Vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II
Leistungsausschluss für EU-Ausländer
Einreise zum Zweck der Arbeitssuche
Gründe:
Die am 5. März 2014 erhobene Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2014
ist zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht das Begehren des Antragstellers abgelehnt, den Antragsgegner
im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm "ab Rechtshängigkeit, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung
im Hauptsacheverfahren" vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches
(SGB II) zu gewähren.
Der rumänische Antragsteller hat entgegen §
86b Abs.
2 Satz 4 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) in Verbindung mit §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) keinen Anordnungsanspruch mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft
gemacht.
Ein Anordnungsanspruch aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II scheitert daran, dass der Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterliegt. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
und ihre Familienangehörigen ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Als Unionsbürger darf sich der erwerbsfähige
Antragsteller gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Ein anderes Aufenthaltsrecht ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II steht jedenfalls dem Grunde nach mit dem Recht der Europäischen Union im Einklang. Der Bundesgesetzgeber hat ihn auf die
europarechtliche Regelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77, 112), gestützt (BT-Drucksache 16/688, S. 13). Nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen
dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls
während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen
zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG bestimmt, dass auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats
eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen
werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht
haben, eingestellt zu werden. Damit dürfen die Mitgliedstaaten einem Unionsbürger die Sozialhilfe versagen, wenn er zum Zwecke
der Arbeitsuche eingereist ist.
Der Bundesgesetzgeber durfte Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG als Rechtsgrundlage für den Leistungsausschluss heranziehen. Die Regelung ist sachlich anwendbar. Nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) ist der Begriff der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG so zu verstehen, dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler,
regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel
zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt (Urteil vom 19. September 2013, C-140/12, Brey, Rn. 61). Ein solches System stellt die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II dar.
Nach dem EuGH erlaubt Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG dem Aufnahmemitgliedstaat abweichend von dem Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) vom 29. April 2004 (ABl.
L 166 S. 1), solchen Unionsbürgern, welche die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, rechtmäßige Beschränkungen
in Bezug auf die Gewährung von Sozialhilfe aufzuerlegen (EuGH, aaO., Rn. 57). Ob sich insoweit noch ungeklärte Fragen aus
dem Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts vom 12. Dezember 2013 (B 4 AS 9/13 R) ergeben, kann dahinstehen. Jedenfalls lässt sich der vorliegende Fall auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH entscheiden.
Unzulässig ist danach ein "automatischer" Leistungsausschluss, der es den zuständigen nationalen Behörden nicht erlaubt, eine
umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung die Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der die Lage des
Betroffenen kennzeichnenden individuellen Umstände konkret für das gesamte Sozialhilfesystem darstellen würde. Dabei sind
insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betroffenen, die Höhe und die Regelmäßigkeit der verfügbaren
Einkünfte sowie der Zeitraum zu berücksichtigen, in welchem die beantragten Leistungen voraussichtlich gezahlt werden (EuGH,
aaO., Rn. 69, 77 f.).
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist daher europarechtskonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass er nicht für Unionsbürger gilt, die das Leistungssystem
nicht unangemessen in Anspruch nehmen wollen (ebenso Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 6. November 2013, L 7 AS 639/13 B ER). Nach der Rechtsprechung des EuGH folgt das Gebot europarechtskonformer Auslegung bei versäumter oder unzureichender
Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 288 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die in einer Richtlinie aufgestellten Ziele zu erreichen, und aus der sich aus Art. 291 Abs. 1 AEUV ergebenden Obliegenheit, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Das Gebot trifft alle
Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch die Gerichte. Das nationale
Gericht muss das innerstaatliche Recht soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen, um
das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2004, C-379/01 bis 403/01, Rn. 110, 113, 115). In diesem Sinne lässt der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eine teleologische Reduktion zu. Dafür spricht insbesondere, dass der Bundesgesetzgeber den Leistungsausschluss ausdrücklich
auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG gestützt hat, also eine Regelung schaffen wollte, die mit dem Europarecht im Einklang steht.
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe bleibt es hier bei dem Leistungsausschluss. Nach Abwägung aller einzustellenden Gesichtspunkte
erscheint die Inanspruchnahme der Grundsicherung für Arbeitsuchende im konkreten Einzelfall unangemessen. Gegen den Antragsteller
spricht hier, dass er sich nach eigenen Angaben erst seit dem 26. Oktober 2013 in Deutschland befindet. Besondere soziale
Bindungen in Deutschland sind nicht ersichtlich. Auch hat bisher keine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt stattgefunden.
Schon vor diesem Hintergrund kann der Antragsteller darauf verwiesen werden, sich in seiner Heimat oder anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union eine Arbeit zu suchen. Das gilt um so mehr, als der Antragsteller nach eigener Einschätzung voll erwerbsfähig
und sofort verfügbar ist, erweiterte Kenntnisse der deutschen und italienischen Sprache sowie verhandlungssichere Kenntnisse
der englischen Sprache besitzt und einen Universitätsabschluss verfügt. Dass er gleichwohl angegeben hat, höchstens eine Teilzeitstelle
annehmen zu können, weil er an einem Deutschkurs teilnehmen wolle, ist angesichts der bereits bestehenden Sprachkenntnisse
nicht nachvollziehbar. Der Antragsteller verfügt darüber hinaus weder über Ersparnisse noch über sonstige eigene Einnahmen,
so dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende den Lebensunterhalt des Antragstellers in vollem Umfang decken muss. Dass die
Zeit des voraussichtlichen Leistungsbezuges im vorliegenden Fall nicht abschätzbar ist, fällt angesichts der vorstehenden
Erwägungen nicht zu Gunsten des Antragstellers ins Gewicht.
Der Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht wegen des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11. Dezember 1953 (BGBl. II 1956, S. 564) unanwendbar (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Beschluss vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 9/13 R; Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R). Rumänien gehört nämlich schon nicht zu den Vertragsstaaten dieses Abkommens (vgl. www.conventions.coe.int).
Auch Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) kann der Antragsteller nicht beanspruchen, da er im Sinne des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II ist (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juni 2012, L 20 AS 1322/12 B ER; Beschluss vom 25. Juli 2012, L 29 AS 1504/12 B ER). Ob der Antragsteller zum Zwecke der Rückreise in sein Heimatland einen Anspruch auf Leistungen in sonstigen Lebenslagen
nach § 73 SGB XII hat, kann dahingestellt bleiben. Derartige Leistungen sind vorliegend nicht beantragt und damit nicht Streitgegenstand (vgl.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18. März 2014, L 13 AS 363/13 B ER; Landessozialgericht Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. April 2007, L 19 B 13/07 AS ER).
Aus den genannten Gründen ist auch die Beschwerde gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche
Verfahren gemäß §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
114 Abs.
1 Satz 1
ZPO wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht zurückzuweisen und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
Beschwerdeverfahren abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG beziehungsweise aus §
73a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
127 Abs.
4 ZPO.
Dieser Beschluss kann gemäß §
177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.