Erbringung einer 24-stündigen Beatmungspflege durch die gesetzliche Krankenversicherung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Gründe:
I. Der Antragsteller begehrt im Wege vorläufigen Rechtsschutzes Kostenübernahme einer 24-stündigen Behandlungspflege.
1. Der 1956 geborene Antragsteller ist gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Antragsgegnerin. Er leidet nach einer zeckenbissbedingten
Frühsommer-Menin-goencephalitis im Jahre 1998 an weitreichenden Lähmungen, insbesondere an einer respiratorischen Insuffizienz.
Wegen dieser besteht 24-stündige Beatmungsnotwendigkeit über Tracheostoma. Die Beigeladene erbringt Leistungen nach der Pflegestufe
III nach dem
SGB IX am 5,5 Stunden/Tag.
Am 08.06.2009 verordnete der behandelnde Allgemeinarzt H. F. G. dem Antrag-steller häusliche Krankenpflege in Gestalt einer
24-stündigen Intensivpflege wegen Beatmungspflicht, Bedienung und Überwachung des Beatmungsgerätes einschließlich Absaugen,
Lungeblähen und -spülen, Tracheakanülenwechsel, tägliches Wechseln der Metalllippe, Filterwechsel, Reinigung sowie Munddesinfektion.
Nach Einschaltung des MDK, welcher die Beatmungsbedürftigkeit für 24 Stunden bestätigte, genehmigte die Beklagte am 23.06.2009
eine Kostenübernahme vom 09. bis 30.06.2009 dieser Intensivpflege für 18,5 Stunden/Tag. Die restliche Zeit von 5,5 Stunden/Tag
sei bereits über die Leistungen aus den Bedürfnissen der Pflegestufe 3 abgedeckt gemäß Bewilligung vom 08.06.2009. Eine inhaltsgleiche
Entscheidung erging auf weitere ärztliche Verordnung vom 23.06.2009 für die Zeit vom 01.07. bis 30.09.2009 durch Genehmigung
vom 02.07.2009. Gegen den die Widersprüche vom 08.07.2009 zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 12.11.2009 hat der Antragsteller
Klage zum Sozialgericht Bayreuth erhoben (S 6 KR 417/09).
2. Noch während des Widerspruchsverfahren hat der Antragsteller am 10.09.2009 im Wege einstweiligen Rechtsschutzes Kostenübernahme
für eine 24-stündige Behandlungspflege pro Tag begehrt.
Mit Beschluss vom 21.10.2009 hat das Sozialgericht den Antrag auf vorläufige Ge-währung weiterer Behandlungspflege von 5,5
Stunden täglich abgewiesen im Wesentlichen mit der Begründung, es fehle an einem Anordnungsgrund, also an der besonderen Eilbedürftigkeit
einer Entscheidung. Der Antragsteller erhalte tatsächlich 24 Stunden täglich häusliche Krankenpflege, so dass seine Versorgung
sichergestellt sei. Streitig sei daher nur, ob die Antragsgegnerin oder die Beigeladene die Kosten tragen müsse. Dieser Streitgegenstand
sei dem Hauptsacheverfahren zuzuweisen. Das Sozialgericht hat dabei einen am 20.10.2009 eingegangenen Schriftsatz des Antragstellers
nicht berücksichtigt, mit welchem dieser dargestellt und belegt hatte, dass er nicht in der Lage sei, die Kosten der Beatmungspflege
von rund 6.000,00 Euro monatlich mit seinem Gehalt, dem demnächst endenden Bezug von Krankengeld sowie aus einer privaten
Rente von in der Summe rund 2.900,00 Euro/Monat zu decken.
3. Zur Weiterverfolgung seines Begehrens hat der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth Beschwerde
eingelegt und diese mit der drohenden Einstellung der Leistungen durch den leistenden Pflegedienst begründet. Er hat vorgetragen,
dass seine Ehefrau mangels Ausbildung und Kenntnis die Beatmungspflege nicht erbringen könne. Die Leistungen der Grundpflege
würden zwar durch den identischen Pflegedienst erbracht, jedoch zu einem anderen Kostensatz, welchen der Antragsteller nicht
tragen könne.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 21.10.2009 aufzuheben und die Antragsgegnerin vorläufig bis zur Entscheidung
in der Hauptsache zu verpflichten, die Kosten einer Behandlungspflege im Umfang von 24 Stunden pro Tag zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin sieht den Pflegebedarf auch für die Beatmungspflege als sichergestellt an und beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz -
SGG) und auch begründet. Die vorzunehmende Folgenabwägung ergibt, dass der Antragsteller vorläufig die begehrte Behandlungspflege
über weitere 5,5 Stunden/Tag zu erhalten hat.
