Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der
Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) vorliegt und ihr deswegen eine Verletztenrente zusteht.
Die 1947 geborene Klägerin war von Juli 1989 bis August 1998 bei der Firma M. & B. GmbH und Co. in M. als Stanzerin/Maschinenbedienerin
tätig. Am 10.08.1998 erlitt sie einen Arbeitsunfall. Anschließend war sie arbeitsunfähig und bezieht nach ihren Angaben seit
2001 Rente wegen Erwerbsminderung.
Wegen des am 10.08.1998 erlittenen Arbeitsunfalls lehnte die S. Metall-Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Rente ab.
Die daraufhin von der Klägerin beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobene Klage (S 10 U 1483/99), mit der sie als Folgen des Arbeitsunfalles u.a. einen Tinnitus geltend machte, blieb nach Ermittlungen des SG (Einholung sachverständiger Zeugenaussagen behandelnder Ärzte und Gutachten von Dr. H. vom 16.09.2000) mit Urteil vom 28.03.2001
ohne Erfolg. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Klägerin wurde mit Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
(LSG) vom 13.09.2001 (L 10 U 2076/01) - wegen Fristversäumnis - als unzulässig verworfen.
Ein Antrag der Klägerin vom 23.03.2001 auf Anerkennung einer Berufskrankheit wurde nach Durchführung arbeitstechnischer und
medizinischer Ermittlungen von der Beklagten abgelehnt (Bescheid vom 10.10.2001 und Widerspruchsbescheid vom 30.01.2002).
Am 06.10.2004 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 10.10.2001 und legte ein im Rentenrechtsstreit (S
10 RJ 2815/02) vom SG eingeholtes psychiatrisches Gutachten von Dr. V. vom 24.05.2004 vor. Dieser Überprüfungsantrag wurde vom Beklagten abgelehnt.
Die hiergegen gerichtete Klage der Klägerin (S 3 U 749/05) blieb nach Aufklärung des medizinischen Sachverhalts durch das SG (insbesondere ein auf Antrag der Klägerin gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingeholtes Gutachten des HNO-Arztes Dr. B. vom 05.09.2007) mit Urteil vom 25.04.2008 ohne Erfolg. Das SG führte in seinem Urteil aus, die Klage auf Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit mit Tinnitus als Berufskrankheit sei unzulässig,
weil die Beklagte hierzu weder ein Feststellungsverfahren durchgeführt noch eine gerichtlich überprüfbare Entscheidung getroffen
habe. Im Übrigen wurde die Klage der Klägerin als unbegründet abgewiesen. Die gegen das Urteil vom 25.04.2008 eingelegte Berufung
der Klägerin (L 2 U 2551/08) ist beendet.
Am 10.06.2008 beantragte die Klägerin die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit und die Gewährung von Rente nach einer Minderung
der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. Die Beklagte leitete ein Feststellungsverfahren ein. Sie zog medizinische Befundunterlagen,
das Vorerkrankungsverzeichnis, die Gutachten von Dr. V. vom 24.05.2004 und 04.01.2007, das in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren
an das Arbeitsgericht R. (2 Ca 327/00) erstattete Gutachten von Prof. Dr. S., Universitätsklinikum T., vom 25.05.2001 sowie das Gutachten von Dr. B. vom 05.09.2007,
der einen Tinnitus aurium ohne typische Lärmschädigung diagnostizierte und eine lärmbedingte Entstehung des Tinnitus nicht
mit letzter Sicherheit ausschloss, da eine Lärmanalyse des Arbeitsplatzes nicht vorliege und die MdE mit 20 v.H. einschätzte,
bei.
Mit Bescheid vom 27.06.2008 lehnte die Beklagte eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der
BKV ab und teilte außerdem mit, dass Ansprüche auf Leistungen nicht bestünden.
Hiergegen legte die Klägerin am 24.07.2008 Widerspruch ein. Sie berief sich auf das Gutachten des Dr. B. vom 05.09.2007. Die
Ansicht, der Tinnitus sei alleine nicht als Folge einer beruflichen Lärmbelastung anzusehen, widerspreche der Mitteilung des
Dr. B.. Eine Lärmanalyse sei erforderlich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2008 wurde der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 27.06.2008 zurückgewiesen.
