Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde
Nichterreichen des Mindestbeschwerdewerts
Verletzung der Vorlagepflicht an den EuGH durch ein Sozialgericht (vorliegend verneint)
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist nicht begründet und war daher zurückzuweisen.
Das Rechtsmittel der Berufung ist vorliegend gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ausgeschlossen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes den Mindestbeschwerdewert von 750,01 Euro nicht erreicht. Der Kläger,
der seinen Wohnsitz im Vereinigten Königreich hat und beim N H S krankenversichert ist, begehrt die Verurteilung der beklagten
Krankenkasse zur Erstattung von Kosten für im Juni 2018 in der Bundesrepublik Deutschland erbrachte und vom Kläger beglichene
zahnärztliche Leistungen (ausweislich der Rechnung der Drs. K vom 19. Juni 2018 über insgesamt 445,29 € wegen Versorgung eines
Zahnes durch Vollkrone und Provisorium) in Höhe der deutschen Kassensätze und ab dem 20. Dezember 2018 Verzugszinsen in Höhe
von neun Prozentpunkten über dem Basiszinssatz sowie einer Pauschale von 40 €.
Die Berufung ist nicht nach §
144 Abs.
2 SGG zuzulassen. Die in den Nummern 1 bis 3 dieser Vorschrift normierten Zulassungsvoraussetzungen liegen nicht vor.
Der Rechtssache kommt zunächst keine grundsätzliche Bedeutung i.S.v. §
144 Abs.
2 Nr.
1 SGG zu. Sie wirft eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, nicht auf. Ein Individualinteresse
genügt insofern nicht. Aus dem Gegenstand und Inhalt des angefochtenen Urteils lässt sich ein grundsätzlicher Klärungsbedarf
hinsichtlich einer Rechtsfrage nicht ableiten. Auch aus der Beschwerdebegründung des Klägers, der die angefochtene Entscheidung
im Kern für rechtsfehlerhaft hält, weil er – anders als vom Sozialgericht entschieden – einen Anspruch auf die Sachleistung
einer zahnärztlichen und medizinisch notwendigen Behandlung gehabt und nachfolgend auf Kostenerstattung habe, ergibt sich
die Grundsätzlichkeit einer Rechtsfrage nicht. Eine solche nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres
zu beantwortende Rechtsfrage, deren Klärung im allgemeinen Interesse läge, ist hieraus nicht erkennbar (vgl. BSG, Beschluss vom 8. April 2020 – B 13 R 125/19 B – juris Rn. 6 m.w.N). Eine Grundsätzlichkeit folgt auch nicht daraus, dass die Rechtsauffassung des Sozialgerichts, es
liege vorliegend kein Verstoß gegen die Dienstleistungspflicht aus Art. 56 und 57 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV [ex-Artikel 234 EGV]) vor, bisher nach den Darlegungen des Klägers nicht auf höchstrichterliche Rechtsprechung gestützt werden könne. Gemäß
Art. 56 Abs. 1 AEUV sind Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem
anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen verboten.
Art. 57 AEUV regelt, dass Dienstleistungen insbesondere und u.a. freiberufliche Tätigkeiten sind. Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit
kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem
die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen
vorschreibt. Dass der vorliegende Rechtsstreit insofern eine zulassungsrelevante Rechtsfrage aufwerfen könnte, ist nicht ersichtlich
und in der Form, wie die Rechtsfrage vom Kläger mit seiner Beschwerde dargestellt worden ist, mangels Entscheidungserheblichkeit
auch nicht klärungsfähig. Soweit er meint, aus den vorzitierten europarechtlichen Vorschriften folge sein Anspruch auf Zugang
zur Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedsstaat ebenfalls, und zwar unter abweichenden Kostenübernahme- und Kostenerstattungsbedingungen
als vom Sozialgericht erwogen, rügt er hiermit die inhaltliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung, ohne dass insofern
ein allgemeines Interesse erkennbar wird.
