Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Begriff der Überraschungsentscheidung
Gründe:
I
Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet an einem Reizdarmsyndrom. Er beantragte unter Beifügung
einer befürwortenden ärztlichen Stellungnahme (Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach §
31 Abs
6 SGB V) die Versorgung mit Cannabisblüten zur Behandlung seines Leidens. Nach Eingang des Schreibens bei der Beklagten am 31.1.2020
beauftragte diese den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und teilte dem Kläger dies mit. Im weiteren Verlauf
informierte sie ihn schriftlich, dass eine Entscheidung bis spätestens am 2.4.2020 ergehen werde (Schreiben vom 3.3.2020,
dem Kläger nach seinen Angaben am 10.3.2020 zugegangen). Aufgrund eines negativen MDK-Gutachtens (10.3.2020) lehnte die Beklagte
die Versorgung zunächst ab (Bescheid vom 13.3.2020). Der Kläger legte Widerspruch ein und berief sich auf den Eintritt der
Genehmigungsfiktion. Die Beklagte half dem Widerspruch ab und genehmigte die Versorgung (Bescheid vom 26.5.2020). Daraufhin
beantragte der Kläger unter Vorlage mehrerer Rezepte und entsprechender Apotheken-Quittungen (30.1.2020, 14.2.2020, 27.2.2020)
Kostenerstattung (jeweils 134,26 Euro). Dies veranlasste die Beklagte, den Bescheid vom 26.5.2020 nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X für die Vergangenheit zurückzunehmen. Der Kläger habe den Beschaffungsweg nicht eingehalten und sich die Leistung schon vor
Ablauf der Drei-Wochen-Frist beschafft. Hiervon habe sie erst durch den Kostenerstattungsantrag erfahren (Bescheid vom 23.6.2020).
Der Kläger hat nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 6.8.2020) Anfechtungsklage erhoben und ferner
beantragt, die ihm nach Eintritt der Genehmigungsfiktion entstandenen Kosten von 134,26 Euro für die Beschaffung von Cannabisblüten
zu erstatten. Das SG hat die angefochtenen Bescheide vom 23.6. und 6.8.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die dem Kläger ab 6.3.2020
durch die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten zu erstatten. Bei dem Schreiben handele es sich um einen Verwaltungsakt, der
rechtmäßig sei. Es habe der Beklagten freigestanden, aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion die Genehmigung nach §
31 Abs
6 SGB V zu erteilen. Rechtswidrig sei er auch nicht deshalb, weil der Kläger schon zuvor sich selbst Cannabis beschafft habe. Denn
hierbei handele es sich weder um den Behandlungsbeginn noch liege ein einheitliches Behandlungsgeschehen vor. Auch lägen die
Rücknahmevoraussetzungen nicht vor (Gerichtsbescheid vom 22.10.2020). Im Berufungsverfahren hat die Berichterstatterin in
einem Hinweisschreiben (26.1.2021) den Beteiligten mitgeteilt, selbst wenn der Bescheid vom 26.5.2020 rechtmäßig gewesen sei,
erfülle der Rücknahmebescheid nicht die gesetzlichen Voraussetzungen. Die Berichterstatterin hat sich insoweit den Ausführungen
des SG angeschlossen, als es einen von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X erfassten Sachverhalt verneint und einen Ermessensfehlgebrauch angenommen hat. Das LSG hat im Einverständnis der Beteiligten
durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden und den Gerichtsbescheid abgeändert. Es hat die angefochtenen Bescheide
hinsichtlich ihrer Wirkung für die Zukunft bestätigt, im Übrigen aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung von 134,26 Euro verurteilt.
Der Bescheid vom 26.5.2020 sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen des §
31 Abs
6 SGB V lägen nicht vor. Der Kläger leide an keiner schwerwiegenden Erkrankung, eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard
entsprechende Therapiealternative sei anwendbar. Dies ergebe sich aus der im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahme
des MDK. Die Rücknahmevoraussetzungen hätten nur für die Zukunft vorgelegen. Insoweit bestehe beim Kläger kein schutzwürdiges
Vertrauen. Er habe keine großen Vermögensdispositionen getroffen. Die Beklagte habe auch erkennbar Ermessen ausgeübt (Urteil
vom 27.4.2021).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.
II
Die Beschwerde, mit der der Kläger allein einen Verfahrensmangel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) rügt, ist zulässig, aber unbegründet.
1. Das LSG hat nicht das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Das LSG-Urteil ist entgegen der Auffassung des
Klägers keine Überraschungsentscheidung.
