Änderung, Aufhebung oder Ersetzung von vorläufigen Feststellungen eines Rentenanspruchs in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe einer zu gewährenden Verletztenrente wegen eines von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalles
streitig.
Der 1971 geborene Kläger war als Zimmererhelfer bei der Firma W., Bad F., beschäftigt. Er befand sich mit seinem PKW auf dem
Weg von der Arbeit nach Hause, als es am 09.12.2003 gegen 20.00 Uhr zu einem Frontalzusammenstoß mit einem anderen PKW gekommen
war. Nach dem Durchgangsarztbericht von Prof. Dr. S., S.-Kliniken H. GmbH, zog sich der Kläger hierbei eine Subarachnoidalblutung
rechts hochparietal, eine basale Lungenkontusion beidseits, eine Acetabulumfraktur rechts, multiple Schnittwunden im Gesicht,
multiple Bisswunden an der Zunge, einen Ausbruch des Schneidezahnes am Unterkiefer, eine Risswunde am rechten Knie mit Kniegelenkseröffnung
sowie multiple Schnittwunden an der rechten Hand zu. Zusätzlich waren im Entlassungsbericht der S.-Kliniken H. vom 08.03.2004
nach einem stationären Aufenthalt bis 15.01.2004 eine Ruptur des hinteren Kreuzbandes und der dorsalen Kapsel im rechten Knie
beschrieben worden. In diesem Bericht wurde auch über eine pulmonale Insuffizienz, ein allergisches Hautexanthem und ein Durchgangssyndrom
berichtet.
Der Akutbehandlung schloss sich eine stationäre Behandlung in der Rehaklinik S. vom 15.01.2004 bis 26.02.2004 an. Wegen einer
deutlichen Bewegungseinschränkung mit Beugekontraktur des rechten Hüftgelenkes befand sich der Kläger darüber hinaus in der
stationären Behandlung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) T. vom 11.05.2004 bis 28.05.2004. Ein im Rahmen einer
Maßnahme der Berufsfindung und Arbeitserprobung (vom 15.11. bis 26.11.2004 im Berufsförderungswerk Bad W.) erstelltes arbeitspsychologisches
Gutachten äußerte den Verdacht, dass beim Kläger neuropsychologische Ausfälle vorliegen könnten, die möglicherweise durch
ein schweres Schädelhirntrauma verursacht sein könnten. Ausreichende Ergebnisse hätten in den erprobten Berufsbereichen nicht
erzielt werden können.
Auf Veranlassung der Beklagten erstattete hierauf Dr. E., H., ein neurologisches Gutachten. Unter dem 24.02.2005 führte er
unter Berücksichtigung einer ambulant durchgeführten testpsychologischen Untersuchung aus, dass neben den körperlichen Unfallfolgen
ausgeprägte hirnorganische Veränderungen vorlägen. Es bestünden nachhaltige Störungen der Konzentrationsfähigkeit und des
Auffassungsvermögens. Die Merkfähigkeit, die Gedächtnisleistung sowie die kognitiven Funktionen, wie beispielsweise Kopfrechnen
oder das Erstellen einfacher Problemlösestrategien, seien deutlich beeinträchtigt. Im affektiven Verhalten bestünde eine Impulskontrollstörung
mit Wutanfällen und teilweise aggressivem Verhalten. Gleichzeitig seien die genannten Beeinträchtigungen dem rehabilitations-
und arbeitswillig wirkenden Probanden schmerzlich bewusst. Das erstmals durchgeführte Schädel-MRT zeige Zeichen einer diffusen
axonalen Hirnschädigung als Residuum eines Traumas.
Der Kläger befand sich in der Zeit vom 22.03.2005 bis 17.05.2005 und vom 04.07.2005 bis 20.09.2005 zu einem weiteren stationären
Heilverfahren in den Kliniken S., G.. Im Rahmen des während des zweiten Aufenthaltes erstatteten neurologischen Gutachtens
(vom 15.11.2005) haben Dr. R. und Dr. H. unter Berücksichtigung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens von Diplompsychologe
Buchhardt und Dr. R. eine mittelgradige bis deutliche Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit mit einer Aufmerksamkeits-
und Konzentrationsstörung, einer Verlangsamung und ein Belastbarkeitsdefizit festgestellt. Hinzu komme ein zunehmend starkes
psychoreaktives Leiden unter den körperlichen und psychischen Defiziten. Darüber hinaus bestünden vermutlich komplexfokale
Anfälle in einer initialen Frequenz von ein bis zwei Mal pro Woche, die unter einer antikonvulsiven Behandlung noch in einer
Frequenz von ca. einem Mal pro Monat aufträten. Die beschriebenen neurokognitiven und neuropsychologischen Einschränkungen
und auch die sich aus der Krankheitsverarbeitung ergebende Depression seien dem Unfallereignis zweifelsfrei zuzuordnen. Die
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde seit dem 07.06.2005 auf 80 v.H. eingeschätzt.
Prof. Dr. S. stellte in seinem ersten Rentengutachten vom 18.09.2005 als wesentliche Unfallfolgen einen Zustand nach Polytrauma
mit instabiler Acetabulumfraktur rechts und hinterer Kreuzbandruptur rechts mit
1.
Beugedefizit rechtes Hüftgelenk von 30 ,
2.
Beugedefizit rechtes Kniegelenk von 30 ,
3.
Deutliche Umfangminderung rechtes Bein,
4.
Beinverkürzung rechts von 1 cm,
5.