1. Einstweilige Regelungsanordnungen nach §
86 b Abs.
2 SGG können ergehen, wenn allein dadurch wesentliche Nachteile für einen Betroffenen abgewandt werden können. Diese Regelungsanordnungen
setzen einen Anordnungsanspruch, also ein materielles Recht auf die inhaltliche Entscheidung, und einen Anordnungsgrund, also
besondere Eilbedürftigkeit, voraus; beide sind glaubhaft zu machen, §
86 b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO).
Das einstweilige Rechtsschutzverfahren eröffnet grundsätzlich nur vorläufige Regelungen. Hier begehrt der Antragsteller allerdings
eine Kostenfreistellung für eine Leistung, die er finanziell nicht tragen kann. Im Falle des Unterliegens in der Hauptsache
wird er also die Kosten einer einstweilig gewährten Behandlungspflege nicht zurückzahlen können, so dass ein Rückerstattungsanspruch
der Antragsgegnerin aus § 86 b Abs. 2 Satz 4 i. V. m. §
945 ZPO ins Leere liefe. Faktisch nimmt damit die begehrte einstweilige Regelung die Entscheidung der Hauptsache vorweg, denn eine
eventuelle Zahlung der Antragsgegnerin an den Pflegedienst nur unter Vorbehalt kann das Gericht im vorliegenden Verfahren
nicht wirksam anordnen, weil der Pflegedienst als Leistungserbringer nicht beteiligt ist. Die begehrte Anordnung kann daher
im Grundsatz nur ergehen, wenn andernfalls unzumutbare Nachteile für den Antragsteller zu erwarten wären und ein hoher Grad
an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht. Unter diesen Voraussetzungen ist ausnahmsweise die faktische
Vorwegnahme der Hauptsache im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zulässig (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 13.10.2008
- L 5 B 822/08 KR ER m. w. N.).
Ob ein Anordnungsanspruch besteht, ob die ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung gerechtfertigt ist, entscheidet
sich in der Regel nach einer wegen der Eilbedürftigkeit gebotenen summarischen Prüfung. Stehen aber existenziell bedeutsame
Leistungen der Krankenversicherung im Streit, ist eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage verwehrt, die
Sach- und Rechtslage ist abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, BVerfGK 1, 292). Kann aber die Sache
im Eilverfahren nicht vollständig geprüft werden, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfGK 5, 1237 m. w. N.).
Die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen, die Gerichte haben sich
schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007 - 1 BvR 3101/06 m. w. N.).
2. In Auswertung der beigezogenen Verwaltungsakten der Antragsgegnerin, der Akten des Sozialgerichts Bayreuth und insbesondere
der medizinischen Dokumentation durch den MDK, welcher auch Grundlage für die Entscheidungen der Antragsgegnerin sind, ist
glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller ohne 24-stündige Beatmungspflege nicht überleben kann. Ohne die künstliche Beatmung
rund um die Uhr sowie ohne qualifizierte Pflege der Atemwege und der Atemgerätschaften drohen dem Antragsteller konkret lebensbedrohende
Ateminsuffizienzen.
Im Falle des Antragstellers sind also reale notstandsähnliche Situationen konkret zu befürchten, wie sie für einen akut zur
Lebenserhaltung notwendigen Behandlungsbedarf typisch sind. Damit steht vorliegend mit dem Anspruch auf Behandlungspflege
aus §
37 Abs
2 SGB V eine existenziell bedeutsame Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung im Streit. Es wäre deshalb auch im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren geboten, die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen. Dies erforderte die vollständige Aufklärung
des medizinischen Sachverhaltes, welcher aber aus Zeitgründe nicht möglich ist. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sieht
sich der Senat außerstande, rechtssicher abzuklären, ob die Leistungen der Grundpflege tatsächlich mit den Leistungen der
Beatmungspflege deckungsgleich sind oder insoweit keine Gleichstellung mit den Grundleistungen der Pflege möglich ist.
