Prozessvoraussetzung für eine Leistungs- oder Feststellungsklage im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Streitig ist die Anerkennung einer Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 und Nr 2109 der
Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) sowie deren Entschädigung.
Der im Jahre 1948 geborene Kläger, der über einen Abschluss als Diplom-Politologe verfügt, war - laut Tatbestand des angefochtenen
Urteils des Landessozialgerichts (LSG) - "nach seinen Angaben" im Laufe seines Erwerbslebens in unterschiedlichen Arbeitsbereichen
beschäftigt. Er war als Hilfsarbeiter (Juli bis August 1969), Transporter (Februar bis März 1970), Aushilfe in einem Kies-
und Sandwerk (August bis September 1970), Hochbauhelfer (Februar bis März und August bis September 1971), Nachtpförtner (Oktober
1973 bis April 1974), für das ILO in Genf (Oktober 1977 bis März 1981), für den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (November
1982 bis November 1983), für ein ILO/UN-HCR-Projekt in Argentinien und Leiter eines Projektes zur genossenschaftlichen Förderung
von Lumpensammlern in Uruguay (Juli 1985 bis Ende 1987), Bauhelfer (September bis November 1989) und schließlich als Fachanleiter
für den Service-Bereich bei einer Jugendwerkstatt (11. Dezember 1989 bis 30. September 1997) beschäftigt. Zwischenzeitlich
war er vom 2. November 1993 bis 28. März 1994 und vom 22. April bis 6. Mai 1994 bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit
(GTZ) als Gutachter tätig.
Im Juli 1998 beantragte der Kläger die Anerkennung seines Wirbelsäulenleidens als BK. Dabei bezog er sich ausschließlich auf
seine Tätigkeit als Fachanleiter bei der Jugendwerkstatt, bei der er regelmäßig körperlich schwere Arbeiten, insbesondere
schweres Heben und Tragen bei Umzügen, zu verrichten gehabt habe, und auf von ihm vorgelegte medizinische Unterlagen mit Befunden
zu seiner Wirbelsäulenerkrankung. Die Beklagte ermittelte zur Krankengeschichte sowie den Tätigkeiten des Klägers. Die Krankenkasse
des Klägers teilte als Erkrankungen ua "Lumbalgie" (1990), "Schmerzen bei chronischem WS-Leiden" (1991), "LWS-Syndr., chron.
Leiden" (1994) und "Cerv. Bandscheibenvorfall" (1996) mit. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten berichtete,
die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen iS des "Merkblattes für die ärztliche Untersuchung" zu Nr 2108 (BArbl 3/1993, 50
ff - im Folgenden "Merkblatt"), insbesondere die Langjährigkeit, seien nicht gegeben. Nachdem der Landesgewerbearzt in seiner
Stellungnahme vom 27. Januar 1999 ausgeführt hatte, bei dem Kläger bestünden degenerative Veränderungen bzw außerberufliche
Erkrankungen der gesamten Wirbelsäule, auch lägen laut TAD die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK Nr 2108 nicht
vor, somit bestehe weder die haftungsbegründende noch die haftungsausfüllende Kausalität für eine BK der Bandscheiben, lehnte
die Beklagte den Antrag des Klägers ab; seine Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule stellten keine BK Nr 2108 dar (Bescheid
vom 15. März 1999).
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte erneut eine Stellungnahme ihres TAD vom 21. Juni 1999 ein, die dieser
nunmehr aufgrund von Befragungen des ehemaligen Arbeitgebers des Klägers und bei diesem selbst sowie Ermittlungen vor Ort
erstellte. Als belastende Tätigkeiten nannte der TAD nunmehr Möbeltransporte, Wohnungsauflösungen und Entrümpelungen, Umzüge
und Ausgrabungsarbeiten von Hand und führte aus, für den Zeitraum von Dezember 1989 bis November 1996 hätten an drei Arbeitstagen
pro Woche die Kriterien für die arbeitstechnischen Voraussetzungen iS des Merkblattes vorgelegen; von diesem Zeitraum seien
die Zeiten der Kurmaßnahmen in den Jahren 1993 und 1996 abzuziehen. Das Kriterium der Langjährigkeit der Belastung werde damit
nicht erfüllt. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück; als lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeit
sei ein Zeitraum von sieben Jahren während der Tätigkeit als Fachanleiter zugrunde zu legen und selbst bei Hinzuziehung der
möglicherweise wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten als Hilfsarbeiter, Transportarbeiter, Aushilfskraft und Hochbauhelfer bzw
Bauhelfer ergebe sich insgesamt lediglich ein Zeitraum lendenwirbelsäulenbelastender Tätigkeit von sieben Jahren und neun
Monaten, der die vom Merkblatt zur BK Nr 2108 geforderte unterste Grenze für eine langjährige Tätigkeit von zehn Jahren nicht
erreiche, außerdem sprächen das Auftreten von Wirbelsäulenbeschwerden weit vor Beendigung des Zehnjahreszeitraums und das
polysegmentale Schadensbild gegen einen beruflichen ursächlichen Zusammenhang (Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 1999).
