Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Verfahrensfehlerhafte Behandlung eines Terminverlegungsgesuchs
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig ein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Der im Jahr 1959 geborene Kläger war zuletzt in seinem erlernten Beruf als Koch beschäftigt. Nach einem Bandscheibenvorfall
wurde er im Oktober 2018 operativ mit einer Spondylodese (Versteifung der Wirbelsäulensegmente LW 3/4 und 4/5 mittels Schrauben-Stab-System)
versorgt. Seinen Antrag auf Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung lehnte der beklagte Rentenversicherungsträger mit
Bescheid vom 11.3.2019 ab. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten des Orthopäden G ein. Dieser kam nach
Untersuchung des Klägers im November 2019 zu der Einschätzung, dass eine Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
für sechs bis acht Stunden täglich für leichte Tätigkeiten unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen bestehe;
eine Tätigkeit als Koch sei nicht mehr leidensgerecht. Hierauf gestützt wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Es bestehe
auch kein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Der Kläger könne mit seinem Restleistungsvermögen
medizinisch und sozial zumutbar auf eine Tätigkeit als Empfangsmitarbeiter in einem Catering-Unternehmen verwiesen werden
(Widerspruchsbescheid vom 23.1.2020).
Im Klageverfahren hat der Kläger einen ausgefüllten Fragebogen zu seinem beruflichen Werdegang und zu den erfolgten ärztlichen
Behandlungen übermittelt und weitere medizinische Unterlagen an das SG übersandt. Eine Begründung der Klage hat er nicht vorgelegt. Das SG hat sodann ohne Durchführung weiterer Ermittlungen nach Anhörung der Beteiligten die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 21.10.2020). Im Berufungsverfahren hat das LSG aus einem anderen Verfahren ein berufskundliches Gutachten vom 24.12.2016 über die Tätigkeit
eines Empfangsmitarbeiters im Catering beigezogen, den Beteiligten zur Kenntnis gegeben und mitgeteilt, dass weitere Ermittlungen
nicht beabsichtigt seien. Gestützt auf dieses berufskundliche Gutachten und das Ergebnis der Begutachtung im Verwaltungsverfahren
hat es den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt (Beschluss vom 7.1.2021, dem Prozessbevollmächtigten zugestellt am 18.1.2021). Mit Schriftsatz vom 18.1.2021 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufung begründet. Der Kläger sei als Küchenmeister
in die vierte Stufe des Mehrstufenschemas einzuordnen; der von der Beklagten benannte Verweisungsberuf sei deshalb unzutreffend.
Insbesondere aufgrund des chronischen lumbalen pseudoradikulären Schmerzsyndroms mit erheblichen Funktionsdefiziten an der
Wirbelsäule sei er zumindest teilweise erwerbsgemindert bzw berufsunfähig. Das LSG hat in Abwesenheit des Klägers und seines
Prozessbevollmächtigten nach mündlicher Verhandlung zwei weitere PKH-Anträge des Klägers vom 10. und 14.6.2021 abgewiesen
und die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 15.6.2021 und Urteil vom 15.6.2021).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensmangel und trägt vor, das Berufungsgericht habe das Verfahren durch Urteil
nach mündlicher Verhandlung beendet, ohne über ein zuvor gestelltes Terminverlegungsgesuch sowie einen Beweisantrag entschieden
zu haben. Zudem beantragt er die Bewilligung von PKH für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren. Eine Erklärung über seine
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hat der Kläger erstmals am 27.10.2021 (nach Einreichung der Beschwerdebegründung)
vorgelegt.
II
1. Die zulässige Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der der Kläger einen Verfahrensfehler hinreichend bezeichnet
und auch dargetan hat, dass das LSG-Urteil auf diesem Verstoß beruhen kann (Zulassungsgrund des §
160 Abs
2 Nr
3 iVm §
160a Abs
2 Satz 3
SGG), ist begründet. Das LSG hat über das Terminverlegungsgesuch des Klägers verfahrensfehlerhaft entweder nicht oder jedenfalls
fehlerhaft entschieden und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Der Senat macht insoweit von der Möglichkeit
der Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
nach §
160a Abs
5 SGG Gebrauch.
Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann und muss gegebenenfalls gemäß §
202 Satz 1
SGG iVm §
227 Abs
1 Satz 1
ZPO bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden, auch wenn das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden
ist (vgl BSG Beschluss vom 25.6.2021 - B 13 R 163/20 B - juris RdNr 10). Dabei verletzt ein Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art
103 Abs
1 GG und §
62 SGG, wenn es einen ordnungsgemäß gestellten Antrag auf Terminsverlegung nicht bescheidet, sondern aufgrund mündlicher Verhandlung
ohne den Beteiligten entscheidet, der die Terminsaufhebung beantragt hat (vgl BSG Beschluss vom 12.12.2019 - B 10 EG 3/19 B - juris RdNr 7 mwN). Über die Entscheidung sind die Beteiligten in Kenntnis zu setzen. Dies kann nach §
329 Abs
2 Satz 1
ZPO iVm §
202 Satz 1
SGG auch formlos geschehen (vgl BSG Beschluss vom 12.9.2019 - B 9 V 53/18 B - juris RdNr 14).