Insoweit ist zwar festzuhalten, dass die Behandlungs-/Beatmungspflege nach §
37 Abs
2 SGB V ebenso wie die Grundpflege nach dem
SGB IX vom identischen Pflegedienst erbracht werden, welcher ursprünglich auch das Widerspruchsverfahren angestoßen hatte. Gleichwohl
steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit, welche Vergütung der Pflegedienst zu erhalten hat. Vielmehr hat der Antragsteller
- gerade noch hinreichend - glaubhaft gemacht, dass der Pflegedienst im hier streitigen Zeitrahmen von weiteren 5,5 Stunden
täglich nur Leistungen der Grundpflege, nicht aber solche der Beatmungspflege zu erbringen droht. In diesem Zusammenhang ist
ebenfalls bedeutsam, dass der Antragsteller - ausreichend - glaubhaft gemacht hat, durch den Bezug von Sozialleistungen, privater
Rente und Entgelt nicht in der Lage zu sein, die Kosten der Beatmungspflege selbst tragen zu können. Weitere Personen, die
die Beatmungspflege übernehmen könnten, sind nicht ersichtlich, zumal die Ehefrau des Antragstellers nach ihren glaubhaften
Angaben nicht über die erforderliche medizinische, hygienische und technische Ausbildung verfügt, um die Beatmungspflege sicherzustellen.
Damit hat eine Abwägung der durch die begehrte Entscheidung berührten Rechtsgüter zu erfolgen. Hier sind auf Seiten des Antragstellers
das Rechtsgut aus Art.
2 Abs.
2 Grundgesetz und auf Seiten der Antragsgegnerin sowie der Versichertengemeinschaft im Wesentlichen wirtschaftliche Interessen abzuwägen.
Diese Güterabwägung hat zum Ergebnis, dass die Antragsgegnerin vorläufig die begehrte Beatmungspflege auch im Umfang der weiteren
5,5 Stunden täglich, welche streitig sind, zu gewähren hat. Die grundgesetzlich besonders geschützten Güter des Antragstellers
auf Leben und Gesundheit genießen Vorrang, weil die Vorenthaltung der begehrten Behandlungspflege im Falle eines positiven
Ausganges der Hauptsache zur Folge hätte, dass die 24-stündige Beatmungspflege möglicherweise zu spät käme. Demgegenüber stehen
die Interessen der Versichertengemeinschaft, keine Leistungen erbringen zu müssen, die möglicherweise anderweitig abgesichert
sind. Im Falle der 24-stündigen Beatmungspflege und dem negativen Ausgang des Hauptsacheverfahrens würden zwar die wirtschaftlichen
Interessen der gesetzlichen Krankenversicherung in erheblichem Maße verletzt, weil die Behandlungspflege mehrere Tausend Euro
monatlich kostet und der Antragsteller nach seinen finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnissen Rückzahlungen voraussichtlich
nicht wird leisten können. Demgegenüber wiegt aber sein Grundrecht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit deutlich schwerer.
3. Im Rahmen des Ermessens, welches gemäß § 87 b Abs. 2
SGG bei Erlass einer einstweiligen Anordnung wie der vorliegenden auszuüben ist, findet Berücksichtigung, dass der Antragsteller
nach ausreichender Glaubhaftmachung die begehrte Leistung nicht selbst tragen kann. Eine nur anteilige Kostenfreistellung
kommt daher nicht in Betracht.
In weiterer Ausübung des Ermessens wird die ab Rechtshängigkeit des Antrags zu gewährende Kostenfreistellung für die 24-stündige
Beatmungspflege zweifach befristet. Zum einen ist bis zum Abschluss der Hauptsache in der ersten Instanz zu befristen, zum
anderen längstens bis 31.12.2010. Eine nur quartalsweise Befristung parallel zur vierteljährlichen Leistungsgewährung durch
die Antragsgegnerin entspräche angesichts des gesundheitlichen Zustandes des Antragstellers und der bereits vergeblich ausgeschöpften
Heilmöglichkeiten dem Antragsteller keiner ausreichenden Rechtsschutzgewährung.
Über die Möglichkeit, den eventuell zwischen der Antragsgegnerin und dem Antragsteller gemäß §
945 ZPO bestehenden Schadensersatzanspruch über einen entsprechenden Vorbehalt der Antragsgegnerin gegenüber dem leistungserbringenden
Pflegedienst abzusichern, kann der Senat bei der vorliegenden Beteiligtenkonstellation nicht befinden.
Auf die Beschwerde des Antragstellers ist deshalb der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth aufzuheben und die Antragsgegnerin
vorläufig zur Kostenübernahme im begehrten Umfange zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar (§
177 SGG).