Beckenhochstand rechts von 1 cm,
6.
Reizlose Narbenverhältnisse im Gesicht, an der rechten Hand, an der rechten Hüfte und am rechten Kniegelenk,
7.
Zustand nach Schneidezahnimplantat linker Unterkiefer,
8.
Nächtliches Zähneknirschen,
9.
Posttraumatisches Psychosyndrom nach gedecktem Hirntrauma fest.
Aus unfallchirurgischer Sicht bestünde eine MdE vom 02.09.2005 an und bis auf Weiteres um 20 v.H. Nach Vorlage des neurologisch-psychiatrischen
Gutachtens hielt Prof. Dr. S. eine Gesamt-MdE von 80 v.H. für gerechtfertigt. Zu einer Addition der neurologisch-psychiatrischen
MdE und der unfallchirurgischen MdE komme es seines Erachtens nicht.
Mit Bescheid vom 08.11.2005 bewilligte die Beklagte wegen der Folgen des Versicherungsfalles vom 09.12.2003 eine Rente als
vorläufige Entschädigung nach einer MdE um 80 v.H. vom 07.06.2005 an bis auf Weiteres. Als Folgen des Versicherungsfalles
anerkannte sie Folgendes:
"Hirnorganisches Psychosyndrom mit Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der Konzentration und der Belastbarkeit sowie Verlangsamung
nach Schädel-Hirn-Trauma mit Subarachnoidalblutung rechts hoch-parietal und diffuser axonaler Hirnschädigung. Posttraumatisches
Anfallsleiden mit komplex-fokalen Anfällen. Depressive Krankheitsverarbeitung.
Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk und Beckenhochstand rechts nach Acetabulumfraktur rechts.
Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk nach Risswunde am rechten Kniegelenk mit Eröffnung der Gelenkkapsel und Riss
des rechten hinteren Kreuzbandes. Muskelminderung am rechten Bein.
Brückenversorgung im Unterkiefer von Zahn 42 bis 32 nach Verlust der Zähne 41 und 31.
Folgenlos verheilte Lungenkontusion beidseits."
Plattfüße beidseits sowie ein Hallux valgus beidseits seien hingegen keine Folgen des Arbeitsunfalles. Dieser Bescheid ist
bestandskräftig.
Zur Rentennachprüfung und nach Eingang weiterer Befundberichte (u.a. des Neurologen und Psychiaters Dr. S. vom 11.11.2005
<Diagnosen: Schädelhirntrauma, Z.n. intracranieller Blutung, Epilepsie, organische Persönlichkeitsstörung, Patient leider
nicht anfallsfrei> und vom 20.02.2006) sowie Einleitung einer Psychotherapie beim Dipl.-Psychologe L. ab 30.03.2006 gab die
Beklagte weitere Gutachten in Auftrag.
Im zweiten Rentengutachten von Prof. Dr. S. und Dr. M. vom 30.06.2006 werden folgende Unfallfolgen beschrieben: Zustand nach
Polytrauma mit instabiler Acetabulumfraktur rechts und hinterer Kreuzbandruptur rechts mit
-
Beugedefizit im rechten Hüftgelenk von 20 ,
-
Beugedefizit im rechten Kniegelenk von 30 ,
-
Beinverkürzung rechts von 1 cm,
-
Beckenhochstand rechts von 1 cm,
-
hintere Schublade rechtes Knie (hintere Kreuzbandinsuffizienz),
-
geringe Umfangsverminderung rechtes Bein,
-
positives Trendelenburg-Zeichen rechts,
-
reizlose Narbenverhältnisse im Gesicht, an der rechten Hand, an der rechten Hüfte und am rechten Kniegelenk,
-
Zustand nach Implantatversorgung der vier Schneidezähne im Unterkiefer,
-
posttraumatisches Psychosyndrom nach gedecktem Schädelhirntrauma. Die MdE gaben die Sachverständigen wegen der nachweisbaren
hinteren Schublade am rechten Knie (hintere Kreuzbandinsuffizienz) nunmehr mit 30 v.H. an.
Dr. E. führte in dem zusammen mit dem Assistenzarzt W. erstellten Gutachten vom 05.09.2006 aus, es bestehe auch weiterhin
ein mittelschweres posttraumatisches Psychosyndrom nach gedecktem Schädelhirntrauma vom 09.12.2003. Ein Planen, vorausschauendes
Handeln und angemessenes Bewerten sei nur eingeschränkt möglich. Es bestehe eine Störung der Impulskontrolle mit wiederholten
aggressiven Durchbrüchen, psychoreaktiv bestünden Veränderungen im Sinne einer depressiven Entwicklung mit Unsicherheit, Angst,
Gefühl- und Hoffnungslosigkeit bis hin zu suizidalen Gedanken. Darüber hinaus bestehe infolge des Unfalles ein chronischer
Spannungskopfschmerz. Weder klinisch noch testpsychologisch hätten sich die Unfallfolgen eindeutig verändert. Die von den
Kliniken S. vorgeschlagene MdE um 80 v.H. könne jedoch nicht nachvollzogen werden. Sie seien nicht von einem posttraumatischen
Anfallsleiden überzeugt, einen eindeutigen Schluss auf epileptische Anfälle ließen die gemachten Angaben des Klägers und seiner
Ehefrau nicht zu. Eine MdE um 80 v.H. setzte darüber hinaus eine noch schwerere klinische Beeinträchtigung voraus. Auf neurologischem
Fachgebiet werde die MdE mit 50 v.H. eingeschätzt.
Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. M., hielt daraufhin eine Gesamt-MdE um 60 v.H. für gerechtfertigt, weil eine posttraumatische
Epilepsie nicht (mehr) nachweisbar sei. Die neurologische MdE betrage daher nur noch um 50 v.H.
Mit Schreiben vom 29.09.2006 hörte die Beklagte den Kläger zur Absicht, die Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 60
v.H. festzustellen, an. Die Folgen des Versicherungsfalles würden - wie näher ausgeführt wurde -, anders gefasst.
Mit Bescheid vom 23.10.2006 gewährte die Beklagte dem Kläger sodann eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 60 v.H.
ab dem 01.11.2006. Als Folgen des Versicherungsfalles stellte sie nunmehr Folgendes fest:
"Hirnorganisches Psychosyndrom mit Beeinträchtigung des Vermögens von Planen, vorausschauendem Handeln und angemessenem Bewerten.
Störung der Impulskontrolle mit aggressiven Durchbrüchen. Beeinträchtigung der Auffassungs- und Merkfähigkeit nach Schädel-Hirn-Trauma
mit Subarachnoidalblutung rechts hoch-parietal und diffuser axonaler Hirnschädigung. Depressive Krankheitsverarbeitung.
Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk und Beckenhochstand rechts nach Acetabulumfraktur rechts.
Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk nach Risswunde am rechten Kniegelenk mit Eröffnung der Gelenkkapsel und Riss
des rechten hinteren Kreuzbandes. Geringe Muskelminderung am rechten Bein; hintere Kreuzbandinsuffizienz rechts.
Brückenversorgung im Unterkiefer von Zahn 42 bis 32 nach Verlust der Zähne 41 und 31.
Folgenlos verheilte Lungenkontusion beidseits.
Mit einem am 09.11.2006 eingegangenen Schreiben erhob der Kläger hiergegen Widerspruch, welchen die Bevollmächtigten des Klägers
mit Schriftsatz vom 24.01.2007 näher begründeten. Sie hielten auch weiterhin eine Dauerrente auf der Basis einer MdE von mindestens
80 v.H. für gerechtfertigt. Die Herabstufung sei nicht gerechtfertigt.
Unter dem 26.10.2010 berichtete der Dipl.-Psychologe, Facharzt für Nervenheilkunde und Psychologischer Psychotherapeut L.
über die von ihm durchgeführte verhaltenstherapeutische Einzelbehandlung (Diagnosen: Organische affektive Störung, organische
Persönlichkeitsstörung, hirnorganisches Psychosyndrom, symptomatische Epilepsie, Zustand nach schwerer gedeckter Schädelhirnverletzung
(anamnestisch am 09.12.2003), Zustand nach rechts-hochparietaler Subarachnoidalblutung (anamnestisch am 09.12.2003), Zustand
nach Polytrauma (anamnestisch am 09.12.2003).
Wegen des Verdachtes auf einen Bandscheibenvorfall im Bereich der LWS mit neurologisch nachgewiesenem sensiblen Wurzelreizsyndrom
L5/S1 am rechten Bein befand sich der Kläger am 28.11.2006 in der ambulanten Behandlung der BGU T. Eine veranlasste Kernspintomographie
der Lendenwirbelsäule wurde im Radiologischen Zentrum Sinsheim mit einem zweietagigen Bandscheibenvorfall L4/L5 und L5/S1
im Stadium der Sequestration medio-rechts-lateral mit erkennbar neurokompressivem Effekt beschrieben. Darüber hinaus bestünde
eine zweietagige linksbetonte Facettengelenksreizung L4 bis S1. Prof. Dr. W., BGU T., führte unter dem 01.03.2007 nach einer
weiteren ambulanten Vorstellung des Klägers am 27.02.2007 u.a. aus, dass es sich bei den LWS-Veränderungen, die kernspintomografisch
nachgewiesen seien, um unfallunabhängige Veränderungen handele, die zunächst konservativ behandelt werden sollten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger vertreten durch seine Bevollmächtigten am 16.04.2007 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben.
Er hat geltend gemacht, dass sich eine Änderung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen gegenüber den im Verfahren über die
Rente als vorläufige Entschädigung festgesetzten Grad von 80 nicht ergeben habe. Vielmehr habe er eine Zunahme der epileptischen
Anfälle hinnehmen müssen. Dies habe der behandelnde Arzt Dr. L. geäußert und der Beklagten unter dem 12.06.2007 übermittelt.
Zudem hat er den Bericht der Rehabilitationsklinik S., wo er sich vom 25.07.2007 bis 15.08.2007 in stationärer Behandlung
befunden hat, vorgelegt (Diagnosen u.a.: Schädel-Hirntrauma mit Subarachnoidalblutung, organisch affektive Störung, Persönlichkeitsstörung,
hirnorganisches Psychosyndrom, symptomatische Epilepsie).
Das SG hat Beweis erhoben durch das Einholen einer sachverständigen Zeugenaussage beim Dipl.-Pychologen L. Dieser hielt in seiner
Zeugenaussage vom 06.03.2008 (unter Wiederholung der von ihm bereits im Bericht vom 26.10.2010 angegebenen Diagnosen) eine
MdE um 80 v.H. unter Berücksichtigung der im psychiatrischen, neurologischen und orthopädischen Fachgebiet bestehenden unfallbedingten
Gesundheitsstörungen für gerechtfertigt. In einer weiteren (vom Kläger vorgelegten) Stellungnahme hat der Dipl.-Pychologen
L. unter dem 24.04.2008 ausgeführt, dass auf neurologischem Fachgebiet gemäß dem Gutachten von Dr. E. eine MdE um 50 v.H.,
auf psychiatrischem Fachgebiet eine MdE um 30 v.H. und auf orthopädischem Fachgebiet eine MdE um 50 v.H. bestünde. Hieraus
ergebe sich seines Erachtens eine MdE um 80 v.H.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie stützt sich auf das neurologische Gutachten von Dr. E., wonach unter dem
Gesichtspunkt der erstmaligen Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit die MdE mit 50 v.H. auf neurologischem Fachgebiet
einzustufen sei.