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 10.6.2021 beantragt, den für den 15.6.2021 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung
zu verlegen, um den Sachverhalt weiter aufzuklären. Erst drei Tage zuvor war er mit einer Schultergelenksendoprothese versorgt
und aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme stand unmittelbar bevor. Dies hat der Kläger
auch gegenüber dem LSG belegt und mit Schreiben vom 11.6.2021 den Entlassungsbericht der Klinik A vom 2.6.2021 (gemeint ist
der 7.6.2021) sowie die Zusage der Klinik E vom 8.6.2021 über eine Anschlussheilbehandlung ab 8.7.2021 übermittelt. Auch hat
der Kläger in seiner Nichtzulassungsbeschwerde überzeugend vorgetragen, eine Entscheidung über sein Terminsverlegungsgesuch
sei nicht ergangen. Zwar findet sich in den Akten des LSG ein gerichtliches Schreiben mit Datum vom 14.6.2021, in dem mitgeteilt
wird, dass nicht beabsichtigt sei, den Gerichtstermin zur mündlichen Verhandlung am 15.6.2021 zu verlegen. Eine richterliche
Verfügung dazu fehlt in den Akten aber ebenso wie ein Erledigungsvermerk darüber, dass das mit "per EGVP" überschriebene Dokument
an den Prozessbevollmächtigten übermittelt wurde. Das Gericht muss sich gegebenenfalls Gewissheit darüber verschaffen, ob
ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames Schreiben den Adressaten auch tatsächlich rechtzeitig erreicht hat
(zur ordnungsgemäßen Benachrichtigung über den Termin zur mündlichen Verhandlung vgl BSG Beschluss vom 12.3.2019 - B 13 R 160/17 B - juris RdNr 9 mwN). Hier ist schon nicht ansatzweise zu erkennen, ob ein Schreiben mit Datum vom 14.6.2021 überhaupt versandt wurde und in der
Folge dem Prozessbevollmächtigten auch zugegangen ist.
Unabhängig davon waren auch erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung iS von §
202 Satz 1
SGG iVm §
227 Abs
1 ZPO hinreichend glaubhaft gemacht. Als Vertagungsgrund kann im Einzelfall ausnahmsweise auch die Inaussichtstellung neuer aussagekräftiger
Beweise im Zusammenhang mit unmittelbar bevorstehenden stationären Aufenthalten in Betracht kommen (vgl BSG Beschluss vom 10.7.2012 - B 13 R 450/11 B - juris RdNr 14). Nach den Gesamtumständen lag hier ein solcher Fall vor. Mit Abschluss der anstehenden Rehabilitationsmaßnahme waren weitere
Erkenntnisse zum Leistungsvermögen des Klägers zu erwarten. Nach der erst kurz vor der mündlichen Verhandlung erfolgten Versorgung
mit einer Schultergelenksendoprothese war es naheliegend, dass daraus neue Gesundheitsstörungen mit langfristigen Auswirkungen
auf die Leistungsfähigkeit sowohl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als auch in möglichen Verweisungstätigkeiten folgen. Auch
im Zusammenwirken mit den übrigen, ebenfalls nicht unerheblichen Gesundheitsstörungen des Klägers, insbesondere nach Versteifung
der Wirbelsäule im Jahr 2018, kam der Einschätzung seines Leistungsvermögens nach Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme Bedeutung
zu. Dies gilt umso mehr, als zuvor im gesamten gerichtlichen Verfahren keine Ermittlungen zur Aufklärung des medizinischen
Sachverhalts stattgefunden haben.
Auf dem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich nach der gebotenen
Terminsverlegung aufgrund der während der Rehabilitationsmaßnahme gewonnenen Erkenntnisse ein für die Gewährung der begehrten
Erwerbsminderungsrente ausreichend gemindertes Leistungsvermögen wenigstens für eine Verweisungstätigkeit ergeben hätte und
der Kläger deshalb aufgrund eines Anspruchs auf teilweise Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit mit seinem Klagebegehren
zumindest teilweise Erfolg haben könnte.