Das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) hat die auf Anerkennung einer BK Nr 2108 und Gewährung der gesetzlichen Leistungen gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid
vom 16. November 2000). Das LSG hat die Berufung des Klägers, mit der nunmehr neben der Anerkennung des Wirbelsäulenleidens
als BK Nr 2108 auch eine solche als BK Nr 2109 geltend gemacht wurde, zurückgewiesen (Urteil vom 7. März 2003). Voraussetzung
für die Feststellung einer BK sei, dass die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung zur
vollen richterlichen Überzeugung nachgewiesen seien. Allerdings habe der Gesetzgeber in §
9 Abs
3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) eine Beweiserleichterung eingeführt; bei der BK Nr 2108 sei dieser Anscheinsbeweis jedoch nicht anwendbar, weil es für dessen
Anwendung derzeit keine hinreichend gesicherten Erfahrungssätze gebe (Hinweis auf Bundessozialgericht >BSG< Urteil vom 18.
November 1997 - 2 RU 48/96 - ua). Daher sei in jedem Einzelfall eine konkrete individuelle Kausalitätsbeurteilung erforderlich. Denn nicht immer, wenn
eine entsprechende berufliche Belastung und eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS oder Halswirbelsäule (HWS) zusammenträfen,
sei der Kausalzusammenhang gegeben, vielmehr seien mögliche andere Ursachen ebenfalls zu berücksichtigen. Diese konkurrierenden
möglichen Ursachen müssten feststehen; dann sei eine Abwägung zwischen ihnen und der beruflichen Belastung nach der Kausalitätstheorie
der wesentlichen Bedingung erforderlich. Die notwendige Gesamtwürdigung, die alle Kriterien umfassen müsse, falle zu Lasten
des Klägers aus, weil die überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine außerberufliche Verursachung seines Leidens spreche. Unstreitig
sei nur, dass der Kläger neben Schädigungen der LWS auch solche vor allem der HWS, jedoch auch der Brustwirbelsäule (BWS)
aufweise. Streitig sei schon die Frage der langjährigen Belastung. Wenn die Beklagte zu einem maximal berücksichtigungsfähigen
Zeitraum von sieben Jahren und neun Monaten komme, so umfasse diese Berechnung auch die nicht wirbelsäulenbelastenden Zeiten
des Klägers als Gutachter bei der GTZ, sodass der Zehnjahreszeitraum um rund ein Viertel unterschritten werde. Bei einer so
deutlichen Unterschreitung des Kriteriums der Langjährigkeit sei die Möglichkeit der Beweiserleichterung nicht gegeben.