Mit Gerichtsbescheid vom 10.02.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat die Bewertung der unfallbedingten Beeinträchtigungen mit einer MdE um 60 v.H. als zutreffend
angesehen. Eine MdE um wenigstens 80 v.H. liege hingegen nicht vor. Es schloss sich den Gutachten von Dr. S. und Dr. E. an.
Gegen den ihm am 17.02.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 17.03.2009 Berufung eingelegt.
Er verweist zur Begründung weiterhin auf die Einschätzung des behandelnden Psychologen und Facharztes für Nervenheilkunde
L., welcher die MdE mit 80 v.H. bewertet habe.
Der Kläger beantragt,
sachdienlich gefasst,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Heilbronn vom 10. Februar 2009 sowie den Bescheid vom 23. Oktober 2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat darauf hingewiesen, dass unter Berücksichtigung der gesamten Aktenlage zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung am 08.11.2005
festgestanden habe, dass der Kläger auch unter einem posttraumatischen Anfallsleiden gelitten habe. Dieses sei zum Zeitpunkt
der Untersuchung bei Dr. E. nicht mehr feststellbar gewesen. Insofern müsse eine Besserung im Unfallfolgezustand eingetreten
sein. Diese Besserung müsse im Bescheid vom 23.10.2006 keineswegs als solcher erwähnt werden, weil im Bescheid über eine Rente
auf unbestimmte Zeit nur noch die Unfallfolgen aufzuführen seien, die noch vorhanden seien. Entscheidend sei hier nicht die
Auffassung des Dr. E. hinsichtlich des Anfallsleidens, sondern die Erkenntnisse aus sämtlichen in den Akten enthaltenen ärztlichen
Unterlagen.
Wegen des weiteren Inhaltes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) liegen nicht vor.
Der Senat konnte auch in Abwesenheit des Klägers entscheiden, da er hierauf mit der Ladung hingewiesen wurde. Dem Antrag,
den Rechtsstreit zu vertagen, war nicht stattzugeben, da der Kläger anwaltlich vertreten ist und ein persönliches Erscheinen
des Klägers nicht angeordnet war.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die teilweise Entziehung der gewährten Rente als vorläufige Entschädigung mit Wirkung ab
01.11.2006 und die Höhe der ab diesem Zeitpunkt gewährten Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um nur noch 60 v.H. der
Vollrente. Der geltend gemachte Anspruch kann im Rahmen einer Anfechtungsklage gem. §
54 Abs.
1 SGG geltend gemacht werden, denn mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides gelten die Feststellungen des Bescheides der
Beklagten vom 08.11.2005, die der Kläger seinerzeit nicht angefochten hatte. Gemäß §
62 Abs.
2 S.1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) wird eine zunächst und wie vorliegend nur als vorläufige Entschädigung gewährte Rente mit Ablauf von drei Jahren nach dem
Versicherungsfall durch Zeitablauf kraft Gesetzes als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet, sodass der "Vorläufigkeitsvorbehalt"
in dem den Rentenanspruch feststellenden Verwaltungsakt gesetzesunmittelbar entfällt (BSG, Urteil v. 16.03.2010, B 2 U 2/09 R in [...]). Dementsprechend war der Antrag des Klägers, der, wie sich der Berufungsbegründung entnehmen lässt, auf die Weitergewährung
der Rente nach einer MdE um 80 v.H. gerichtet war, auszulegen. Weitergehende Ansprüche im Hinblick auf Unfallfolgen oder eine
über eine um 80 v.H. hinausgehende MdE hat der Kläger hingegen weder behauptet noch geltend gemacht.
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, weshalb sie aufzuheben
waren. Die Beklagte hat zu Unrecht eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um nur noch 60 v.H. festgestellt. Die Voraussetzungen
für eine Neufeststellung der Unfallfolgen - soweit diese zum Nachteil des Klägers erfolgt sind - liegen darüber hinaus nicht
vor. Rechtlich nachteilig wirkt sich insoweit aus, dass die Beklagte ein "Posttraumatisches Anfallsleiden mit komplexfokalen
Anfällen" nicht mehr als Unfallfolge im Bescheid vom 23.10.2006 aufgeführt hat.
Bei der erstmaligen Festsetzung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung räumt §
62 Abs.
2 Satz 2
SGB VII der Beklagten das Recht ein, den Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festzustellen, auch
wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Dies muss sie jedoch innerhalb von drei Jahren nach dem Versicherungsfall
tun, weil die Rente nach dessen Satz 1 spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall kraft Gesetzes nicht
mehr als vorläufige Entschädigung, sondern als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet wird, wie oben bereits ausgeführt wurde.
