Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren, grundsätzliche Bedeutung der bedarfsmindernden Berücksichtigung
von Sonn- und Feiertagszuschlägen als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II
Gründe:
Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (im Folgenden: Kläger) gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid
des Sozialgerichts Leipzig (SG) vom 5. Juni 2009 ist nach §
145 Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) i.V.m. §
105 Abs.
2 Satz 1
SGG statthaft (vgl. z.B. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Auflage 2009, § 105 Rn 16 m.w.N. zum Streitstand und
§ 145 Rn 3c).
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist innerhalb der Frist des §
145 Abs.
1 Satz 2
SGG eingelegt worden. Des Weiteren ist die Berufung der Kläger nicht schon nach §
143 SGG statthaft. Denn die Kläger begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für August 2008 bis Januar 2009 ohne die
bedarfsmindernde Berücksichtigung von Sonn- und Feiertagszuschlägen in Höhe von insgesamt 285,- EUR, die der Klägerin zu 2.
von Januar bis Juni 2008 in Höhe von 30,- EUR bis zu 60,- EUR monatlich gezahlt wurden und von der Beklagten und Beschwerdegegnerin
(im Folgenden: Beklagten) bei der vorläufigen Bewilligung auf der Grundlage eines monatlichen Durchschnittskommens als Einkommen
berücksichtigt wurden. Somit übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes nicht 750,- EUR und bedarf die Berufung der Zulassung
nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG (in der ab dem 1. April 2008 geltenden Fassung). Die Voraussetzungen der Ausnahme hiervon nach §
144 Abs.
1 Satz 2
SGG sind nicht gegeben. Schließlich sind die Kläger beschwert, obwohl die Bewilligung der o.g. Leistungen nur vorläufig erfolgte
(vgl. hierzu z.B. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 21. Juli 2009 - B 7 AL 49/07 R, Rn 17).
Die Beschwerde ist begründet.
Nach §
144 Abs.
2 SGG ist die Berufung u.a. zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1) oder das Urteil von einer Entscheidung
u.a. des (nicht: eines) Landessozialgerichts (LSG) oder des BSG abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
Zwar wird in der Begründung der Beschwerde weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt noch eine Entscheidung
des Sächsischen Landessozialgerichts (Sächs. LSG) als Berufungsgericht benannt (vgl. §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG und hierzu z.B. Leitherer, aaO., § 144 Rn 30), von der das SG abgewichen sei. Jedoch schadet der Verstoß gegen die Begründungsobliegenheit nach §
145 Abs.
2 SGG hier, anders als z.B. bei §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG und §
160a Abs.
2 SGG, nicht. Des Weiteren waren zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. hierzu z.B. Leitherer, aaO., § 145 Rn 7b) Gründe
für die Zulassung der Berufung gegeben.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einem Rechtsstreit zu, wenn er eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft,
die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit
an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt oder anders ausgedrückt, wenn es maßgebend auf eine konkrete,
über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts
geboten erscheint (vgl. z.B. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschlüsse vom 4. November 2008 - 1 BvR 2587/06, Rn 19 zu §
522 Abs.
2 Satz 1 Nr.
2 Zivilprozessordnung und vom 21. Januar 2009 - 1 BvR 2524/06, Rn 45 zu §
124 Abs.
2 Nr.
3 Verwaltungsgerichtsordnung sowie BSG, Beschlüsse vom 30. Juli 2009 - B 1 KR 22/09 B, Rn 4 und vom 16. September 2009 - B 9 VS 6/09 B, Rn 3 - jeweils zu §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).
Die hier streitige Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Denn die Rechtsfrage, ob Sonn- und Feiertagszuschläge als Einkommen
im Sinne des § 11 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bedarfsmindernd zu berücksichtigen sind, ist bestimmt genug,
(abstrakt) klärungsbedürftig, (konkret) klärungsfähig und hat eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (ebenso z.B.
LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Juli 2009 - L 7 B 157/09 AS NZB, Rn 6 und Sächs. LSG, Urteile vom 29. Oktober 2009 - L 2 AS 99/08, Rn 155 - Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 90/09 R anhängig -, L 2 AS 100/08, Rn 155 - Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 89/09 R anhängig - und L 2 AS 101/08, Rn 155 - Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 91/09 R anhängig -).
Weiterhin weicht der Gerichtsbescheid des SG von den vorgenannten drei Entscheidungen des 2. Senats des Sächs. LSG vom 29. Oktober 2009 ab. Denn der 2. Senat des Sächs.
LSG hat darin - ohne seinen vom SG zitierten, nicht veröffentlichten und insoweit Zweifel äußernden Beschluss vom 10. Dezember 2007 - L 2 B 442/07 AS-ER, Seite 9f, zu erwähnen - (jeweils Rn 150) ausgeführt: "Der Senat geht übereinstimmend mit dem SG Dresden davon aus,
dass bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens die an den Kläger zu 1. gezahlten Nachtarbeits- sowie Sonn- und Feiertagszuschläge
nicht zum einzusetzenden Nettoeinkommen zählen. Da weder der Arbeitsvertrag noch der Tarifvertrag Bestimmungen und Ausführungen
zu dem Grund der Zuschläge enthält, geht der Senat davon aus, dass Hintergrund der Vereinbarung die steuerlichen Regelungen
sind. Zuschläge für Nachtarbeit sowie Sonn- und Feiertagszuschläge sind gemäß §
3b Abs.