Das medizinische Bild der Berufskrankheit Nr. 2301 der
BKV sei nicht bewiesen. Es liege eine Normalhörigkeit vor. Da keine Lärmschädigung vorliege, könne der Tinnitus keine Begleiterscheinung
einer Innenohrschwerhörigkeit sein. Isolierte Ohrgeräusche ohne lärmbedingten Gehörschaden seien ausgeschlossen. Eine Lärmmessung
sei somit entbehrlich. Maßnahmen und Leistungen im Rahmen des §
3 BKV seien nicht zu gewähren.
Hiergegen erhob die Klägerin am 12.12.2008 Klage beim SG. Sie machte zur Begründung geltend, die Beklagte setze sich in Widerspruch zu den Ausführungen des Dr. B.. Die Beklagte mache
es sich leicht. Auf das Gutachten des Dr. B. sei nichts von einer Lärmanalyse des Arbeitsplatzes zu entnehmen. Die Beklagte
habe auch nicht begründet, weshalb keine Lärmanalyse mit entsprechender Bewertung durchgeführt worden sei. Die Klägerin machte
Angaben zur Lärmsituation an ihrem Arbeitsplatz. Es könne nicht sein, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung im kausalen
Zusammenhang mit den am Arbeitsplatz herrschenden Lärm stehe und andererseits hieraus keine Entschädigungspflicht der Beklagten
resultiere.
Die Beklagte trat der Klage entgegen.
Das SG nahm Untersuchungsbögen "Lärm" II vom 04.12.1989, 12.11.1990, 02.11.1992, 25.03.1996 und 26.02.1998 zu den Gerichtsakten.
Mit Urteil vom 28.01.2010 wies das SG die Klage ab. Es führte zur Begründung aus, ob und in welchem Umfang die Klägerin während ihrer Tätigkeit gehörschädigendem
Lärm ausgesetzt gewesen sei, sei nicht vollständig aufgeklärt. Die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit scheitere jedoch
daran, dass bei der Klägerin keine Gesundheitsstörung nachgewiesen sei, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf berufliche
Lärmeinwirkung beruhe. Bei der Klägerin bestehe keine versicherungsrechtlich erhebliche Schwerhörigkeit. Es bestehe zwar eine
Senkung der Hörschwelle bei 4 kHz. Dieser Hörverlust sei jedoch als altersentsprechend zu werten. Damit liege keine Erkrankung
vor, die als Lärmschwerhörigkeit anerkannt werden könne. Der Tinnitus sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf berufliche
Einwirkungen zurückzuführen. Die Kriterien, die für die Anerkennung eines Tinnitus als Folge einer Lärmschwerhörigkeit erforderlich
seien, seien nicht erfüllt. Hinzu komme, dass die Lokalisation des Tinnitus (bei 1 kHz) nicht zu einer Lärmschwerhörigkeit
passe. Die abweichende Auffassung von Dr. B. in seinem Gutachten vom 05.09.2007 widerspreche den anerkannten Beurteilungskriterien
und könne nicht Grundlage für die begehrte Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2301 sein. Auch die Bewertung der MdE durch
Dr. B. dürfte einer Überprüfung nicht standhalten.
Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 12.02.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11.03.2010 Berufung
eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, sie sei nach wie vor der Meinung, dass der erhebliche Tinnitus aurium beidseits
im kausalen Zusammenhang mit der berufsbedingten Tätigkeit stehe und damit die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit und die
Gewährung einer Rente nach einer MdE um 20 v.H. rechtfertige. Vom Betriebsarzt bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber erstellte
Lärmanalysen, die bestätigten, dass der Tinnitus aurium beidseits im kausalen Zusammenhang mit ihrer berufsbedingten Tätigkeit
stehe, sei nicht nachgegangen worden. Bei ihr liege eine für eine Lärmschwerhörigkeit typische Senkung der Hörschwelle bei
4 kHz vor. Eine berufsbedingte kausale Gesundheitsstörung sei gegeben. Bei einer am 26.02.1998 erfolgten Untersuchung habe
das Audiogramm einen deutlichen Hörverlust, insbesondere des linken Ohres, bei den Diagnosen Trommelfellperforation sowie
ein Cholesteatom erbracht. Damit sei der Tinnitus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen.
