Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses im sozialgerichtlichen Verfahren wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit; Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Gründe:
I
Der im Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts (SG) Bayreuth wohnende Kläger hat vor dem SG Bayreuth Klage erhoben gegen Bescheide der beklagten Krankenkasse, mit denen seine
Versicherungspflicht aufgrund einer abhängigen Beschäftigung ab 1.1.1999 in seiner Tätigkeit als mitarbeitender Gesellschafter
einer in G. und damit im Zuständigkeitsbereich des SG Gelsenkirchen liegenden Firma festgestellt worden war. Unter Hinweis
darauf, dass die Klageerhebung allein wegen der Benennung des SG Bayreuth als zuständiges Gericht im Widerspruchsbescheid
erfolgt sei, hat er um Prüfung gebeten, ob eine Verweisung des Rechtsstreits an das SG Gelsenkirchen als dem für den Ort seiner
Tätigkeit zuständigen SG in zumindest analoger Anwendung des §
57 Abs
1 Satz 1 2. Halbsatz
SGG in Betracht komme, und später einen entsprechenden Verweisungsantrag gestellt. Das SG Bayreuth hat den Beteiligten Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben, sich nach Eingang der Stellungnahmen mit Beschluss vom 6.8.2009 für örtlich unzuständig erklärt
und den Rechtsstreit an das SG Gelsenkirchen verwiesen. Das SG Gelsenkirchen hat mit Schreiben vom 1.10.2009 die Streitsache
dem Bundessozialgericht (BSG) vorgelegt, weil der Verweisungsbeschluss unter Missachtung der Stellungnahme der Beklagten willkürlich
ergangen und damit nicht bindend sei.
II
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach §
58 Abs
1 Nr
4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen
Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Bayreuth und dem SG Gelsenkirchen berufen, nachdem das SG Bayreuth seine örtliche Zuständigkeit
verneint und den Rechtsstreit an das SG Gelsenkirchen verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich
zuständig hält, sondern weiterhin das SG Bayreuth mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das SG Gelsenkirchen konnte
von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung
des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG, Beschluss vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2).
Zum zuständigen Gericht ist das SG Gelsenkirchen zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Bayreuth vom
6.8.2009 gebunden ist.
Gemäß §
98 Satz 1
SGG iVm §
17a Abs
2 Gerichtsverfassungsgesetz (
GVG) ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend.
Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art
19 Abs
4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller
Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über den Anwendungsbereich von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit
zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs
zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach §
58 Abs
1 Nr
4 SGG.
Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer
Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (vgl BSG, Beschlüsse vom 25.2.1999, B 1 SF 9/98 S, SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, vom 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15, und vom 8.5.2007, B 12 SF 3/07 S, SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4, sowie Bundesverfassungsgericht vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist,
sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art
3 Abs
1 GG verletzt. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lässt die Bindungswirkung nicht entfallen. Danach ist für eine
vom Verweisungsbeschluss des SG Bayreuth abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen SG kein Raum.
Das SG Gelsenkirchen ist schon deshalb für die Entscheidung örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des SG Bayreuth
nach §
98 Satz 1
SGG, §
17a Abs
2 GVG unanfechtbar (§
98 Satz 2
SGG) und für das SG Gelsenkirchen bindend ist (§
17a Abs
1 GVG). Der Beschluss beruht nicht auf einer Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze, soweit sie hier zu beachten sind. Die
fehlende Begründung des Beschlusses ist kein solcher Verstoß. Ob der Beschluss unter Verletzung des Anspruchs der Beteiligten
auf rechtliches Gehör ergangen ist, kann offenbleiben, denn eine Verletzung dieses Anspruchs ist von keinem der Beteiligten
nach Zustellung des Verweisungsbeschlusses des SG Bayreuth rechtzeitig geltend gemacht worden.