1 EStG (begrenzt) steuerlich privilegierte Aufwandsentschädigungen und daher zweckbestimmte Einnahmen i.S.d. §
11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II. Sie sind insbesondere dazu bestimmt, einen zu diesen Zeiten entstehenden Verpflegungsmehraufwand abzudecken.
Zwar ist der Beklagten darin Recht zu geben, dass Leistungen für Verpflegung grundsätzlich in der Regelleistung enthalten
und durch diese abgedeckt sind (vgl. auch Hasske in: Estelmann, SGB II, Stand November 2007, § 11 Randnr. 49). Wie jedoch
insbesondere § 21 SGB II zeigt, gilt diese Regel jedoch nur für den Grundbedarf (gesunde Vollkost); sie gilt jedoch gerade
nicht für beschäftigungsbedingte Mehrbedarfe bzw. einen beschäftigungsbedingten Mehraufwand für besondere Verpflegung zu bestimmten
Zeiten. Nachtarbeit beansprucht den Menschen stärker als Arbeit, die am Tage geleistet wird; sie erfordert deshalb zusätzliche
Mahlzeiten und insoweit besondere Aufwendungen; auch die Zuschläge für Arbeit an Sonn- und Feiertagen haben diesen Aufwandsentschädigungscharakter,
d. h. sie sind zweckbestimmt im Sinne der Vorschrift (so auch Thüringer LSG, Beschluss vom 08.03.2005 - L 7 AS 112/05 ER - zitiert nach Juris m.w.N., SG Chemnitz, Urteil vom 22.06.2008 - S 22 AS 4269/07 -, zitiert nach Juris, SG Lüneburg, Urteil vom 25.10.2007 - S 28 AS 1055/07 - veröffentlicht in Sozialgerichtsbarkeit; Brühl in: Münder (Hrsg.), Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II, 3. Aufl., § 11
Randnr. 68). Denn zweckbestimmt i. S. d. § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II ist eine Leistung bereits dann, wenn ihr eine bestimmte,
vom Gesetzgeber erkennbar gebilligte Zweckrichtung zu eigen ist, die nicht in der Bestreitung des Lebensunterhaltes besteht,
so dass sie verfehlt würde, wenn der Empfänger sie über den Weg der Einkommensanrechnung hierzu verwenden müsste und dadurch
gehindert wäre, sie ihrer eigentlichen Bestimmung zufließen zu lassen (Thüringer LSG, Beschluss vom 08.03.2005 aaO.). Die
(begrenzte) steuerrechtliche Privilegierung der Sonn- und Feiertagszuschläge durch §
3b Abs.
1 EStG offenbart eine vom Gesetzgeber gebilligte Zweckrichtung. Die genannten Zuschläge dienen also einem anderen Zweck als die
Regelleistungen nach dem SGB II und könnten daher nicht als Einkommen i.S.d. § 11 SGB II angerechnet werden."
Schließlich ist das SG von den Vorlagebeschlüssen des BSG vom 27. Februar 2009 - B 14/11b AS 9/07 R und B 14 AS 5/08 R (beim BVerfG unter den Aktenzeichen 1 BvR 3/09 und 1 BvR 4/09 anhängig, Verkündung der Entscheidung für den 9. Februar 2010 angekündigt) abgewichen. Denn es hat - trotz des Ablaufes der
vom BSG postulierten Übergangsfrist (vgl. Urteil vom BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R, Rn 11), der ausschließlichen Klageerhebung durch den Kläger zu 1., vertreten durch seine Bevollmächtigte als Fachanwältin
für Sozialrecht, und deren mangelnden Reaktion auf die gerichtliche Nachfrage vom 4. November 2008 nach evtl. weiteren, klagenden
Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft - u.a. die 1993 und 1998 geborenen Kläger zu 3. und 4. als weitere Beteiligte des Klageverfahrens
von Amts wegen aufgenommen. Danach hat das SG auch über die Leistungsansprüche der Kläger zu 2. und 3. entschieden, obwohl das BSG die hierfür - zumindest für den Kläger
zu 3. - entscheidungserhebliche Rechtsnorm (§ 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II) für verfassungswidrig hält. Eine Begrenzung des
Streitgegen-standes auf einzelne Berechnungselemente der von den Klägern geltend gemachten Ansprüche auf höhere Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts scheidet nach allgemeiner Auffassung aus. Ebenso sind keine tatsächlichen Anhaltspunkte
für "unstreitig gestellte" Teilelemente der geltend gemachten Ansprüche (vgl. hierzu z.B. BSG, Urteile vom 7. November 2006
- B 7b AS 8/06 R, Rn 22, und 8. Juli 2009 - B 11 AL 20/08 R, Rn 17) erkennbar.
Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch die Kläger bedarf es nicht
(§
145 Abs.
5 Satz 1
SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten (vgl. z.B. Leitherer, aaO., § 145 Rn 10).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).