Die Ermächtigung befugt den Unfallversicherungsträger dazu, über das Recht des Versicherten auf eine Dauerrente ("Rente auf
unbestimmte Zeit") ohne Bindung an den Regelungsgehalt der letzten Anspruchsfeststellung erstmals und ggfs. unter deren Aufhebung
oder Änderung zu entscheiden. Er darf dabei anders als in der "vorläufigen" Bewilligung entscheiden, ohne dass dafür eine
wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen eingetreten sein müsste, die bei Erlass der letzten "vorläufigen" Anspruchsfeststellung
vorgelegen hatten. Der "Vorläufigkeitsvorbehalt", welcher der Feststellung des Rentenanspruchs durch den Zusatz: "als vorläufige
Entschädigung" beigefügt war, schließt ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherten auf diesen Verwaltungsakt insoweit aus,
als dessen Regelung auf der Tatsache der noch nicht abschließend einschätzbaren MdE beruht. Der Gesetzesbegriff "Feststellung
einer Rente" auf unbestimmte Zeit bedeutet die Entscheidung des Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung über das subjektiv-öffentliche
Recht eines Versicherten auf Rente. Diese Entscheidung kann auch negativ ausfallen, also zu der Feststellung führen, dass
ein Rentenanspruch nicht besteht (vgl. BSG Urteil v. 16.03.2010 - B 2 U 2/09 R in [...] m.w.N.).
§
62 SGB VII verdrängt in seinem Anwendungsbereich die generelle Regelung des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Die in § 48 SGB X allgemein erteilte Ermächtigung zur Aufhebung von Verwaltungsakten ist nicht anwendbar, wenn und solange es speziell um die
Änderung, Aufhebung oder Ersetzung von "vorläufigen" Feststellungen eines Rentenanspruchs in der gesetzlichen Unfallversicherung
bis zum Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall geht (vgl. BSG 16.03.2010 a.a.O.).
Allerdings wird die Bindungswirkung des die vorläufige Rente gewährenden Bescheides lediglich hinsichtlich des Grades der
Minderung der Erwerbsfähigkeit beseitigt, wie sich §
62 Abs.
2 S. 2
SGB VII entnehmen lässt. Danach kann bei der Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit (nur) der Vomhundertsatz der Minderung der
Erwerbsfähigkeit abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert
haben. Im Übrigen bleibt die Bindungswirkung dieses Bescheides jedoch bestehen. Damit besteht grundsätzlich eine Bindung an
die Anerkennung des Unfalles als Arbeitsunfall, an die festgestellten Unfallfolgen und an die Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes
(Schmitt,
SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 62 Rz 13, BSG Urteil v. 30.10.1962 - 2 RU 225/59 -, BSGE 18, 84). Eine bedeutsame Änderung der Rechtsgrundlage ist seit dieser Entscheidung des BSG, welche auf weitere Entscheidungen verweist und durch die Entscheidung des BSG vom 24.06.1981 bestätigt wurde (2 RU 9/80, in [...]) durch das Inkrafttreten des
SGB VII nicht eingetreten. Der der damaligen Entscheidung zugrunde liegende § 1585 Abs. 2
Reichsversicherungsordnung schloss nach seinem Wortlaut eine Bindung hinsichtlich der "Grundlagen für die Rentenberechnung" aus. Nach der Auslegung
des BSG und des RVA waren darunter die Grundlagen für die Feststellung der Rentenhöhe, also Jahresarbeitsverdienst und MdE zu verstehen,
nicht aber auch die, die zugleich den Anspruch als solchen betreffen, wie dies bei der Anerkennung von Unfallfolgen der Fall
ist (vgl. zur Auslegung schon BSG Urteil vom 29.03.1957 - 2 RU 129/55 -, BSGE 5, 96, m.w.N.).
Der Senat stellt insoweit zunächst fest, dass in dem hier maßgeblichen Bescheid vom 08.11.2005 mehrere Verfügungssätze enthalten
sind. Die materielle Bestandskraft (Bindungswirkung) eines Verwaltungsakts beschränkt sich nach der ständigen Rechtsprechung
des BSG grundsätzlich auf den Entscheidungsausspruch, den so genannten Verfügungssatz, wobei ein Verwaltungsakt mehrere Verfügungssätze
enthalten kann (vgl. Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 36/03 R - in [...] - mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung und allgemeine Meinung in der Literatur). Sofern Verwaltungsakte
keine strenge Trennung zwischen Verfügungssatz und Begründung aufweisen, ist die gesamte Begründung daraufhin zu prüfen, inwieweit
sie für einen Verwaltungsakt typische, der Bindung fähige Regelungen trifft (BSG 22.06.2004, a.a.O.). Selbst wenn Verfügungssatz und Begründung klar voneinander getrennt sind, können Teile der Begründung
eines Verwaltungsakts als weiterer Verfügungssatz bewertet werden, wenn ihnen unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten
nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht eine solche Bedeutung zukommt. Dies ist hier mit der nicht erfolgten förmlichen
Trennung von Verfügungssatz und Begründung für die abgesetzt dargestellten Unfallfolgen der Fall. Denn neben einem Verfügungssatz
über die Gewährung einer Rente als vorläufiger Entschädigung unter Darlegung von deren Beginn und der hierfür zugrunde gelegten
MdE (sowie des am Ende des Verwaltungsaktes festgestellten Jahresarbeitsverdienstes) werden die Folgen des Arbeitsunfalles
nicht nur im Rahmen der Begründung der von der Beklagten festgesetzten MdE herangezogen, sondern unter der Überschrift "Als
Folgen des Arbeitsunfalles werden anerkannt:" in mehreren Absätzen präzise aufgelistet. Damit werden nach Auffassung des Senats
die im Bescheid über die Rente als vorläufige Entschädigung getroffenen Feststellungen zu den Folgen des Arbeitsunfalles zwischen
den Beteiligten bindend (§
77 SGG), weil diese Feststellungen offensichtlich mit Bindungswillen getroffen wurden. Diese Bindungswirkung bleibt grundsätzlich
bestehen, auch wenn die dem Anerkenntnis zugrundeliegende ärztliche Beurteilung sich als unrichtig erweist (so auch BSG, Urteil v. 29.01.1971 - 2 RU 161/68 - in [...]).