2. Da die Sache schon aus diesem Grund zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist, kann dahinstehen,
ob der bereits in der Berufungsinstanz anwaltlich vertretene Kläger einen bis zum Schluss aufrechterhaltenen prozessordnungsgemäßen
Beweisantrag iS des §
103 SGG bezeichnet hat, über den das LSG hätte entscheiden müssen.
a) Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger vor dem LSG einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt hat. Mit Schriftsatz
vom 14.6.2021 hat er beantragt, "aufgrund der aktuellen Umstände (Schulterbruch)" ein schriftliches Gutachten auf orthopädischem
Fachgebiet einzuholen und als Beweisfragen ua formuliert: "1. Welche Gesundheitsstörung [gemeint ist: Gesundheitsstörungen]
liegen bei dem Kläger vor, die das Leistungsvermögen im Erwerbsleben beeinflussen? 2. Welche Verrichtungen kann der Kläger
noch ausüben, ohne seine Gesundheit zu gefährden?". Es handelt sich dabei um die üblichen, von den SGen standardisiert verwendeten
Beweisfragen zur allgemeinen Beurteilung der Gesundheitsstörungen und der daraus folgenden Leistungseinschränkungen. Dabei
fehlt es an jeder Individualisierung, die präzise den Einfluss insbesondere der neu aufgetretenen Gesundheitsbeeinträchtigungen
auf das verbliebene Leistungsvermögen zum Inhalt hat.
b) Es ist auch nicht darüber zu befinden, ob der in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellte Beweisantrag iS von §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2
SGG übergangen worden ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn aus den näheren Umständen zu entnehmen ist, dass er in der maßgebenden
mündlichen Verhandlung nicht mehr weiter verfolgt wurde (vgl BSG Beschluss vom 5.3.2002 - B 13 RJ 193/01 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73). Bei einem rechtskundig vertretenen Beteiligten ist davon regelmäßig auszugehen, wenn er unentschuldigt dem abschließenden
Verhandlungstermin fernbleibt, sofern er dazu ordnungsgemäß geladen worden ist und aus der Terminmitteilung entnehmen konnte,
dass vor einer Entscheidung weitere Beweiserhebungen von Amts wegen nicht beabsichtigt waren (vgl BSG Beschluss vom 5.3.2002 - B 13 RJ 193/01 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 74 f). Ob nach den Gesamtumständen hier ausnahmsweise etwas anderes anzunehmen wäre, kann offenbleiben.
3. Der Antrag auf Bewilligung von PKH für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten ist aufgrund
der fehlenden wirtschaftlichen Voraussetzungen abzulehnen. Dabei kann offenbleiben, ob eine Bewilligung von PKH überhaupt
noch in Betracht kommt, wenn zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife (hier am 27.10.2021) als dem Zeitpunkt, zu dem sowohl ein
formgerechter Antrag als auch eine ordnungsgemäße Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorlagen
(vgl Schultzky in Zöller,
ZPO, 34. Aufl 2022, §
119 RdNr 4) die unbedingt eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde bereits anwaltlich begründet und die Beschwerdebegründungsfrist abgelaufen
ist. Ein Prozessbevollmächtigter kann in diesem Fall nach seiner Beiordnung nichts weiter unternehmen; die bis dahin bereits
angefallene Anwaltsvergütung könnte nicht von der Staatskasse übernommen werden (vgl Schultzky aaO RdNr 6).
Ungeachtet dessen erfüllt der Kläger nicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Bewilligung von PKH nach §
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
114 Abs
1 Satz 1
ZPO. Beteiligte haben für ihre Prozessführung gemäß §
115 Abs
1 Satz 1
ZPO ihr Vermögen einzusetzen, soweit ihnen dies zumutbar ist. § 90 SGB XII gilt entsprechend (§
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
115 Abs
3 Satz 2
ZPO). Der Kläger hat gemäß seiner Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ein Guthaben auf dem Girokonto
in Höhe von "ca xxxx Euro" angegeben. Dieser Betrag übersteigt den als Schonvermögen zu berücksichtigenden Freibetrag nach
§ 1 Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs 2 Nr 9 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 11.2.1988 (BGBl I 150), zuletzt geändert durch Art 1 Verordnung vom 22.3.2017 (BGBl I 519) in Höhe von 5000 Euro. Wegen der Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens beschränken sich die aus einer Prozessführung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
voraussichtlich entstehenden Kosten im Wesentlichen auf die anfallenden Gebühren des Rechtsanwalts. Nach § 3 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) iVm Nr 3512 Vergütungsverzeichnis zum RVG in der seit 1.1.2021 geltenden Fassung reicht der Gebührenrahmen für das Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung
der Revision vor dem BSG von 96 bis 1056 Euro. Bei einem Verfahren durchschnittlichen Umfangs und Schwierigkeitsgrades wird allgemein von der "Mittelgebühr"
ausgegangen (vgl BSG Beschluss vom 9.6.2020 - B 1 KR 14/19 BH - juris RdNr 19). Unter Zugrundelegung einer mittleren Gebührenhöhe von 576 Euro kann der Kläger die anfallenden Kosten auch zuzüglich von
Auslagen und Umsatzsteuer tragen.
Die Bewilligung von PKH muss daher abgelehnt werden. Damit entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen
der PKH (§
73a Abs
1 SGG iVm §
121 Abs
1 ZPO).
4. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.