Der danach notwendige Vollbeweis scheitere auch aus anderen Gründen: Zu Lasten des Klägers gehe, dass bei ihm lumbale Beschwerden
bereits unmittelbar nach Aufnahme der belastenden Tätigkeiten bei der Jugendwerkstatt aufgetreten seien. Gegen eine berufsbedingte
Verursachung des Leidens im Bereich der LWS sprächen auch der von Prof. Dr. M. , den der Kläger vor allem wegen seiner
BWS-Beschwerden aufgesucht habe, berichtete Umstand, dass seit Jahren Beschwerden von Seiten der HWS, BWS und LWS bestünden,
und die Befunde der Radiologen S. und W. sowie Dr. S. , die übereinstimmend zu dem Ergebnis
gekommen seien, dass die Beschwerden der HWS überwogen hätten. Weiter sei von Bedeutung, dass nach Dr. E. bereits im
April 1993 beim Kläger ein Morbus Scheuermann der BWS und LWS sowie ein Reizzustand im Iliosacralgelenk rechts mehr als links
diagnostiziert worden sei, dass im Abschlussbericht der Kurklinik M. nach der stationären Heilmaßnahme als
Hauptdiagnose ein degeneratives HWS-Syndrom bei Bandscheibenprolaps und Spinalkanalstenose gestellt und die Diagnose eines
degenerativen LWS-Syndroms bei Morbus Scheuermann an zweiter Stelle genannt werde, dass beim Kläger ein übergewichtiger Ernährungszustand
beschrieben worden sei und dass Dr. R. im Entlassungsbericht vom 1. März 1999 "diagnostisch einen knöchern engen
Spinalkanal in Höhe HWK 4/5 und 5/6 sowie einen thorakalen Bandscheibenvorfall in Höhe von BK 6/7" beschreibe und dabei betone,
"dass die starke Eindämmung des Rückenmarks in Höhe HWK 5/6 das größte Gewicht habe. Zu berücksichtigen sei außerdem, dass
der Kläger aus der Heilmaßnahme in Bad W. am 16. April 1996 als weiterhin für seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit
vollschichtig leistungsfähig entlassen worden sei. Die Gesamtwürdigung der Ermittlungsergebnisse führe zu dem Ergebnis, dass
das Wirbelsäulenleiden des Klägers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit außerberuflich verursacht sei. Der Senat habe deshalb
keine Bedenken, sich der Beurteilung durch den Landesgewerbearzt anzuschließen, dass insgesamt weder die haftungsbegründende
noch die haftungsausfüllende Kausalität für eine BK der Bandscheiben spreche. Bei diesem Sachverhalt komme auch eine BK Nr
2109 nicht in Betracht.
Mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §
9 Abs
1 und
3 SGB VII iVm Nr
2108 und Nr 2109 der Anlage zur
BKV sowie von §§
103,
128 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG). Da sowohl bei der Anwendung der Normenkette im Rahmen der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) als auch des §
9 Abs
1 SGB VII für den Ursachenzusammenhang als Beweismaßstab die hinreichende Wahrscheinlichkeit genüge, sei die Forderung des Vollbeweises
für den doppelten ursächlichen Zusammenhang durch das LSG nicht nachvollziehbar. Es verkenne, dass der Gesetzgeber mit §
9 Abs
3 SGB VII einen ursächlichen Zusammenhang als gegeben vermute, wenn die dort genannten Versicherten erkrankten und Anhaltspunkte für
eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden könnten.
Mit der Ablehnung der Anwendung von §
9 Abs
3 SGB VII, weil die "schädigende Einwirkung" mit sieben Jahren und vier Monaten um ein Viertel unter dem Zehnjahreszeitraum geblieben
sei, habe das LSG einen Erfahrungssatz angewandt, den es so nicht gebe. Da nach der Rechtsprechung des BSG das Merkblatt keine
rechtliche Verbindlichkeit beanspruche und auch nicht den neuesten wissenschaftlichen Forschungsstand wiedergebe, habe das
LSG den dort geforderten Zehnjahreszeitraum nicht als verbindlichen Erfahrungssatz anwenden dürfen. Damit habe es zugleich
gegen die Grenzen der freien Beweiswürdigung verstoßen (§
128 Abs
1 Satz 1
SGG). Hätte das LSG §
9 Abs
3 SGB VII angewandt, hätte es nach seiner eigenen Auffassung dem Begehren des Klägers stattgeben müssen, weil die übrigen Voraussetzungen
(bandscheibenbedingte Erkrankung, Tätigkeitsaufgabe) gegeben seien.