Das Verfahren bis zum Erlass des Beschlusses des SG Bayreuth legt allerdings nahe, dass hier das rechtliche Gehör der Beklagten
verletzt sein könnte. Die Beklagte hatte im Schriftsatz vom 3.8.2009 auf den Wohnort des Klägers im Gerichtsbezirk des SG
Bayreuth hingewiesen. Wenn das SG Bayreuth gleichwohl die Verweisung ohne jede Begründung aussprach, musste dies aus der Sicht
der Beklagten den Eindruck erwecken, ihr Schriftsatz sei nicht zur Kenntnis genommen worden. Die Verletzung des Anspruchs
auf rechtliches Gehör ist in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte als Grund angesehen worden, die Bindungswirkung
eines Verweisungsbeschlusses nicht zu beachten (vgl BAG AP Nr 9 zu §
36 ZPO; BGHZ 71, 69 = FamRZ 1978, 402 = NJW 1978, 1163). Dies kann jedoch jedenfalls nach Einführung der Anhörungsrüge (§
178a SGG) nur noch mit der Maßgabe gelten, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs von einem der Beteiligten innerhalb angemessener
Frist nach Zustellung des Beschlusses geltend gemacht wird. Zwar gilt §
178a SGG nicht für Entscheidungen, die der Endentscheidung vorausgehen. Aus dieser Vorschrift ist jedoch der Grundsatz zu entnehmen,
dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht etwa zu einer von Amts wegen zu berücksichtigenden Unbeachtlichkeit
einer Entscheidung führt. Die Verletzung muss vielmehr innerhalb angemessener Frist von dem gerügt werden, dessen Anspruch
auf Gehör verletzt ist, wobei als angemessen die Frist des §
178a SGG zugrunde zu legen ist. Eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das verweisende Gericht ist deshalb
nicht etwa ohne Rüge von dem Gericht, an das ein Rechtsstreit verwiesen wird, zu prüfen und kann ohne vorhergehende Rüge im
Rahmen einer Vorlage zur Entscheidung nach §
58 SGG keine vom Verweisungsbeschluss abweichende Bestimmung des zuständigen Gerichts rechtfertigen. Der Senat braucht hier nicht
zu entscheiden, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch den Betroffenen beim verweisenden Gericht oder beim Gericht,
an das verwiesen worden ist, geltend zu machen wäre. Der Beschluss ist den Beteiligten am 10.8.2009 zugestellt worden. Die
fehlende Begründung als der Umstand, der die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör begründen könnte, war damit bekannt.
Bis zur Vorlage an das BSG durch das SG Gelsenkirchen am 1.10.2009 hat keiner der Beteiligten die Verletzung des rechtlichen
Gehörs gerügt. Das spätere Vorbringen der Beklagten ist unbeachtlich. Das SG Gelsenkirchen selbst wiederum konnte jedenfalls
nicht ohne eine solche Rüge der Beklagten den Verweisungsbeschluss mit der Begründung für unbeachtlich erklären, das Vorbringen
der Beklagten sei vom SG Bayreuth nicht berücksichtigt worden. In der Sache macht das SG Gelsenkirchen damit geltend, der
Beschluss sei unter Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör ergangen.
Die Entscheidung des SG Bayreuth ist auch nicht willkürlich. Selbst wenn das SG Bayreuth möglicherweise die Vorschrift des
§
57 Abs
1 Satz 1 2. Halbsatz
SGG fehlerhaft angewandt hat, nach der ein in einem Beschäftigungsverhältnis stehender Kläger auch vor dem für seinen Beschäftigungsort
zuständigen SG klagen kann, war seine Rechtsauffassung nicht unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt unvertretbar. Der Kläger hatte zwar bei
Erhebung der Klage seinen Wohnsitz im Zuständigkeitsbereich des SG Bayreuth, dennoch war es nicht völlig fernliegend, entsprechend
der Rechtsansicht des Klägers eine Zuständigkeit des SG Gelsenkirchen nach §
57 Abs
1 Satz 1 2. Halbsatz
SGG anzunehmen, weil er in dessen Zuständigkeitsbereich tätig war. Da die Beklagte ihre angefochtene Entscheidung gerade auf
das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung gestützt hatte, war möglicherweise hier - ähnlich wie für die Prüfung der Kostenfreiheit
nach §
183 SGG - für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit zugunsten des Klägers von der im angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten
Rechtslage auszugehen. Der Kläger könnte auch berechtigt gewesen sein, noch mit oder nach Erhebung der Klage vor dem für seinen
Wohnort zuständigen SG seine Wahl gemäß §
57 Abs
1 Satz 1 2. Halbsatz
SGG auszuüben, weil im Widerspruchsbescheid nicht auf ein solches Wahlrecht hingewiesen worden war (vgl zur Wahlmöglichkeit Keller
in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer
SGG 8. Aufl 2005 §
57 RdNr 7a und 7b mwN, sowie nunmehr 9. Aufl 2008 § 57 RdNr 7a und 7b mwN). Soweit das SG Bayreuth darüber hinaus trotz des
Hinweises der Beklagten nicht ermittelt hat, ob diese Tätigkeit zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch ausgeübt wurde, konnte
dies zwar zu einer fehlerhaften Rechtsanwendung führen, ließ jedoch den Beschluss nicht allein deshalb als willkürlich erscheinen.
Auch andere Umstände sind nicht ersichtlich, die darauf schließen lassen könnten, dass die Entscheidung des SG Bayreuth auf
sachfremden Erwägungen beruht haben könnte.