte Exposition vorgelegen hätte, die zu einer signifikanten Erhöhung des Risikos, an einem Harnblasenkarzinom zu
erkranken, geführt hätte. Denn selbst bei Annahme eines solchen worst-case-Szenarios, das auf Grundlage der vorliegenden Messungen
für den Gefahrstoff "Anilin" und der chemischen Eigenschaften des Amins o-Toluidin bzw. der chemischen Zusammensetzung der
eingesetzten Produkte zum Alterungsschutz erstellt werden könne, werde im Zeitraum Juni 2003 bis Februar 2014 weniger als
1/5 der Dosis erreicht, die nach dem Stand der Wissenschaft mit einer Risikoverdopplung für die Entwicklung eines Harnblasenkarzinoms
einhergehe. Bei dem angenommenen worst-case-Szenario ging der ärztliche Sachverständige zu Gunsten des Klägers auch noch von
einer vergleichbaren Konzentration von Anilin und o-Toluidin in der Arbeitsplatzluft aus, obgleich nach seinen Ausführungen
aus stöchiometrisch-quantitativer Sicht die o-Toluidineinheiten allenfalls bei 50% der Anilineinheiten liegen dürften. Zudem
legte der ärztliche Sachverständige B seinen Berechnungen zu Gunsten des Klägers einen Belastungszeitraum bis Februar 2014
zu Grunde, obwohl das zweite Rezidiv bereits zu Beginn des Jahres 2013 festgestellt wurde. Hinzu kommt, dass nach den Ausführungen
des ärztlichen Sachverständigen B beim Kläger aufgrund seiner Rauchervergangenheit und des Vorliegens eines ersten Harnblasenkarzinomrezidivs
bereits jeweils ein geringradig erhöhtes Risiko bestand, erneut an einem Harnblasenkarzinom zu erkranken. Vor diesem Hintergrund
lässt sich die im Jahr 2013 festgestellte erneute Erkrankung des Klägers nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die
berufliche Einwirkung von aromatischen Aminen zurückführen.
Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren nicht angezeigt. Auch dem Hilfsantrag des Klägers, gerichtet auf die Einholung eines
weiteren Gutachtens einschließlich Durchführung von Messungen am Arbeitsplatz des Klägers, war nicht zu entsprechen. Denn
bei diesem Antrag handelt es sich einen sogenannten Ausforschungsantrag. Auch das Gebot zur Erforschung der materiellen Wahrheit
(§
103 Halbsatz 1
SGG) verpflichtet die Sozialgerichte nicht dazu, Beweise "ins Blaue hinein" oder Ausforschungsbeweise zu erheben (BSG vom 14.05.1996 - 4 RA 60/94, juris Rn. 37). Ein Ausforschungsantrag liegt vor, wenn unter lediglich formalem Beweisantritt Behauptungen aufgestellt werden,
für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht bzw., die willkürlich aus der Luft gegriffen
sind und für die tatsächliche Grundlagen gänzlich fehlen (vgl. z.B. BSG vom 02.02.2010 - B 8 SO 21/08 R, juris Rn. 17). Hier liegen bereits Messwerte vor, die eine Beurteilung der beruflichen Belastung
des Klägers mit aromatischen Aminen zulassen. Wie ausgeführt hat sich der Senat sachverständig beraten durch B die diesbezüglich
zu fordernde Überzeugung auf der Grundlage der Auskünfte des Arbeitgebers und der durchgeführten Messungen gebildet. Der Senat
hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Auskünfte des Arbeitgebers unzutreffend sind; er hält sie vielmehr für nachvollziehbar
und glaubhaft. Ferner sind von der Durchführung weiterer Messungen, wie sich aus der nachvollziehbaren Stellungnahme des ärztlichen
Sachverständigen B ergibt, keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten. Hinzu kommt, dass der gutachterlichen Beurteilung ohnehin
bereits ein worst-case-Szenario zugrunde gelegt worden ist. Bei dem gestellten Hilfsantrag bleibt auch unklar, worauf genau
sich die aus Sicht des Klägers noch durchzuführenden Messungen beziehen sollen (Feststellung "aller Gefahrstoffe"). Anhaltspunkte
dafür, dass Gefahrstoffe, für die noch keine Messungen erfolgt sind, im vorliegenden Fall relevant sein könnten, sind nicht
gegeben. Die beantragten Messungen würden daher ohne tatsächliche Grundlage ins Blaue hinein erfolgen. Für die entsprechenden
Behauptungen des Klägers fehlt jede tatsächliche Grundlage.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 09.03.2015 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG liegen nicht vor.