Es liegt ferner keine Abweichung von einer Entscheidung eines der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG aufgeführten Gerichte vor. Der hiermit geregelte Zulassungsgrund der Divergenz bedeutet das Vorliegen eines Widerspruchs
im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Voraussetzung
ist, dass ein oder mehrere entscheidungstragende Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil und zu demselben Gegenstand gemachte
und fortbestehende aktuelle abstrakte Aussagen aus einer Entscheidung der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte nach entsprechender Gegenüberstellung nicht miteinander vereinbar sind. Die angefochtene Entscheidung
muss ferner auf der Abweichung beruhen (stRspr., vgl. BSG; Beschluss vom 8. April 2020 – B 13 R 125/19 B – a.a.O. Rn. 10 m.w.N).
Das Sozialgericht hat keinen entscheidungserheblichen abstrakten Rechtssatz aufgestellt, der einem Rechtssatz in einer Entscheidung
der in der Vorschrift genannten Gerichte widersprechen würde. Dies ist auch nicht im Hinblick auf den vom Kläger zitierten
stattgebenden Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 14. Januar 2021 (– 1 BvR 2853/19 – juris) der Fall. Danach ist Art.
101 Abs.
1 Satz 2
Grundgesetz (
GG) u.a. dann verletzt, wenn trotz einer (aus Sicht des Gerichts) entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts es eine Vorlage
überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche
Verkennung der Vorlagepflicht) oder das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des
Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen
von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft). Einen abstrakten Rechtssatz, der diesem entgegenstehenden
würde, hat das Sozialgericht ersichtlich nicht aufgestellt. Eine Abweichung i.S.v. §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG liegt im Übrigen nicht schon dann vor, wenn das Urteil des Sozialgerichts nicht den Kriterien entspräche, die das Bundessozialgericht
oder ein anderes der in §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte aufgestellt haben, oder wenn es Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Einzelfall mangels
im Ergebnis zutreffender Subsumtion nicht oder falsch übernommen hätte. Nicht ausreichend ist es für den Zulassungsgrund der
Divergenz, wenn die fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes geltend
gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge). Denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung
im Grundsätzlichen ermöglicht die Berufungszulassung. Solches ist hier indes nicht der Fall. Die inhaltliche Richtigkeit der
sozialgerichtlichen Entscheidung, die der Kläger mit seiner Beschwerde in Frage stellt, ist im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde
nicht zu prüfen (stRspr., vgl. BSG, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – B 10 EG 1/20 BH – juris Rn. 7, 11 m.w.N.).
Schließlich hat der Kläger mit seiner Beschwerde auch keinen Verfahrensmangel bezeichnet, auf dem die angefochtene Entscheidung
beruhen kann (vgl. §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG). Ein solcher folgt nicht aus einer – aus Sicht des Klägers – verletzten Vorlagepflicht des Sozialgerichts. Ein Verstoß gegen
Art.
101 Abs.
1 Satz 2
GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist nicht gegeben. Die Entscheidung durch das Sozialgericht
in der Sache begründet keinen Verfahrensfehler. Sie ist im Übrigen zutreffend.
Wird eine Frage über die Auslegung der Verträge der Europäischen Union (Art. 267 Satz 1 a AEUV) oder die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (Art. 267 Satz 1 b AEUV) in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mit Rechtsmitteln
des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht gemäß Art 267 Satz 3 AEUV zur Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Union verpflichtet. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist
der Gerichtshof der Europäischen Union gesetzlicher Richter im Sinne des Art.
101 Abs.
1 Satz 2
GG, so dass es einen Entzug des gesetzlichen Richters in diesem Sinne darstellen kann, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht
zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Satz 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2021 – 1 BvR 2853/19 – a.a.O. Rn. 9 m.w.N.).
Ein hierauf gestützter Verfahrensfehler kommt vorliegend jedoch nicht in Betracht. Das Sozialgericht hat nicht als letztinstanzliches
Gericht entschieden. Ein Gericht wird dann nach Art. 267 Satz 3 AEUV als letztinstanzliches Gericht tätig, wenn die getroffene Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen
Rechts angefochten werden kann. Anders als in der vom Kläger zur Begründung der Beschwerde herangezogenen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 2021 (– 1 BvR 2853/19 – a.a.O. Rn. 8) auf der Grundlage der im Zivilprozessrecht geltenden abweichenden Zulassungsregelung (vgl. §
511 Abs.
2 Nr.
1 Zivilprozessordnung) wird ein Gericht nicht letztinstanzlich tätig, wenn die Nichtzulassungsbeschwerde, wie hier, an eine höhere gerichtliche
Instanz eröffnet ist. Denn diese gehört zu den Rechtsmitteln im Sinne des Art. 267 Satz 3 AEUV, weil der Qualifikation als Rechtsmittel nicht entgegen steht, dass die Einlegung an eine Zulassung durch das höherinstanzliche
Gericht gebunden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002 – C-99/00 – „Lyckeskog“ juris Rn. 16; BSG; Beschluss vom 8. April 2020 – B 13 R 125/19 B – a.a.O. Rn. 18 m.w.N.).