Des Weiteren werde als Verfahrensfehler eine Verletzung des §
103 SGG gerügt, weil das LSG seinem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrag, "ein Sachverständigengutachten
über seinen Gesundheitszustand einzuholen", ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. Das Gericht hätte sich indes auch
auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung, in jedem Einzelfall sei eine konkrete individuelle Kausalitätsbeurteilung vorzunehmen,
gedrängt sehen müssen, ein Zusammenhangsgutachten einzuholen, weil nur so hätte festgestellt werden können, inwieweit die
bei ihm an den sonstigen Wirbelsäulenabschnitten anzutreffenden Veränderungen und Erkrankungen den Schluss zuließen, dass
auch die Bandscheibenerkrankung der LWS außerberuflich verursacht sei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass das LSG aufgrund
des Ergebnisses dieses Gutachtens zu dem Schluss gekommen wäre, dass die schädigende Tätigkeit wesentlich teilursächlich für
den festgestellten Bandscheibenschaden der LWS sei.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Hessischen LSG und des Gerichtsbescheides des SG Frankfurt am Main vom 16. November
2000 sowie des Bescheides vom 15. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1999 zu verurteilen, sein
Wirbelsäulenleiden als BK nach den Nrn 2108 und 2109 anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist, soweit es den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Anerkennung
und Entschädigung einer Erkrankung der Wirbelsäule als BK Nr 2108 betrifft. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für
die abschließende Entscheidung über dieses Begehren nicht aus.
Die Klage ist unzulässig und musste abgewiesen werden, soweit der Kläger die Anerkennung und Entschädigung seiner Wirbelsäulenerkrankung
als BK Nr 2109 geltend macht. Denn die Beklagte hat über diesen erstmals im Berufungsverfahren erhobenen Anspruch bisher nicht
durch Verwaltungsakt entschieden. Mit einer reinen Leistungsklage nach §
54 Abs
5 SGG konnte das Klageziel nicht erreicht werden, weil die Entscheidung darüber, ob ein vom Versicherten geltend gemachter Gesundheitsschaden
den Tatbestand einer bestimmten in der Anlage zur
BKV aufgeführten BK erfüllt, durch (feststellenden) Verwaltungsakt zu treffen ist. Richtige Klageart war damit die kombinierte
Anfechtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs
4 SGG. Deren Erhebung setzt jedoch die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens voraus.
In dem angefochtenen Bescheid vom 15. März 1999 hat sich die Beklagte allein mit dem Antrag auf Anerkennung des Wirbelsäulenleidens
als BK nach Nr 2108 der Anlage zur
BKV befasst und diesen abgelehnt. Zur BK Nr 2109 finden sich keine Ausführungen. Die Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen
einer BK bezieht sich stets auf eine bestimmte, genau definierte Krankheit, die der Verordnungsgeber aufgrund der Ermächtigung
in §
9 Abs
1 SGB VII als BK bezeichnet und in der Anlage zur
BKV unter einer eigenen Ordnungsnummer aufgelistet hat oder die nach §
9 Abs
2 SGB VII im Einzelfall wie eine BK zu behandeln ist. Sie beinhaltet nicht gleichzeitig die Anerkennung oder Ablehnung anderer Listenkrankheiten,
die bei dem Krankheitsbild des Versicherten möglicherweise ebenfalls in Betracht kommen könnten. Diese Beschränkung folgt
schon daraus, dass für jede der in Frage kommenden Krankheiten eigene Voraussetzungen gelten und es gerade der Zweck des Verwaltungsverfahrens
ist, das Vorliegen dieser Voraussetzungen bezogen auf das jeweilige Krankheitsbild zu prüfen.
Ein gesonderter Verwaltungsakt bezüglich der BK Nr 2109 war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Anerkennung der Wirbelsäulenerkrankung
als BK letztlich nur die Grundlage für Entschädigungsansprüche gegen den Unfallversicherungsträger bilden soll. Abgesehen
davon, dass der Klageantrag im konkreten Fall ausdrücklich auf die Anerkennung als BK gerichtet war, geht es generell bei
der Feststellung, ob eine gesundheitliche Beeinträchtigung den Tatbestand einer BK erfüllt, nicht bloß um eine Vorfrage für
die Gewährung oder Ablehnung von Leistungen, sondern um eine eigenständige Entscheidung über den Eintritt des Versicherungsfalls.
