Vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Unionsbürger
Voraussetzungen eines Leistungsausschlusses
Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche
Gründe
Mit der Beschwerde wendet sich die 39-jährige Antragstellerin rumänischer Staatsangehörigkeit dagegen, dass das Sozialgericht
Berlin mit Beschluss vom 16. September 2021 – bei Stattgabe der entsprechenden Eilrechtsschutzanträge ihres Lebensgefährten,
des 18-jährigen Sohnes des Lebensgefährten und des gemeinsamen 13-jährigen Sohnes (jeweils ebenfalls rumänischer Staatsangehörigkeit)
für die Zeit vom 16. September 2021 bis zum 31. Dezember 2021 – ihren Antrag abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab Antragseingang beim Sozialgericht (30. August 2021) für sechs Monate zu gewähren. Im Beschwerdeverfahren
hat sie ihr Eilrechtsschutzbegehren auf die Zeit ab dem 16. September 2021 beschränkt, ohne einen Endzeitpunkt zu benennen.
Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch
(d.h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) als auch ein Anordnungsgrund (im Sinne
der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen
(§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung <ZPO>). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der
Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung
vornehmen als auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren
nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und
Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren
nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Handelt es sich – wie hier – um Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss
die überragende Bedeutung dieser Leistungen für die Nachsuchenden mit der Folge beachtet werden, dass ihnen im Zweifel die
Leistungen – ggf. vermindert auf das erforderliche Minimum – aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu zuzusprechen
sind (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, u.a. Beschlüsse vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 596/05 – und vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 1094/20 – beide veröffentlicht im Onlineportal „juris“).
Ausgehend von diesen Grundsätzen waren der Antragstellerin unter Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses vorläufig Leistungen
in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zuzusprechen.
Die Voraussetzungen für die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin
nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind aktuell gegeben. Sie ist erwerbsfähig, hat glaubhaft gemacht, hilfebedürftig zu sein, und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland.
Es steht nicht mit hinreichender Gewissheit fest, dass dem Anspruch der Antragstellerin einer der Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegen steht. Dies gilt insbesondere für den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II, wonach von der Leistungsberechtigung diejenigen Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen sind, deren Aufenthaltsrecht sich
allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Vielmehr dürfte die Antragstellerin inzwischen über ein eigenes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1
des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizüG/EU) verfügen. Ausweislich des im Beschwerdeverfahren
vorgelegten unbefristeten Arbeitsvertrages mit der Bau-Blitz-Service GmbH in Berlin geht sie seit dem 18. Oktober 2021 einer
Teilzeitbeschäftigung – die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt aktuell 1,5 Stunden an vier Tagen/Woche – als Reinigungskraft
mit einem Stundenlohn 11,11 € nach. Dazu hat sie eine Lohnabrechnung für den Monat Oktober 2021 vorgelegt, wonach sie in den
nach Arbeitsbeginn am 18. des Monats verbliebenen Oktobertagen insgesamt 10 Stunden gearbeitet und 111,10 € brutto wie netto
verdient hat. Für einen vollen Monat kann sie nach den Maßgaben des Arbeitsvertrages ein Einkommen von etwa 286,- € erwarten
(1,5 Std. an vier Wochentagen ergeben 6 Std./Woche; 6 Std. x 52 Wochen : 12 Monate ergeben 26 Std./Monat; 26 x 11,11 € = 286,86
€). Damit hätte die Erwerbstätigkeit einen Umfang erreicht, der sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht als völlig untergeordnet oder unwesentlich darstellt (vgl. Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 14 AS 23/10 R – juris Rn. 18 und, auch zur erforderlichen Gesamtbewertung der ausgeübten Tätigkeit, Urteil vom 12. September 2018 – B
14 AS 18/17 R – juris Rn. 19 ff.).
Aber auch unabhängig davon kann im Rahmen der Folgenabwägung nicht mit hinreichender Gewissheit festgestellt werden, dass
die Antragstellerin von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Denn es steht insbesondere die schwierige und weiterhin – auch in Anbetracht des vom Sozialgerichts angeführten
Urteils des 34. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 (juris) – umstrittene Frage im Raum, ob der Antragstellerin unter Berücksichtigung der Wertungen des Art.
