Anspruch auf Arbeitslosengeld
Ruhen beim Bezug einer laufenden Rente wegen voller Erwerbsminderung
Tatbestandswirkung der Rentenbewilligung der Deutschen Rentenversicherung
Gründe
Die nach §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft (§
172 Abs.
1, Abs.
3 Nr.
1 SGG) und auch sonst zulässig, in der Sache aber nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
Nach §
86 b Abs.
1 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag
1.
in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder
teilweise anordnen,
2.
in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz
oder teilweise anordnen,
3.
in den Fällen des § 86 a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen.
Soweit ein Fall des Abs. 1 der Vorschrift nicht vorliegt, kann das Gericht der Hauptsache nach §
86 b Abs.
2 Satz 1
SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte. Abs. 2 Satz 2 der Vorschrift sieht vor, dass einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig sind, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint.
Vorliegend kommt nur der Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in Betracht. Denn der Beschwerdeführer (Bf.) macht die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) geltend, nachdem die Beschwerdegegnerin
(Bg.) seinen Antrag auf Alg vom 01.12.2020 mit Bescheid vom 27.01.2021 wegen des laufenden Bezugs einer Rente wegen voller
Erwerbsminderung mit dem Hinweis auf die Vorschrift des §
156 SGB III abgelehnt hat.
Eine Regelungsanordnung nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG setzt einen Anordnungsanspruch (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs)
und einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) voraus.
Der Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn bei der im Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache
überwiegend wahrscheinlich ist, wobei auch wegen der mit der einstweiligen Regelung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache
ein strenger Maßstab anzulegen ist (Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 310 § 123 Nr. 15). Denn grundsätzlich soll wegen des
vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden.
Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz -
GG -), ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare,
später nicht wieder gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache
nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 , 74 m.w.N.).
Ein Anordnungsgrund liegt nur dann vor, wenn eine einstweilige Anordnung im Sinne von §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG zur Abwendung - insbesondere grundrechtsrelevanter - wesentlicher Nachteile als nötig erscheint.
Ausgehend von diesen Grundsätzen sind weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden. Ein
Anordnungsanspruch liegt nicht vor, weil der Gewährung von Alg die Vorschrift des §
156 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 SGB III entgegensteht. Danach ruht der Anspruch auf Alg während der Zeit, für die ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung
aus der gesetzlichen Rentenversicherung zuerkannt ist; diese Regelung wird durch Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 dahingehend modifiziert,
dass das Ruhen bei zuerkannter Rente wegen voller Erwerbsminderung erst vom Beginn der laufenden Zahlung der Rente an eintritt.
Der Bf. bezieht, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, aufgrund des Bescheides der Deutschen Rentenversicherung (DRV)
vom 20.05.2020 (Bl. 70 der Verwaltungsakte) eine laufende Rente wegen voller Erwerbsminderung, welche bis zum 31.05.2023 bewilligt
worden ist. Dass dies ohne weitere Voraussetzungen zum Ruhen des Anspruchs auf Alg führt, hat der erkennende Senat bereits
mehrfach entschieden (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 2017 - L 8 AL 3033/15 -, juris; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Juni 2017 - L 8 AL 242/16 -, Rn. 40, juris). Entsprechendes hat das Bundessozialgericht (BSG) auch zur Vorgängervorschrift des §
142 SGB III a.F. entschieden (BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 - B 13 R 9/12 R -, SozR 4-1300 § 104 Nr 5, Rn. 28).
Die Vorschrift regelt das Verhältnis der Versicherungsleistung Alg zu anderen Sozialleistungen mit Lohnersatzcharakter. Das
Ruhen des Arbeitslosengeldes bei gleichzeitigem Bezug von anderen Sozialleistungen dient der Vermeidung von sozialpolitisch
unerwünschten Doppelleistungen. Es ist ein legitimes Interesse des Gesetzgebers, die doppelte Sicherung des Lebensunterhalts
durch öffentlich-rechtliche Leistungsträger auszuschließen (BSG 11. 2. 1976 - 7 RAr 158/74 -, SozR 4100 § 118 Nr. 2; BSG 23. 9. 1980 - 7 RAr 66/79 -, SozR 4100 §
118 Nr. 9; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB, 10/20, §
156 SGB III, Rn. 9).
Sofern der Bf. sich auf seine abweichende Auslegung von fachlichen Weisungen der Bg. bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass
die fachlichen Weisungen nichts daran zu ändern vermögen, dass §
156 Abs.
1 Nr.
3 SGB III eindeutig auf alle Renten wegen voller Erwerbsminderung - unabhängig von der Begründung der vollen Erwerbsminderung - abstellt.
Da die Bg. durch interne Weisungen und Arbeitshilfen gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen nicht ändern kann, bedarf es keiner
Auseinandersetzung des Senats mit diesen norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften (Landessozialgericht Baden-Württemberg,
Urteil vom 12. November 2019 - L 13 AL 142/19 - Rn. 23, juris).