Das jedermann gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör (§
62 SGG, Art
103 Abs
1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 EMRK) ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens (vgl BVerfG vom 29.5.1991 -
1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190 = juris RdNr 7). Es steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht
des Staates. Der Einzelne darf nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern soll vor einer Entscheidung, die seine individuellen
Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um in angemessener Weise Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können
(vgl BVerfG [Kammer] vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377, 381 = juris RdNr 18 mwN). Es verlangt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und
Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (stRspr; vgl BVerfG [Kammer] vom
15.2.2017 - 2 BvR 395/16 - juris RdNr 4 mwN).
a) Eine das Recht auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung
auf einen bislang nicht erörterten wesentlichen Gesichtspunkt - auch tatsächlicher Art - stützt und dem Rechtsstreit dadurch
eine unerwartete Wendung gibt, mit der selbst ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf
auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen musste (stRspr; vgl BVerfG vom 7.10.2003
- 1 BvR 10/99 - BVerfGE 108, 341, 345 f = juris RdNr 14 mwN). Ein Gericht verstößt damit zugleich gegen das aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitende Gebot eines
fairen Verfahrens (vgl BVerfG [Kammer] vom 7.7.2021 - 1 BvR 2356/19 - NJW 2021, 3525, RdNr 13 mwN; allgemein zum Gebot fairen Verfahrens BVerfG [Kammer] vom 30.3.2021 - 2 BvR 1546/20 - juris RdNr 18 mwN).
Entgegen der Meinung des Klägers ist in der Rechtsauffassung des LSG keine unerwartete Wendung zu erblicken, mit der selbst
ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht hätte rechnen müssen.
aa) Dies gilt zunächst hinsichtlich der Auslegung des Merkmals der schwerwiegenden Erkrankung in §
31 Abs
6 Satz 1
SGB V und der Subsumtion im konkreten Fall unter Heranziehung des ausführlichen MDK-Gutachtens. Letzteres hat selbst schon - ebenso
wie später das LSG-Urteil - auf die Auslegung des Merkmals schwerwiegende Erkrankung durch den erkennenden Senat verwiesen,
wonach eine schwerwiegende Erkrankung nur dann vorliegt, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
beeinträchtigt (stRspr zum Off-Label-Use; vgl BSG vom 19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 191 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 36 = juris RdNr 26; BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53, RdNr 34; zum Anspruch auf stationäre Behandlungen nach dem abgesenkten Qualitätsgebot des Potentialmaßstabs BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R - BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr 15, RdNr 40). Auch musste der Kläger damit rechnen, dass das LSG, gestützt auf das MDK-Gutachten,
eine vorrangige, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung anstelle der Cannabis-Therapie bejahen wird.
bb) Der Kläger musste angesichts des ihm bekannten Urteils des erkennenden Senats vom 26.5.2020 (B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53) ferner damit rechnen, dass das Genehmigungsschreiben der Beklagten vom 26.5.2020 ein Verwaltungsakt
ist, dessen Rechtmäßigkeit sich nach dem allgemeinen Leistungsrecht und seinen materiellen Anspruchsvoraussetzungen richtet
und insoweit den allgemeinen Vorschriften über die Rücknahme von Verwaltungsakten nach § 45 SGB X unterliegt.
Zur Genehmigungsfiktion hat der Senat ausgeführt (aaO RdNr 9,
10,
29, 31): "Die Genehmigungsfiktion nach §
13 Abs
3a Satz 6
SGB V vermittelt keinen eigenständigen Anspruch auf Versorgung mit einer Naturalleistung, sondern nur ein Recht auf Selbstbeschaffung
bei Ablauf der in §
13 Abs
3a SGB V genannten Fristen mit Anspruch auf Erstattung der Beschaffungskosten. Insoweit gibt der Senat seine bisherige Rechtsprechung
auf (...) Eine fingierte Genehmigung nach dem Leistungsrecht der GKV (§
13 Abs
3a Satz 6
SGB V) begründet keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch. (...) Sie vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui
generis. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung (bei Gutgläubigkeit ...) selbst zu beschaffen und verbietet es der KK nach
erfolgter Selbstbeschaffung, eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der GKV bestehe
kein Rechtsanspruch auf die Leistung. (...) Die nach Fristablauf fingierte Genehmigung eines Antrags auf Leistungen hat nicht
die Qualität eines Verwaltungsaktes. Durch den Eintritt der Genehmigungsfiktion wird das durch den Antrag in Gang gesetzte
Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen. Die KK ist weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den gestellten Antrag zu
entscheiden und damit das laufende Verwaltungsverfahren abzuschließen (Aufgabe von BSG vom 11.7.2017 - B 1 KR 26/16 R - BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 10 und 37; zuletzt BSG vom 27.8.2019 - B 1 KR 36/18 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 48 RdNr 11 und 42). Ist über den materiellrechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden oder hat
sich der Antrag anderweitig erledigt, endet das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht auf Selbstbeschaffung der beantragten
Leistung auf Kosten der KK. (...) Danach ist die durch §
13 Abs
3a Satz 6 und 7
SGB V vermittelte Rechtsposition eine endgültige, soweit es um den Kostenerstattungsanspruch für den jeweiligen Beschaffungsvorgang
im laufenden Verfahren geht. Diese Rechtsposition ist in ihrer Dauer hingegen durch die Dauer des Verwaltungs- einschließlich
des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens begrenzt und in diesem Sinn eine vorläufige Rechtsposition."
Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, er habe nicht damit rechnen können, dass das LSG diese Rechtsprechung auf Sachverhalte
anwende, bei denen die Fiktion schon vor Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des Senats eingetreten sei, kann sich auch
daraus keine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter dem Gesichtspunkt einer Überraschungsentscheidung ergeben. Das Urteil
des erkennenden Senats vom 26.5.2020 (B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53) und damit die dort formulierten neuen Rechtssätze zur Genehmigungsfiktion nach §
13 Abs
3a SGB V betrafen einen Sachverhalt aus dem Jahre 2016, bei dem die Genehmigungsfiktion bereits eingetreten war. Der Kläger musste
deshalb damit rechnen, dass das LSG die neuere Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Genehmigungsfiktion auch auf seinen
Fall aus dem Jahr 2020 anwenden wird.
b) Eine das Recht auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung kann auch dann vorliegen, wenn ein Prozessbeteiligter
trotz grundsätzlich zu erwartender Rechtsauffassung des Gerichts mit einer Wendung im Rechtsstreit deshalb nicht rechnen musste,
weil das Gericht den Rechtsstreit zunächst in eine bestimmte Richtung gelenkt hat (zB mit Äußerungen zur Notwendigkeit weiterer
Ermittlungen vor Eintritt der Entscheidungsreife), später in seiner Endentscheidung an den mit der ursprünglichen Einschätzung
verbundenen rechtlichen Konsequenzen aber nicht mehr festhalten will. Ein Gericht darf sich in seiner Instanz abschließenden
Entscheidung nicht ohne Weiteres über eine von ihm zuvor selbst herbeigeführte Prozesslage, auf deren fortbestehender Maßgeblichkeit
die Beteiligten vertrauen durften, hinwegsetzen. Das Nicht-Festhalten-Wollen an einer solchen Prozesslage gebietet es vielmehr,
den Beteiligten zuvor schriftlich oder mündlich einen entsprechenden rechtlichen Hinweis zu geben (vgl BSG vom 26.3.2020 - B 3 P 14/19 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 22 RdNr 6; BSG vom 10.6.2021 - 9 B V 1/21 B - juris RdNr 10).
Eine Überraschungsentscheidung liegt hingegen dann nicht vor, wenn nur ein Mitglied des Spruchkörpers eine Rechtsauffassung
dahingehend geäußert hat, die spätere Sachentscheidung werde zugunsten eines Beteiligten ausfallen. Denn es handelt sich dann
nur um eine Einzelmeinung, die für die nachfolgende Entscheidung des gesamten Spruchkörpers weder rechtlich bindend sein kann
noch tatsächlich den Schluss zulässt, diese Meinung sei mit dem Spruchkörper bereits abgestimmt (vgl BSG vom 12.6.1990 - 2 BU 227/89 - juris RdNr 4; BSG vom 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B - juris RdNr 6; BSG vom 18.7.2011 - B 14 AS 86/11 B - juris RdNr 7; BSG vom 1.8.2013 - B 12 R 2/13 B - juris RdNr 6; BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 308/13 B - juris RdNr 9; BSG vom 17.8.2017 - B 5 R 11/17 B - juris RdNr 8 f; s ferner BFH vom 28.11.2006 - X B 160/05 - juris RdNr 25 f; BFH vom 19.5.2010 - IX B 16/10 - juris RdNr 4; BFH vom 10.5.2012 - X B 26/11 - juris RdNr 15; BVerwG vom 5.12.2001 - 4 B 82/01 - juris RdNr 6). Eine Überraschungsentscheidung ergibt sich deshalb etwa nicht bereits daraus, dass ein Senatsvorsitzender
in der letzten mündlichen Verhandlung im Rahmen der Verhandlungsführung (§
112 Abs
1 Satz 1 und Abs
2 Satz 2
SGG) eine Äußerung abgegeben hat, aus welcher ein Beteiligter entnehmen konnte, die spätere Senatsentscheidung werde zu seinen
Gunsten ausfallen. Eine solche Äußerung ist eine Einzel-Meinung und kann für die (nachfolgende) Entscheidung des "Gerichts",