Über das Vorliegen einer BK ist deshalb regelmäßig durch feststellenden Verwaltungsakt zu befinden, unabhängig davon, ob dies
isoliert schon vor Eintritt des Leistungsfalls (vgl BSG SozR 2200 § 551 Nr 35) oder erst zusammen mit der Entscheidung über
den Antrag auf Gewährung bestimmter Sach- oder Geldleistungen geschieht. Zwar kann der Antrag auf Anerkennung einer Krankheit
als BK vor Gericht nicht nur mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage, sondern auch mit der Feststellungsklage
nach §
55 Abs
1 Nr
1 SGG verfolgt werden, sofern der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung geltend machen kann (BSG SozR
2200 § 551 Nr 35 S 67 f mwN; ähnlich für die Klage auf Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung: BSGE 68, 128, 129 f = SozR 3-3200 § 81 Nr 1 S 3; BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 16 S 72 f). Auch diese Möglichkeit setzt aber eine vorherige
Ablehnung des Feststellungsbegehrens durch den Unfallversicherungsträger voraus.
Da ein Verwaltungsakt über die Anerkennung des in Rede stehenden Gesundheitsschadens als BK nach Nr 2109 der Anlage zur
BKV bisher nicht ergangen ist, fehlt eine zwingende Prozessvoraussetzung für eine darauf gerichtete Leistungs- oder Feststellungsklage.
Der Mangel konnte auch nicht dadurch geheilt werden, dass die Beklagte der Einbeziehung in das Berufungsverfahren nicht widersprochen
hat und die Klageänderung als solche deshalb möglicherweise gemäß §
99 Abs
1 SGG infolge Einwilligung zulässig war (BSGE 49, 143, 146 = SozR 5090 §
6 Nr 4 S 6).
Bezüglich der BK Nr 2108 der Anlage zur
BKV ist die Klage zulässig. Ob sie begründet ist, vermag der Senat beim gegenwärtigen Verfahrensstand mangels ausreichender tatsächlicher
Feststellungen nicht zu entscheiden.
In Abhängigkeit vom Ergebnis der noch zu treffenden Tatsachenfeststellungen - insofern insbesondere vom Zeitpunkt einer möglichen
Aufgabe aller belastenden Tätigkeiten (dazu BSG SozR 2200 § 551 Nr 35; BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2) - kommt als Rechtsgrundlage
für das Vorliegen der umstrittenen BK entweder der bis zum 31. Dezember 1996 geltende § 551
RVO oder für die Zeit danach der ihn aufgrund des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 7. August 1996 (BGBl I 1254) ablösende
§
9 SGB VII in Betracht, wobei sich die beiden Vorschriften aber hinsichtlich der hier relevanten Regelungsinhalte zunächst nicht unterscheiden.
Denn die BK Nr 2108 ist durch Art 1 Nr 4 der Zweiten VO zur Änderung der BKVO (2. ÄndVO) vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) eingeführt und mit derselben Umschreibung in die Anlage der bis heute geltenden
BKV übernommen worden.
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK Nr 2108 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten
muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegen, die durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder
durch langjährige Arbeit in extremer Rumpfbeugehaltung entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller
gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und der Versicherte darf eine solche Tätigkeit tatsächlich nicht mehr ausüben.
Für das Vorliegen des Tatbestandes der BK ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden
Einwirkung und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte
Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß iS des "Vollbeweises",
also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während - was im Urteil des LSG nicht klar zum
Ausdruck kommt - für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im
Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit
- nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2 mwN).
Soweit das Gesetz speziell für die Kausalitätsbeurteilung bei Berufskrankheiten in §
9 Abs
3 SGB VII unter bestimmten Voraussetzungen eine widerlegbare Vermutung für einen Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit
und dem Auftreten einer BK begründet, bezieht sich auch diese Beweiserleichterung allein auf den Kausalverlauf. Die tatsächlichen
Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung müssen in vollem Umfang bewiesen sein (vgl Ricke in: Kasseler Kommentar zum
Sozialversicherungsrecht, Stand: 2004, §
9 SGB VII RdNr 28; Kater/Leube,
SGB VII, 1997, §
9 RdNr 15).
Ausdrückliche Feststellungen hinsichtlich des Vorliegens einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS bei dem Kläger hat
das LSG weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen seines Urteils getroffen. Aus dem Satz "Unstreitig ist nur, dass
der Kläger neben Schädigungen der LWS auch solche vor allem der HWS, jedoch auch der BWS aufweist", ist weder eine verbindliche
Tatsachenfeststellung noch ein Hinweis auf eine bestimmte Gesundheitsstörung im Bereich der LWS und deren Bandscheibenbedingtheit
zu entnehmen. Dies liegt auch nicht auf der Hand, weil in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zwar später verschiedene
zu verschiedenen Zeitpunkten erhobene Diagnosen erörtert werden, nicht aber dargelegt wird, welche Erkrankung davon bandscheibenbedingt
(s dazu Rompe/Thürauf, MedSach 1998, 116, 117) und im maßgeblichen Zeitpunkt gegeben war.