Lässt sich damit aus §
62 SGB VII keine wirksame Rechtsgrundlage für die Aufhebung mit Bindungswirkung festgestellter Unfallfolgen ableiten, ist zu prüfen,
ob die ursprüngliche Feststellung rechtswidrig gewesen oder rechtswidrig geworden ist und die §§ 45, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Rechtsgrundlage für die hier erfolgte faktische Aufhebung der bezeichneten Unfallfolge sein können.
Unabhängig davon, dass die Beklagte die Neufassung der Unfallfolgen nicht auf Regelungen des SGB X stützt, setzt die Anwendbarkeit von § 45 SGB X voraus, dass der Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig und deswegen zurückgenommen werden soll. Dies wäre
dann der Fall, wenn der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht an einem posttraumatischen Anfallsleiden mit komplexfokalen Anfällen
gelitten hätte oder dieses zumindest nicht in einem Unfallzusammenhang zu sehen wäre. Letzteres wird jedoch weder von der
Beklagten behauptet noch wurde solches von Dr. E. als Argument seiner Beurteilung herangezogen. Auch nach der Lektüre des
Gutachtens von Dr. R. bleiben zwar Zweifel, nachdem dieser in der Zusammenfassung seines Gutachtens nur von vermutlich bestehenden
komplex-fokalen Anfällen spricht, bei der Beantwortung der Beweisfragen ein posttraumatisches Anfallsleiden dann aber ohne
Einschränkungen als Unfallfolge sieht. Diese Diagnose beruht im Übrigen aber auf einer Anfallsanamnese und der Beobachtung
während der stationären Behandlungen (vgl. Seite 2 des Gutachtens) in den S. Kliniken, die im Entlassungsbericht vom 23.09.2005
über zwei komplex-fokale Anfälle berichten (Bl. 15: zwei komplex-fokale Anfälle, einmalig mit einem damit verbundenen Bewusstseinsverlust
in den späten Abendstunden, der Kläger sei am Boden liegend zu sich gekommen, Verletzungen habe er sich dabei nicht zugezogen,
die Orfiril-Dosis sei erhöht worden). Dieser Einschätzung ist die Beklagte gefolgt, ohne - etwa im Hinblick auf die genannte
Verdachtsäußerung - weitere Ermittlungen einzuleiten.
Ein Nachweis der Rechtswidrigkeit dieser Feststellung liegt aber nicht vor. Er ist auch nicht mit der gutachterlichen Äußerung
des Dr. E. erbracht. Unabhängig davon, dass er den Entlassungsbericht vom 23.09.2005 offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen
hat, führt er lediglich aus, dass er nicht davon überzeugt sei, dass tatsächlich ein posttraumatisches Anfallsleiden vorliege.
Die Schilderungen der Eheleute ließen keinen eindeutigen Schluss auf epileptische Anfälle zu. Damit äußert er allenfalls Zweifel
am Vorliegen der Diagnose, ohne den Beweis hierfür erbracht zu haben. Aufgrund fehlender konkreter Untersuchungen, welche
die Vermutung von Dr. R. hätten bestätigen oder widerlegen können, fehlt es an einem Nachweis einer anfänglichen Rechtswidrigkeit.
Im Rahmen des § 45 SGB X hat aber grundsätzlich der Leistungsträger, der sich auf die ursprüngliche Rechtswidrigkeit beruft, den Beweis für die Rechtswidrigkeit
des Bescheids zu führen. Damit geht die Unerweislichkeit dieser Tatsachen zu seinen Lasten (vgl. hierzu Schütze in von Wulffen:
SGB X, 7. Auflage 2010, § 45 Rdnr. 29). Schließlich fehlt es - § 45 als Rechtsgrundlage einer Aufhebung unterstellt - an einer erforderlichen Ermessensausübung,
sodass die Aufhebung der Entscheidung auch schon aus diesem Gesichtspunkt gerechtfertigt wäre. Dass der Sonderfall der sog.
Ermessensreduzierung auf Null hier nicht vorliegt, bedarf keiner weitergehenden Ausführungen.
Für die Anwendbarkeit des § 48 SGB X gelten im Wesentlichen dieselben Erwägungen. Unabhängig davon, dass eine Entscheidung nach § 48 SGB X als gebundene Entscheidung erginge, liegt ein Nachweis für eine wesentliche Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Art aus
den genannten Gründen ebenfalls nicht vor. Eine Besserung des Gesundheitszustandes oder gar ein Abklingen dieser Erkrankung
im Vergleich zu den Feststellungen, die noch dem Bescheid vom 08.11.2005 zugrunde gelegen haben, lässt sich weder dem Gutachten
von Dr. E. entnehmen noch dem Aktenverlauf. Mit der bereits zitierten Äußerung von Dr. E. hat dieser keineswegs zum Ausdruck
gebracht, die komplex fokalen Anfälle hätten sich zurückgebildet oder seien ausgeheilt. Eine konkrete Fremdanamnese der Ehefrau,
auf die sich Dr. E. stützt, lässt sich dem Gutachten vom 05.06.2006 nicht entnehmen. In den nachfolgenden Berichten des behandelnden
Dipl.-Psychologen und Nervenarztes L. wird die Diagnose einer symptomatischen Epilepsie aber genauso wiederholt wie in dem
im Klageverfahren vorgelegten Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik S. vom 13.08.2007. Bei einer ohnehin unter Medikation
nur noch bestehenden Anfallshäufigkeit von ca. einmal im Monat ist der Nachweis einer wesentlichen Besserung oder das Abklingen
eines vormals bestehenden und zu Recht anerkannten Leidens nicht geführt.