dh des gesamten Spruchkörpers, nicht bindend sein. Denn im Berufungsverfahren entscheiden fünf Richter (drei Berufs- und zwei
ehrenamtliche Richter), deren Stimme jeweils das gleiche Gewicht zukommt (vgl §
19 Abs
1 SGG). Bei objektiver Betrachtung kann sich deshalb ein rechtskundig vertretener Verfahrensbeteiligter nicht darauf verlassen,
dass sich der Senat bei der abschließenden Beratung der vom Vorsitzenden zunächst in der vorangegangenen Verhandlung geäußerten
Auffassung zur Wertung eines Sachverständigengutachtens (Beweiswürdigung) anschließen werde (vgl BSG vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 f = juris RdNr 5; ebenso bei einem Hinweis des Vorsitzenden im "Vorfeld der Entscheidung"
BSG vom 26.3.2020 - B 3 P 14/19 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 22 RdNr 6; anders bei Anwesenheit aller Mitglieder des Senats in der mündlichen Verhandlung BSG vom 17.8.2017 - B 5 R 11/17 B - juris RdNr 9; dagegen auch in diesem Fall auf eine Einzelmeinung des Vorsitzenden abstellend BSG vom 21.3.2002 - B 7 AL 64/01 R - SozR 3-1300 § 13 Nr 7 S 29 f = juris RdNr 19). Nichts anderes gilt für ein Berichterstatterschreiben, das als solches gekennzeichnet
ist und für sich nicht in Anspruch nimmt, die vorläufige Rechtsauffassung des gesamten Spruchkörpers wiederzugeben (vgl BSG vom 17.10.2019 - B 14 AS 309/18 B - juris RdNr 3 ff).
Jedenfalls bedarf es besonderer Umstände, um bereits ein Berichterstatterschreiben einer Äußerung des gesamten Spruchkörpers
gleichzustellen. Solche liegen nicht vor, wenn die Beteiligten in gegensätzlicher Richtung zum Berichterstatterschreiben deutlich
Stellung nehmen. Dann muss dem Beteiligten, der sich durch dieses Schreiben in seiner Rechtsauffassung bestätigt sieht, bewusst
sein, dass die Meinungsbildung des gesamten LSG-Senats noch nicht abgeschlossen sein kann. So liegt der Fall hier.
Die Berichterstatterin schrieb hier einleitend, dass der rechtliche Hinweis nur nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage
ergehe. Sie machte zwar dennoch sehr deutlich, dass der Rücknahmebescheid rechtswidrig sei. Aber in diesen zentralen Rechtsausführungen
des Schreibens zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 SGB X gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Berichterstatterin mehr als ihre eigene Rechtsauffassung mitteilen wollte. Aus der
Verwendung des Passivs im Schlusssatz ("wird die Beklagte um Stellungnahme ... gebeten") konnten die Beteiligten jedenfalls
nicht entnehmen, dass die Berichterstatterin mit dem von ihr allein unterschriebenen Hinweis zumindest für die Berufsrichter
nach erfolgter Vorberatung ein Zwischenergebnis mitteilen wollte. Die ehrenamtlichen Richter konnten ohnehin noch nicht damit
befasst gewesen sein.
Es liegen keine besonderen Umstände vor, die Grundlage für ein berechtigtes Vertrauen des Klägers hätten sein können, der
LSG-Senat werde im Sinne des Berichterstatterschreibens entscheiden. Hier ist die Beklagte, die selbst eine Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung beantragt hat, im selben Schriftsatz den Ausführungen im Berichterstatterschreiben - zum Teil mit neuen
Argumenten - entschieden entgegengetreten und hat für den Unterliegensfall die Zulassung der Revision beantragt. Der Kläger
hat in Kenntnis dessen unter nochmaliger ausführlicher Darlegung seiner Rechtsauffassung und Stellungnahme zu den neuen Argumenten
einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Damit ist die Situation nicht anders als in einer mündlichen Verhandlung,
in der die Beteiligten durch ihren Vortrag versuchen, auf den gesamten Senat, dessen Einschätzung sie nicht kennen, in ihrem
jeweiligen Sinne Einfluss zu nehmen.