Insoweit könne angenommen werden, dass der Tinnitus aurium ursächlich und im kausalen Zusammenhang mit ihrer berufsbedingten
Tätigkeit stehe. Die Klägerin hat sich auf das Gutachten des Dr. B. berufen. Der Betriebsarzt Dr. L. sei als Zeuge zu vernehmen
und entsprechende Lärmanalysen bezüglich ihres Arbeitsplatzes anzufordern. Die Klägerin hat Unterlagen vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Januar 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2008 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 19. November 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, bei ihr eine Berufskrankheit
nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung festzustellen und ihr eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach dem von Dr. B. erstellten Gutachten vom 05.09.2009 besteht bei der Klägerin
ein beidseitiger Hörverlust in Höhe von 0 % entsprechend einer Normalhörigkeit. Damit lägen die medizinischen Voraussetzungen
für eine Anerkennung als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der
BKV nicht vor. Unabhängig davon könne der bei der Klägerin bestehende Tinnitus nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der
beruflichen Tätigkeit gesehen werden, da dieser bei 1 kHz - eher im Tieftonbereich - und nicht im Hochtonbereich lokalisiert
sei. Der im Tonaudiogrammen vom 26.02.1989 ausgewiesene Hörverlust auf dem linken Ohr sei zwanglos durch die diagnostizierte
Trommelfellperforation zu erklären. Auf dem rechten Ohr sei von einer Normalhörigkeit auszugehen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die im vorliegenden Verfahren angefallenen
Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, die Akten des SG S 3 U 749/05 und des LSG L 10 U 2076/01 und L 2 U 2551/08 sowie ein Band Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§
151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und insgesamt zulässig. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 27.06.2008 (Widerspruchsbescheid vom 19.11.2008), mit dem
es die Beklagte abgelehnt hat, eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur
BKV anzuerkennen und der Klägerin Leistungen zu gewähren, ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines
Hörschädigung als Berufskrankheit und dementsprechend auch nicht auf Rente.
Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§
7 Abs.
1 SGB VII). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten
bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten
zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht sind, denen
bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt
sind. Aufgrund der Ermächtigung in §
9 Abs.
1 SGB VII hat die Bundesregierung die
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) vom 31.10.1997 (BGBl. I, S. 2623) erlassen, in der die derzeit als Berufskrankheiten anerkannten Krankheiten aufgeführt sind. Im Anhang zur
BKV ist die Erkrankung an einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr. 2301 enthalten.
Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen,
Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit
verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen"
und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweis, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen (vgl. BSG,
Urteil vom 02.04.2009 - B 2 U 9/08 R -, veröffentlicht in juris). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt
die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit. Abweichend von der früheren Verwendung des Begriffs
der haftungsbegründenden Kausalität folgt der Senat der überzeugenden neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 02.04.2009,
aaO.), dass auch im Berufskrankheiten-Recht der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den Einwirkungen
nicht als haftungsbegründende Kausalität bezeichnet werden kann. Durch diesen Zusammenhang wird keine Haftung begründet, weil
Einwirkungen durch die versicherte Tätigkeit angesichts ihrer zahlreichen möglichen Erscheinungsformen und ihres unterschiedlichen
Ausmaßes nicht zwangsläufig schädigend sind. Denn Arbeit - auch körperliche Arbeit - und die damit verbundenen Einwirkungen
machen nicht grundsätzlich krank. Erst die Verursachung einer Erkrankung oder ihre wesentliche Verschlimmerung durch die der
versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Einwirkungen - in nachgewiesener Dauer und Intensität - begründet eine "Haftung". Ebenso
wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall ist die haftungsausfüllende
Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den Berufskrankheitenfolgen, die dann gegebenenfalls zu bestimmten
Versicherungsansprüchen führen, bei der Berufskrankheit keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.
Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen
Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSGE 45, 286); eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen
Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (BSGE 60, 58 m.w.N.; vgl. auch Mehrtens/Brandenburg, Die
Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, E §
9 RdNr. 26.2). Ein Kausalzusammenhang ist insbesondere nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur
möglich ist. Lässt sich eine Tatsache nicht nachweisen oder ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies
nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten dessen,
der einen Anspruch aus der nicht erwiesenen Tatsache bzw. dem nicht wahrscheinlich gemachten Kausalzusammenhang für sich herleitet
(BSGE 19,52, 53; 30,121, 123; 43, 110, 112).