Das Berufungsgericht ist offenbar davon ausgegangen, dass die in Nr 2108 geforderte langjährige wirbelsäulenbelastende Tätigkeit
nicht vorliegt. Allerdings ist den diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen nicht hinreichend genau zu entnehmen,
aufgrund welcher Auslegung der hierfür maßgeblichen unbestimmten Rechtsbegriffe "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten"
bzw "langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" und welcher genauen Tatsachenfeststellungen es zu diesem Ergebnis
gelangt ist. Aus der mitgeteilten Überlegung, wenn die Beklagte hinsichtlich der Frage der langjährigen Belastung zu einem
maximal berücksichtigungsfähigen Zeitraum von sieben Jahren und neun Monaten komme, umfasse diese Berechnung auch - im einzelnen
aufgeführte - Zeiten, in welchen der Kläger als Gutachter bei der GTZ nicht nachweislich wirbelsäulenbelastend tätig gewesen
sei, wodurch der Zehnjahreszeitraum insgesamt um rund ein Viertel unterschritten werde, könnte zu schließen sein, dass das
LSG sich insoweit den Auffassungen und Feststellungen des TAD angeschlossen hat, der sich wiederum eng an den Vorgaben des
Merkblattes orientiert hat. Dass hier laut LSG eine "deutliche Unterschreitung des Kriteriums der Langjährigkeit" gegeben
sein soll, kann nur so verstanden werden, dass das LSG damit das Tatbestandsmerkmal der langjährigen Belastung als nicht erfüllt
angesehen hat, denn die Feststellung einer Unterschreitung dieses nach eigener Auffassung des Gerichts offenbar zwingend vorausgesetzten
Mindestwertes (Zehnjahreszeitraum) kann nur die Feststellung des Nichtvorliegens einer davon abhängigen Voraussetzung bedeuten.
Wie der Kläger zutreffend rügt, hat das LSG auf diese Weise jedenfalls mittelbar (zumindest) einen so nicht existierenden
Erfahrungssatz angewandt und damit gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung verstoßen. Es hat durch diese Argumentation zum
Ausdruck gebracht, dass Heben und Tragen in der vom TAD im Falle des Klägers angenommenen Art und Schwere nur dann generell
geeignet ist, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS herbeizuführen, wenn dies über einen Zeitraum von mindestens zehn
Jahren hinweg geschieht, und damit als "langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten" iS der BK Nr 2108 anzusehen ist. Das
Revisionsgericht darf indes kontrollieren, ob das Tatsachengericht bei der Ermittlung eines solchen Erfahrungssatzes gegen
Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (BSG
SozR 3-2200 § 539 Nr 19 mwN). Ein Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze liegt vor, wenn das Tatsachengericht einen bestehenden
Erfahrungssatz nicht berücksichtigt oder einen tatsächlich nicht existierenden Erfahrungssatz angewendet hat (BSG SozR 1500
§ 103 Nr 25 mwN und SozR 3-2200 § 551 Nr 16).
Mit seiner oben dargestellten Auffassung hat das LSG seiner Entscheidung einen tatsächlich nicht existierenden medizinischen
Erfahrungssatz zugrunde gelegt. Der TAD und ihm offenbar folgend das LSG gewinnen die genannte Erkenntnis allein aus dem Merkblatt.