Damit erweist sich die faktische Aufhebung des bereits als Unfallfolge anerkannten posttraumatischen Anfallsleiden mit komplex-fokalen
Anfällen mit dem Bescheid vom 23.10.2006 als rechtswidrig.
Darüber hinaus vermag der Senat auch materiell-rechtlich eine Rechtfertigung der Absenkung der bereits veranschlagten MdE
nicht zu erkennen.
Grundlage für die MdE auch und gerade für die Bewertung unter Dauerrentengesichtspunkten ist der Umfang der sich aus der Beeinträchtigung
des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens
(§
56 Abs.
2 Satz 1
SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil v. 22.06.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem
Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern
vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche
Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche
Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem
soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen
beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher
und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens
und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt
werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen
Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung
im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen
der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.
Festzuhalten ist zunächst, dass die Beklagte mit Bescheid vom 08.11.2005 ausdrücklich keine Rente auf Dauer, sondern lediglich
eine Rente als vorläufige Entschädigung ab dem 07.06.2005 bis auf weiteres bewilligt hat, §
62 Abs.
2 SGB VII also für die erstmalige Festsetzung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung heranzuziehen war. Mit dem angefochtenen
Bescheid vom 23.10.2006 hat die Beklagte auch darüber entschieden, ob und in welchem Umfang dem Kläger eine Rente auf unbestimmte
Zeit zusteht. Diese Entscheidung ist dem Kläger - nach vorheriger Anhörung gemäß § 24 SGB X - auch rechtzeitig vor Ablauf der Dreijahresfrist bekanntgegeben worden, wie sein Widerspruch vom 09.11.2006 belegt.
Auch für die Bewertung der MdE unter Dauerrentengesichtspunkten sind zunächst die Auswirkungen eines unfallbedingten hirnorganischen
Psychosyndroms nach Schädel-Hirn-Trauma mit Subarachnoidalblutung rechts hoch-parietal und diffuser axonaler Hirnschädigung
zu berücksichtigen. Dabei sind die Bescheid vom 23.10.2006 erfolgten Beschreibungen der hierdurch verursachten Einschränkungen
(Beeinträchtigung des Vermögens von Planen, vorausschauendem Handeln und angemessenem Bewerten, Störung der Impulskontrolle
mit aggressiven Durchbrüchen, Beeinträchtigung der Auffassungs- und Merkfähigkeit) lediglich als Klarstellung im Vergleich
zu den im Bescheid vom 08.11.2005 gewählten Formulierungen (Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der Konzentration und der
Belastbarkeit sowie Verlangsamung) zu verstehen und enthalten dementsprechend keine Regelungen zu Lasten des Klägers. Nach
dem Gutachten von Dr. E., das auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen wird, besteht ein mittelschweres posttraumatisches
Psychosyndrom auch weiterhin, welches zu einer Beeinträchtigung der Merkfähigkeit, der Auffassung sowie der Fähigkeit zu planen,
vorausschauend zu handeln und Problemlösestrategien zu entwickeln, geführt hat. Darüber hinaus besteht unfallbedingt eine
Störung der Impulskontrolle mit wiederholten aggressiven Durchbrüchen. Psychoreaktiv ist es zu Veränderungen im Sinne einer
depressiven Entwicklung mit Unsicherheit, Angst und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit bis hin zu suizidalen Gedanken gekommen.
Schließlich besteht nach dem Gutachten von Dr. E. ein dem Unfall zuzurechnender Spannungskopfschmerz. Zusätzlich weist er
ausdrücklich darauf hin, dass sich weder klinisch noch testpsychologisch eine eindeutige Veränderung der Unfallfolgen im Vergleich
zum Vorgutachten belegen lasse. Zugenommen hat jedoch - wie er ausführt - die psychoreaktive Verstimmung. Soweit Dr. E. die
aus dem Vorgutachten der Kliniken S. angesetzte MdE auf neurologischem Fachgebiet um 80 v.H. als nicht nachvollziehbar beschreibt,
kann dem nicht gefolgt werden.
Die Vergleichswerte in der Rentenliteratur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage,
S. 186) schlagen für die Beurteilung einer Rente auf unbestimmte Zeit bei Vorliegen von Hirnschädigungen mit mittelschwerer
Leistungsbeeinträchtigung eine MdE von 30 bis 50, mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung 50 bis 100 vor. Bei der ebenfalls
abgedruckten Bewertung eines isolierten Vorkommens einzelner Einschränkungen bspw. von Hirnschäden mit kognitiven Leistungsstörungen
werden mittelgradige Einschränkungen mit 40-60, schwere mit 70-100, isoliert auftretende Anfälle (je nach Art) mit einer mittleren
Anfallshäufigkeit (Abstand von Wochen) mit 50-60 bewertet. Selbst eine seltene Anfallshäufigkeit mit einem zeitlichen Abstand
von Monaten rechtfertigt in diesem Bereich noch die Annahme einer - isolierten - MdE um 40 v.H. Selbst die beim Kläger diagnostizierten
Spannungskopfschmerzen sind in einer leichten Ausprägung noch mit 10 bis 20 v.H. (mittelgradig: 20 bis 30) zu berücksichtigen.