6 des
Grundgesetzes und des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 14 Satz 1 FreizüG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) als Elternteil eines minderjährigen ledigen Kindes zur Ausübung der Personensorge zusteht, mit dem sie zusammenlebt und
das sich zusammen mit dem Kindesvater und Lebensgefährten der Antragstellerin erlaubt in Deutschland aufhält (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 1094/20 – juris Rn. 15 zu einer vergleichbaren familiären Konstellation und dem Erfordernis, unter diesen Umständen im Rahmen einer
Folgenabwägung zu entscheiden; entsprechend auch bereits Senatsbeschluss vom 7. Oktober 2020 – L 29 AS 1314/20 B ER – m.w.N. <nicht veröffentlicht>). Auch ist in der Rechtsprechung noch nicht hinreichend geklärt, ob in einer vergleichbaren
Konstellation das – erst zum 1. Januar 2021 eingeführte – Aufenthaltsrecht als nahestehende Person eines Unionsbürgers nach
§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 4c FreizügG/EU tatsächlich, wie vom Sozialgericht angenommen, in Anbetracht der erwähnten verfassungsrechtlichen Wertungen unter dem Vorbehalt
steht, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
Zur Bestimmung der der Antragstellerin nach alledem im Rahmen der Folgenabwägung zuzusprechenden existenzsichernden Leistungen
hat der Senat den aktuellen SGB II-Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 2 von monatlich 401,- € zugrunde gelegt und hiervon für den Monat November 2021 den soweit
ersichtlich in diesem Monat zugeflossenen Oktoberlohn von abgerundet 111,- € in Abzug gebracht, so dass sich der für die verbliebenen
Novembertage zugesprochene Betrag von 290,- €/Monat ergab. Für den Monat Dezember 2021 hat der Senat von den 401,- € 250,-
€ in Abzug gebracht, weil er unter den gegebenen Umständen davon ausgeht, dass die Antragstellerin für November 2021 Einkommen
in etwa dieser Höhe erzielen und ihr dieses im Dezember 2021 zufließen wird. Vom Abzug eines Freibetrages bzw. sonst von mit
der Erzielung des Einkommens verbundenen Ausgaben hat der Senat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes abgesehen, zumal
solche Ausgaben nicht konkret erkennbar sind. Einkommen des Lebensgefährten der Antragstellerin hat der Senat deshalb unberücksichtigt
gelassen, weil es bereits bei der insoweit stattgebenden Entscheidung des Sozialgerichts vom 16. September 2021 bzw. bei der
nachfolgenden Leistungsberechnung des Antragsgegners bezüglich der ehemaligen Antragsteller zu 1, 3 und 4 berücksichtigt worden
ist.
Bei den Bedarfen für Unterkunft und Heizung hat der Senat der Antragstellerin 25,- € kalendertäglich zugesprochen, weil die
fortdauernde Unterbringung der Familie im Big C Hl sowie ein Tagessatz in dieser Höhe pro Person für die Unterkunftskosten
inklusive Heizkosten durch die Bescheinigung des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf vom 5. Oktober 2021 nachgewiesen worden sind.
Entsprechende Leistungen pro Peron hat der Antragsgegner auf Grundlage der erstinstanzlichen Entscheidung auch den früheren
Antragstellern zu 1, 3 und 4 bewilligt.
Bei der Bestimmung der Regelungsdauer (bis 31. Dezember 2021) hat sich der Senat zwecks einheitlicher Handhabung an der entsprechenden
zeitlichen Begrenzung des Sozialgerichts bezüglich der dortigen Antragsteller zu 1, 3 und 4 orientiert.
Soweit die Beschwerde der Antragstellerin auf höhere als die einstweilig zugesprochenen Leistungen oder auf die Leistungserbringung
bereits für die Zeit vom 16. September 2021 und damit auf zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats bereits abgelaufene Zeiträume
gerichtet gewesen ist, muss sie erfolglos bleiben. Ansprüche für Zeiten vor der gerichtlichen Entscheidung sind nach der ständigen
Rechtsprechung des Senats grundsätzlich in einem Hauptsacheverfahren zu klären. Aufgabe einstweiligen Rechtsschutzes der vorliegenden
Art ist es, eine akute Notlage zu beseitigen, denn nur dann kann von einem wesentlichen Nachteil gesprochen werden, den es
abzuwenden gilt und bei dem ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten wäre. Nur ausnahmsweise kann eine
Fallgestaltung gegeben sein, in der die sofortige Verfügbarkeit von Geldleistungen für die Vergangenheit zur Abwendung eines
gegenwärtigen drohenden Nachteils erforderlich ist. Ein solcher Nachholbedarf ist hier nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens bzw. das jeweilige Obsiegen und Unterliegen.
Der Antragstellerin war (auch) für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigen
zu bewilligen, da ihre Beschwerde nach den oben stehenden Ausführungen hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte (§
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
114 Abs.
1 Satz 1
ZPO).
Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).