Nach diesen Regeln und Maßstäben liegt die bei der Klägerin eine Berufskrankheit nach Nr. 2301
BKV nicht vor.
Nach dem vom SG im Klageverfahren der Klägerin S 3 U 749/05 eingeholten Gutachten von Dr. B. vom 05.09.2007, auf das sich die Klägerin beruft, betrug der nach der Tabelle von Bönnighaus
und Röser am 19.07.2007 ermittelte prozentuale Hörverlust aus dem Sprachaudiogramm, auf das maßgeblich abzustellen ist, beiderseits
0 %. Ein typischer Lärmschaden bestand aufgrund der audiometrischen Untersuchung nicht. Auch Prof. Dr. S. ist in seinem vom
Beklagten beigezogenen Gutachten an das Arbeitsgericht R. vom 25.05.2001 hinsichtlich der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen
der Klägerin nach dem Grundsatz G 20 am 04.12.1989, 12.11.1990, 02.11.1992 und 25.03.1996 davon ausgegangen, dass bei der
Klägerin keine Überschreitung des altersentsprechenden Hörverlustgrenzwertes vorliegt. Dies gilt auch für die Ergebnisse der
am 26.02.1998 erfolgten Gehöruntersuchung. Eine Senke beidseits bei 4 kHz bewertet Prof. Dr. S. als altersentsprechend. Auch
der von Prof. Dr. S. durchgeführte Hörtest ergab keine Überschreitung der altersentsprechenden Hörverlustgrenzwerte. Zudem
lässt sich eine bei der Untersuchung am 26.02.1998 im Vergleich zu den Voruntersuchungen und zum rechten Ohr verminderte Hörfähigkeit
des linken Ohres mit der Diagnose einer Trommelfellperforation erklären, worauf die Beklagte überzeugend hingewiesen hat.
Damit steht fest, dass bei der Klägerin keine Schwerhörigkeit vorliegt, d.h. selbst dann, wenn die Klägerin - unterstellt
- gehörschädigendem Lärm am Arbeitsplatz ausgesetzt war, hat dieser Lärm keine Gehörschädigung hervorgerufen. Das Vorliegen
eines pathologisch herabgesetzten Hörvermögens hat die Klägerin im Übrigen auch nicht geltend gemacht.
Die Anerkennung des von der Klägerin zur Begründung ihres Begehrens geltend gemachten Tinnitus aurium beidseits als Berufskrankheit
scheidet aus. Als Berufskrankheiten kommen nur solche Krankheiten in Betracht, die nach den Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich
höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind und die vom Verordnungsgeber als Berufskrankheiten bezeichnet sind
(§
9 Abs.
1 Satz 2
SGB VII; § 551 Abs. 1 Satz 3
RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die
BKV mit den sogenannten Listenkrankheiten, das sind die in der Anlage 1 zur Verordnung aufgeführten Tatbestände, vor (Enumerationsprinzip).
Liegt eine Listenkrankheit nicht vor, scheidet die Anerkennung als Berufskrankheit aus. Auch die Anerkennung von Erkrankungen,
die noch nicht in der Anlage 1 erfasst sind (Quasi-Berufskrankheit oder Wie-Berufskrankheit), nach §
9 Abs.
2 SGB VII (früher § 551 Abs. 2
RVO) setzt voraus, dass die übrigen Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach Abs. 1 der Vorschrift vorliegen (Berufskrankheitenreife).
Mit dieser Regelung soll nicht in der Art einer "Generalklausel" erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher
Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder wahrscheinlich ist, stets wie eine Berufskrankheit zu
entschädigen ist (ständige Rspr. BSG, Urteile vom 20.07.2010 - B 2 U 19/09 R - und 04.06.2002 - B 2 U 16/01 R -, juris, SGb 2002, 496). Vielmehr sollen dadurch nur Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die im dargelegten Sinn nach dem aktuellen Erkenntnisstand
der medizinischen Wissenschaft jetzt "Berufskrankheitenreife" erlangt haben und alsbald in die abschließende Liste aufgenommen
werden (BSG Urteil vom 04.06.2002, aaO.). Entgegen der Ansicht der Klägerin besteht damit durchaus die Möglichkeit einer durch
Einwirkungen am Arbeitsplatz entstandenen Erkrankung, die nicht als Berufskrankheit anerkannt werden kann, da sie nicht von
der
BKV als Listenkrankheit erfasst ist.