Angesichts dessen vermochte sich der Senat der Einschätzung von Dr. E., die MdE sei lediglich mit 50 einzuschätzen, nicht
anzuschließen. Wie dem ausführlichen Entlassungsbericht der Rehaklinik Bad S. vom 13.08.2007 (vorgelegt vom Kläger im SG-Verfahren) entnommen werden kann, ist eine Eingliederung des Klägers in den ersten Arbeitsmarkt auch 2007 noch nicht erreicht
worden. Vielmehr war der Kläger im beschützenden Rahmen einer Behindertenwerkstatt als Verpacker beschäftigt und selbst dies
nur in Teilzeit. Der Senat ist daher der Überzeugung, dass allein aufgrund der durch die beiden Gutachten belegten kognitiven
Einschränkungen und der Vorgaben in der Rentenliteratur hierfür bereits eine MdE um 70 v.H. anzusetzen ist. Diese am unteren
Rand schwerer kognitiver Einschränkungen orientierte Einschätzung ist erforderlich, den mittelgradigen bis deutlichen Beeinträchtigungen
der geistigen Leistungsfähigkeit (so Dr. R. und so auch im Wesentlichen von Dr. E. bestätigt) Rechnung zu tragen. In diesem
Rahmen ist aber nach Überzeugung des Senats bereits auch das starke psychoreaktive Leiden des Klägers berücksichtigt, das
von Dr. E. im Übrigen als nochmals verschlimmert beschrieben wurde. Soweit Dr. E. die MdE nur um 50 v.H. gemindert sieht,
eine höhere seines Erachtens eine noch schwerere klinische Behinderung voraussetzt, welche hier nicht vorliege, vermag dies
nicht zu überzeugen. Eine Auseinandersetzung mit den Vorgaben in der Rentenliteratur findet in seinem Gutachten nicht statt.
Darüber hinaus sind seine weiteren Einlassungen vage und äußerst spekulativ, wenn er ausführt, er könne nicht definitiv ausschließen,
dass unfallunabhängige, aus der Sozialisation des Klägers abzuleitende Faktoren den Umgang mit den Unfallfolgen, insbesondere
die psychoreaktiven Veränderungen beeinflussten. Damit liegt schon der Verdacht nahe, der Sachverständige ziehe nicht nachgewiesene,
seiner Ansicht nach unfallunabhängige Umstände von einer an sich vorhandenen MdE ab. Dies entspricht jedoch weder den insofern
anzulegenden Kausalitätsmaßstäben noch den Grundsätzen der MdE-Bewertung.
Inwieweit das Gutachten der Kliniken S. das Anfallsleiden bei der Bildung der MdE berücksichtigt hat, geht aus diesem nicht
hervor. Das Gutachten beschreibt jedoch eine Anfallshäufigkeit von ein- bis zweimal pro Woche, die sich unter der antikonvulsiven
Behandlung auf einmal pro Monat reduzieren ließ. Bei der Bildung der Gesamt-MdE dürfte das Anfallsleiden daher eine untergeordnete
Rolle gespielt haben, nachdem die wesentlichen Beeinträchtigungen der Fähigkeit, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Tätigkeit
nachgehen zu können, bereits auf den Folgen der durch die Subarachnoidalblutung vermittelten psychischen Einschränkungen begründet
waren und sind. Es kann daher dahinstehen, ob hierfür tatsächlich eine Teil-MdE von 40 v.H. anzusetzen wäre, wie dies für
das isolierte Auftreten von zerebralen Anfällen angenommen wird (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.; zur - nicht bestehenden
- Bindungswirkung von Teil-MdE-Werten, vgl. BSG Urteil vom 08.12.1983, 2 RU 10/83 in [...], Rz 10). Die Erwerbsfähigkeit des Klägers wird jedoch noch einmal qualitativ weitergehend durch die auf chirurgisch/orthopädischem
Fachgebiet zu beurteilenden Gesundheitsstörungen beeinträchtigt, die nach dem Gutachten von Prof. Dr. S. vom 30.06.2006 nunmehr
aufgrund einer zusätzlich zu berücksichtigenden hinteren Kreuzbandinsuffizienz mit 30 v.H. zu bewerten ist. An dieser Einschätzung
hat der Senat keinen Anlass zu zweifeln, zumal auch die Beklagte Einwendungen nicht erhoben, bzw. diese Einschätzung über
ihren Beratungsarzt Dr. M. bei der Gesamt-MdE einbezogen hat. Diese aus einer Gebrauchseinschränkung des rechten Beines (Beugebeeinträchtigung
der Hüfte, Beugedefizit des Knie, Insuffizienz des hinteren Kreuzbandes, Beinverkürzung, Beckenhochstand) resultierende MdE
wirkt sich auf die Gesamt-MdE erhöhend aus, was auch Dr. M. erkannt hat und weswegen auch unter Berücksichtigung des §
62 SGB VII keine Grundlage für die Feststellung einer MdE von weniger als 80 v.H. besteht. Damit ist den aufgrund der Unfallfolgen vorliegenden
Einschränkungen des Klägers unter Dauerrentengesichtspunkten jedoch auch ausreichend Rechnung getragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.