Dass die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung der Gewährung von Alg entgegensteht, ergibt sich auch aus §
145 Abs.
1 SGB III. Nach dessen Satz 1 hat Anspruch auf Alg auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer
mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende
Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung
der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung
nicht festgestellt worden ist. Die Feststellung, ob eine verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt, trifft der zuständige Träger
der gesetzlichen Rentenversicherung. Vorliegend ist mit bestandskräftigem Bescheid der DRV vom 20.05.2020, welcher der Gewährung
der vollen Erwerbsminderungsrente zugrunde liegt, die volle Erwerbsminderung des Bf. festgestellt worden.
Diese Feststellung der DRV hat, worauf bereits das SG zutreffend hingewiesen hat, für die Bg. Tatbestandswirkung und ist somit für diese ohne Weiteres bindend. Die Bg. ist im
Rahmen der Anwendung des §
156 SGB III nicht berechtigt, die Verwaltungsentscheidung des anderen Versicherungsträgers über die Bewilligung der Leistung auf ihre
materielle Richtigkeit zu überprüfen; vielmehr kommt der Entscheidung des anderen Leistungsträgers Tatbestandswirkung zu (BSG, Urteil vom 03. Mai 2005 - B 7a/7 AL 40/04 R -, SozR 4-4300 § 194 Nr 8, Rn. 14, mit Hinweis auf BSGE 70, 51, 54 = SozR 3-4100 § 118 Nr 3).
Auch ein Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht worden. Der Bf. hat nichts hinreichend Konkretes zu seinen Einkommens-
und Vermögensverhältnissen vorgetragen. Es kann daher über die bloße Behauptung des Bf. hinaus nicht erkannt werden, inwiefern
der Bf. aktuell auf die Gewährung von Alg angewiesen ist. Der Vortrag des Bf. erschöpft sich insoweit darin, dass ihm durch
die Verweigerung der Beklagten erhebliche wirtschaftliche, persönliche und familiäre Nachteile entstünden, was von ihm lediglich
insoweit näher ausgeführt wird, als dass sich drei Kinder in der Ausbildung befänden. Diese Angaben sind jedoch zu allgemein,
um einen Eilbedarf aufgrund eines finanziellen Bedarfs bejahen zu können, da keinerlei Angaben zu eventuellem Vermögen, zu
eventuellen Einkünften eines Partners bzw. der Mutter der Kinder und auch keine Angaben zu einer eventuellen staatlichen Ausbildungsförderung
vorliegen.
Es ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, dass der vom Bf. gewünschte Bezug von Alg statt der gewährten Erwerbsminderungsrente
(die vom Bf. vorgelegten Bescheide der DRV sind bezüglich der Höhe der gewährten Rentenleistungen unlesbar) die wirtschaftliche
Situation des Bf. signifikant verbessern würde, da bereits nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Alg niedriger ausfallen
würde als die Rente.
Sofern der Bf. mit seiner Beschwerde geltend macht, dass ihm durch die Ablehnung von Alg derzeit auch Vermittlungsleistungen
der Bg. versperrt seien, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Bf. mit seinem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim
Sozialgericht Reutlingen vom 03.04.2021 die Gewährung von Alg und nicht die Gewährung von Vermittlungsleistungen geltend gemacht
hat. Die Gewährung von Vermittlungsleistungen (vgl. den in den §§
35 ff.
SGB III gesondert geregelten Vermittlungsanspruch) hat der Bf. vor dem Sozialgericht weder geltend gemacht, noch hat das Sozialgericht
hierüber in dem angegriffenen Beschluss entschieden. Die Gewährung von Vermittlungsleistungen ist daher vorliegend im Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes nicht streitgegenständlich. Zwar würde sich bei einem Anspruch auf Alg auch ein Anspruch
auf Vermittlung ergeben, doch handelt es sich insoweit lediglich um eine Folge eines Anspruchs, der vorliegend gerade nicht
besteht.
Nach §
35 Abs.
1 Satz 1
SGB III hat die Agentur für Arbeit Ausbildungssuchenden, Arbeitsuchenden und Arbeitgebern Ausbildungsvermittlung und Arbeitsvermittlung
(Vermittlung) anzubieten. Für einen Anspruch auf Vermittlungsleistungen nach dieser Vorschrift ist weder ein Anordnungsgrund
noch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden. Da der Bf. eine volle Erwerbsminderungsrente bezieht, welche er durch
eine Vermittlung in Arbeit gefährden würde, würde sich seine wirtschaftliche Situation hierdurch nicht zwangsläufig verbessern.
Zu seiner konkreten wirtschaftlichen Situation hat der Bf. zudem nicht substantiiert vorgetragen (siehe oben), weswegen Zweifel
an einem Anordnungsgrund bestehen.
Ein Anordnungsanspruch hinsichtlich Vermittlungsleistungen ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht worden. Weil voll erwerbsgeminderte
Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des
allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten (§
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI), liegt in diesen Fällen regelmäßig keine Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt vor (Valgolio a.a.O. Rn. 41 f.), weswegen insoweit
auch die Versagung von Vermittlungstätigkeiten nicht beanstandet werden kann.
Schließlich hat die Bg. auch bestritten, dass Vermittlungstätigkeiten verweigert werden, worauf es nach den voranstehenden
Ausführungen indes im Ergebnis nicht mehr ankommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.