Der Senat hat bereits mehrfach darauf hingewiesen (s BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1, beide RdNr 13 mwN), dass dieses Merkblatt in erster Linie als Hilfsmittel für die ärztliche Untersuchung
gedacht ist und weder eine rechtliche Verbindlichkeit beansprucht noch zwingend den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen
Forschungsstand wiedergibt. Es ist offensichtlich, dass Letzteres jedenfalls hinsichtlich der hier umstrittenen Problematik
bei dem Merkblatt nicht der Fall ist. Zwar enthält es wichtige Erkenntnisse, die für den Verordnungsgeber bei der Aufnahme
der BK Nr 2108 in die Liste der BKen maßgebend waren und an die auch das vom Senat ausdrücklich als zur Prüfung der "arbeitstechnischen
Voraussetzungen" besonders bedeutsam bewertete "Mainz-Dortmunder-Dosismodell" (MDD) anknüpft. Gerade hier wird aber deutlich,
dass das Merkblatt insoweit nicht (mehr) dem neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Forschungsstand entspricht. Das MDD ist
nicht bei den Erkenntnissen des Merkblattes stehen geblieben und hat diese nicht lediglich standardisiert. Es hat vielmehr
neue, nach dem Erlass der 2. ÄndVO gewonnene Forschungsergebnisse, etwa das Prinzip des quadratischen Ansatzes, berücksichtigt
und daraus entscheidende Schlussfolgerungen, nämlich die Aufstellung von Orientierungswerten gezogen; die hier besonders strittige
Langjährigkeit setzt es - basiert auf Erkenntnisse aus epidemiologischen Studien - mit mindestens sieben Jahren an (BSG aaO
RdNr 13). Es liegt daher auf der Hand, dass die vom LSG zugrunde gelegte Vorgabe des Merkblattes jedenfalls nicht mehr aktuell
ist und so nicht als allgemeiner medizinischer Erfahrungssatz zugrunde gelegt werden kann. Wie sich aus der Korrespondenz
im Berufungsverfahren ergibt, hatte die Beklagte dies offenbar auch erkannt und dem Gericht eine neue Begutachtung auf der
Grundlage des MDD angeboten, wozu nach ihren Angaben indes noch weitere Daten zu ermitteln gewesen wären.
Das LSG hat seine abweisende Entscheidung weiter auf das Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung
und den bei dem Kläger bestehenden Gesundheitsschäden gestützt. Dies führt allerdings nicht dazu, dass schon aus diesem Grunde
ohne Zurückverweisung der Sache zur Nachholung der nach den obigen Ausführungen erforderlichen tatsächlichen Feststellungen
abschließend entschieden werden könnte. Denn der Kläger hat in diesem Rahmen zutreffend als Verfahrensmangel einen Verstoß
des LSG gegen die Amtsermittlungspflicht gemäß §
103 SGG gerügt. Angesichts der vielfältigen medizinischen Befunde und auch Bewertungen, die hier als Beweismittel zu würdigen waren,
hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, ein medizinisch-wissenschaftliches Gutachten darüber einzuholen, inwieweit die
sich daraus ergebenden medizinischen Erkenntnisse hinsichtlich der Erkrankung der Wirbelsäule des Klägers für oder gegen deren
berufliche Bedingtheit sprechen. Denn hierzu war medizinischer Sachverstand unerlässlich. Da weder im Verwaltungs- noch im
erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren ein entsprechendes Gutachten eingeholt worden und nicht ersichtlich ist, woher
das LSG sonst die notwendige Sachkunde erhalten haben sollte, war ein medizinisches Zusammenhangsgutachten, wie es der Kläger
mehrfach gefordert hat, zwingend erforderlich. Die Stellungnahme des Landesgewerbearztes vom 27. Januar 1999, der sich das
LSG nach seinen Ausführungen angeschlossen hat, war hierzu ungeeignet, weil sie lediglich das Ergebnis nicht erwähnter Erwägungen
mitteilt, also keine medizinische Sachkunde vermitteln kann, im Übrigen auch in Unkenntnis der "ergänzenden Stellungnahme"
des TAD vom 21. Juni 1999, in der über Art und Umfang der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit des Klägers überhaupt erst detailliert
berichtet wird, abgegeben wurde und damit überholt ist.
Nach alledem ist dem Senat bei dem derzeitigen Stand des Verfahrens eine abschließende Entscheidung über den vom Kläger in
zulässiger Weise geltend gemachten Anspruch nicht möglich, sodass das angefochtene Urteil insgesamt aufzuheben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß §
170 Abs
2 Satz 2
SGG an das LSG zurückzuverweisen ist, um die noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen nachzuholen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.