2. Sofern der Kläger mit seinem Vorbringen auch sinngemäß geltend machen sollte, dass dem Urteil kein wirksames Einverständnis
mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (mehr) zugrunde gelegen habe und deshalb die Voraussetzungen des §
124 Abs
2 SGG nicht erfüllt gewesen seien, ist diese Rüge jedenfalls unbegründet.
Die Erklärung, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde - wie hier von den Beteiligten erklärt -, steht regelmäßig
unter dem Vorbehalt der im wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage; sie besagt, dass der Beteiligte unter
den gegenwärtigen Verhältnissen und nach dem aktuellen Erkenntnisstand eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält,
weil aus seiner Sicht der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist und die notwendigen rechtlichen Argumente ausgetauscht
sind. Ändert sich die Prozesslage wesentlich, so entzieht das dem bisherigen Verzicht die Grundlage; die Einverständniserklärung
ist dann verbraucht und muss erneut eingeholt werden, wenn das Gericht weiterhin ohne mündliche Verhandlung entscheiden will
(vgl BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 mwN).
Zu den für den Verzicht auf mündliche Verhandlung bedeutsamen Umständen kann auch das Vertrauen in die Maßgeblichkeit einer
vom Gericht den Beteiligten gegenüber vorgenommenen rechtlichen Bewertung des Prozessstoffs gehören. Allerdings ist nicht
jeder im Laufe des Verfahrens vom Vorsitzenden oder einem Mitglied des Spruchkörpers gegebene rechtliche Hinweis geeignet,
ein solches Vertrauen zu begründen. Wird im Zuge der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses (§
112 Abs
2 Satz 2 und Abs
4 SGG) mit den Beteiligten ein Rechtsgespräch geführt, sind die dort geäußerten Rechtsansichten erkennbar unverbindlich und enthalten
keine Festlegungen, auf die sich die Beteiligten bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können. Anders ist es jedoch,
wenn der gesamte Spruchkörper nach Durchführung einer förmlichen Beratung seine Rechtsauffassung zu einer entscheidungserheblichen
Frage zu Protokoll gibt und hieran Vorschläge für eine sachgerechte Lösung und prozessuale Behandlung des Falles knüpft. Wenn
aus einem solchen Vorgehen auch keine Bindung für eine spätere Entscheidung erwächst, beinhaltet es doch eine zumindest vorläufige
rechtliche Festlegung, die den Beteiligten als Grundlage für ihre weiteren Dispositionen dienen soll. Deckt sich die vom Gericht
verlautbarte Rechtsauffassung mit der eigenen, kann der Betroffene davon ausgehen, dass die Rechtsfrage in seinem Sinne beantwortet
werden wird. Stimmt er in einer solchen Situation einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu, geschieht dies in der
Erwartung, dass es bei der eingenommenen Rechtsposition verbleibt und eine vertiefte Erörterung der damit zusammenhängenden
Fragen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht mehr erforderlich ist. Will das Gericht an der geäußerten Rechtsauffassung
nicht festhalten, ändert dies die für den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung maßgebend gewesene Prozesslage und führt
dazu, dass die Einverständniserklärung ihre Wirksamkeit verliert (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 8 = juris RdNr 10). Fehlt es an einem derart begründeten schutzwürdigen Vertrauen, bleibt der
Verzicht auf eine mündliche Verhandlung wirksam.
Hier hat, wie unter 1. b) ausgeführt, nicht der LSG-Senat, sondern im Vorfeld die Berichterstatterin nur ihre persönliche
Auffassung zur rechtlichen Beurteilung des Falls mitgeteilt. Auch fehlt es an besonderen Umständen, die ausnahmsweise eine
Hinweispflicht geboten und deshalb eine erneute Anfrage zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erforderlich gemacht
hätten.
Der Kläger hatte - wie unter 1.a) begründet - auch nicht davon ausgehen dürfen, dass in der Senatsberatung mit den ehrenamtlichen
Richtern keine anderen rechtlichen Aspekte als die im Berichterstatterschreiben entscheidungsrelevant werden könnten. Nach
Abgabe der Einverständniserklärung des Klägers sind keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen worden. Auch sonst hat sich die
Tatsachen- oder Rechtsgrundlage nicht entscheidungserheblich geändert.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.