Die Nichtvorlage durch das Sozialgericht begründet auch keinen Verfahrensfehler aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 267 Satz 2 AEUV, wonach ein Gericht eines Mitgliedstaates berechtigt ist („kann“), eine gemeinschaftsrechtliche Frage dem Gerichtshof der
Europäischen Union vorzulegen, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Insofern
steht ein Vorlagebeschluss in seinem pflichtgemäßen Ermessen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 1992 – 5 B 72/92 – juris Rn. 3). Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung insofern hat der Kläger weder aufgezeigt noch bestehen hierfür
Anhaltspunkte.
Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art.
101 Abs.
1 Satz 2
GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kommt es nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen
Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen
der Vorlagepflicht. In verfassungswidriger Weise wird die Vorlagepflicht zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften
im Sinne einer grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht u.a. gehandhabt, wenn, ein, wie ausgeführt, letztinstanzlich
entscheidendes nationales Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit
der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung
der Frage hat (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 11 f. m.w.N.). Dies gilt auch, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen)
Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht und es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Es verkennt
dann regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. So liegt es vorliegend indes nicht.
Der Kläger hat bereits nicht dargetan, welche Frage über die Auslegung bzw. die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Norm sich
ausgehend von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts konkret gestellt hätte. Letztlich trägt er pauschal vor, dass eine Vorlage
an den Gerichtshof der Europäischen Union hätte erfolgen müssen, welches den Darlegungsanforderungen nicht genügt. Das Sozialgericht
hat dagegen ausgeführt, dass selbst im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen von Art. 19 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG)
Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 i.V.m. Art. 25 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EG)
Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung
der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Erbringung von – unterstellt:
sich als medizinisch notwendig erweisenden – (Gesundheits-)Sachleistungen, mithin im günstigsten Fall, ein Anspruch des Klägers
nach dem dann anzuwendenden Leistungssystem des zuständigen Trägers des Aufenthaltsorts nicht bestände. Denn aus dem insofern
anzuwendenden Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – (
SGB V) ergäbe sich der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht. Die aus §
27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§
55 Abs.
1 Satz 1,
87 Abs.
1a SGB V folgenden Voraussetzungen für eine Versorgung des Klägers mit Zahnersatz während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik
Deutschland lägen nicht vor.
Das Vorbringen des Klägers, das Sozialgericht habe eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union aufgrund unrichtiger
Rechtsanwendung nicht erwogen, ist insofern nicht ausreichend. Wie ausgeführt, ist eine aus Sicht des Betroffenen fehlerhafte
Rechtsanwendung nicht Gegenstand des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens. Dieser wird vor einer solchen auch nicht durch das
– vom Kläger bereits nicht gerügte – Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör geschützt (vgl. §
62 SGG, Art.
103 Abs.
1 GG; BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 6. Mai 2010 – 1 BvR 96/10 – juris Rn. 28).
Schließlich ist eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union auch aus den vorstehenden Gründen auf der
Grundlage von Art. 267 AEUV nicht gegeben. Die verfahrensrechtliche Entscheidung des Sozialgerichts ohne Vorlagebeschluss in der Sache war zutreffend,
weil, wie ausgeführt, eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts nicht zu klären war.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG des für den Kläger kostenfreien Verfahrens (vgl. §
183 SGG).
Mangels Erfolgsaussicht war die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren abzulehnen (vgl.
§
73a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
114 Abs.
1 Satz 1
ZPO). Insofern kann dahinstehen, ob für den im Vereinigten Königreich lebenden Kläger, das kein Mitgliedsstaat der Europäischen
Union mehr ist, noch die Bewilligung grenzüberschreitender Prozesskostenhilfe in Betracht käme (vgl. §
114 Abs.
1 Satz 2 i.V.m. §§
1076 bis
1078 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).