Ein "isolierter" Tinnitus (wegen Lärm) wird nicht von einer Listenkrankheit der
BKV erfasst. "Isolierte" Ohrgeräusche ohne lärmbedingten Hörverlust, wie dies bei der Klägerin zutrifft, erfüllen nicht den Tatbestand
(Lärm-) Schwerhörigkeit der BK Nr. 2301. Ohrgeräusche (Tinnitus) kommen lediglich als Begleiterscheinung einer Lärmschwerhörigkeit
Bedeutung zu. Schwerhörigkeit und Ohrgeräusche sind zwei Symptome des lärmgeschädigten Innenohres. Ohrgeräusche sind deshalb
bei der MdE-Einschätzung im Rahmen der Gesamt-MdE (Hörverlust und Ohrgeräusche) integrierend zu bewerten (vgl. zum Vorstehenden
Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., Seite 351; Mehrtens/Brandenburg,
BKV, M 2301 Nr. 6.4). Die Erkrankung "Tinnitus" ist jedoch in der Anlage zur
BKV nicht als Berufskrankheit erfasst, so dass sie keine eigenständige Berufskrankheit darstellt, sondern nur im Rahmen der "Lärmschwerhörigkeit"
geprüft werden kann (ebenso als obiter dictum: LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 28.01.2009 - L 2 U 876/08 und 27.04.2006 - L 10 U 5135/04 -), weshalb die Ohrgeräusche selbst dann, wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird, dass sie an ihrem Arbeitsplatz gehörschädigendem
Lärm ausgesetzt war, nicht als Berufskrankheit anerkannt werden können. Diesen rechtlichen Vorgaben wird die Ansicht von Dr.
B., auf die die Klägerin ihr Begehren maßgeblich stützt, nicht gerecht, weshalb seiner Ansicht nicht zu folgen ist. Zudem
hat Dr. B. in seinem Gutachten vom 05.09.2007 einen lärmbedingten Zusammenhang lediglich nicht mit Sicherheit ausgeschlossen
und außerdem, wie in seiner Stellungnahme an die Beklagte vom 03.05.2001, eine vaskuläre Enzephalopathie als Ursache des Tinnitus
angesehen bzw. in Betracht gezogen, so dass seine Ansicht, bei Vorliegen einer entsprechenden Lärmanalyse könne der Tinnitus
als lärmbedingt eingestuft werden, auch deshalb nicht überzeugt. Auch Dr. V. hat in seinem Gutachten vom 04.01.2007 an das
SG im Verfahren S 3 U 749/05 durch langjährigen Bluthochdruck hervorgerufene Gefäßveränderungen und in der Folge Durchblutungsstörungen als mögliche Ursache
des Tinnitus angesehen. Gegen einen lärmbedingten Tinnitus spricht auch die Lokalisierung des Tinnitus bei 1 kHz, wie das
SG im angefochtenen Urteil (Seite 7 Abs. 2) zutreffend ausgeführt hat, dem sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt (vgl.
auch Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, Seite 350).
Das Vorliegen einer "Wie-Berufskrankheit" (§
9 Abs.
2 SGB VII) ist nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites, da die Beklagte hierüber keine Verwaltungsentscheidung getroffen hat.
Im Übrigen erachtet der Senat das Vorliegen einer "Wie-Berufskrankheit" (wegen des Tinnitus) auch als sehr unwahrscheinlich.
Den (schriftsätzlichen) Beweisanträgen der Klägerin zur Klärung der Lärmbelastung am Arbeitsplatz war nicht nachzugehen, da
nach dem oben Ausgeführten selbst dann, wenn die Klägerin einer zu einer Hörschädigung geeigneten Lärmbelastung am Arbeitsplatz
ausgesetzt gewesen ist, die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der
BKV ausscheidet.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor.