Zulässigkeit des Widerrufs und der Anfechtung einer Rücknahmeerklärung im sozialgerichtlichen Verfahren
Erforderlichkeit eines Wiederaufnahmegrundes
Tatbestand
Streitig ist, ob der Rechtsstreit S 44 AL 376/17 durch die Klagerücknahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 19. August 2020 erledigt ist. In der Sache ist streitig,
ob die Beklagte zu Recht den Eintritt einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe für die Zeit vom 1. Juli 2017 bis 22. Juli 2017 festgestellt
und die Anspruchsdauer für die Gewährung des Arbeitslosengeldes (Alg) gemindert hat.
Der 1974 geborene Kläger war zuletzt bis 30. Juni 2017 bei der Firma M. GmbH als Servicekraft tätig. Das Beschäftigungsverhältnis
endete aufgrund der Kündigung des Klägers vom 19. Mai 2017 zum 30. Juni 2017. Auf den Antrag des Klägers auf Alg bewilligte
die Beklagte dieses dem Kläger mit Bescheid vom 20. Juli 2017 ab dem 1. Juli 2017 unter Berücksichtigung einer Sperrzeit bei
Arbeitsaufgabe für die Zeit vom 1. Juli 2017 bis 22. September 2017. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid
vom 26. Juli 2017).
Die hiergegen zum Aktenzeichen S 44 AL 376/17 eingereichte Klage nahm der Kläger ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 19. August 2020 auf Empfehlung der Vorsitzenden
zurück. Mit Schreiben vom 22. September 2020, bei Gericht eingegangen am 24. September 2020, erklärte der Kläger die Anfechtung
der Rücknahmeerklärung und beantragte eine Fortsetzung des Rechtsstreits. Zur Begründung führte er aus, die Vorsitzende habe
die Stellungnahme seines ehemaligen Arbeitgebers für sehr überzeugend gehalten, aber seine Meinung uninteressant gefunden.
Er sei nicht ernst genommen worden. Darin sehe er keine faire und neutrale Verhandlung. Den Hinweis, er habe sich statt einer
Kündigung eine Anschlussarbeitsstelle suchen müssen, sehe er als weit von der Realität entfernt an.
Mit Gerichtsbescheid vom 9. Juni 2021, dem Kläger zugestellt am 12. Juni 2021, hat das Sozialgericht festgestellt, der Rechtsstreit
S 44 AL 376/17 sei durch Klagrücknahme erledigt. Zur Begründung ist ausgeführt, Anhaltspunkte dafür, dass die Klagrücknahmeerklärung aus
prozessrechtlichen Gründen unwirksam sein könnte, lägen nicht vor. Die Formvorschriften der gemäß §
122 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) entsprechend geltenden §§
159 – 165 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) seien eingehalten worden. Insbesondere sei laut Protokoll die Erklärung der Klagerücknahme dem Kläger vorgespielt und von
diesem genehmigt worden (§
162 Abs.
1 Sätze 1 und 3
ZPO). Das Protokoll beweise gemäß §
165 ZPO die Beachtung der Formvorschriften und erbringe als öffentliche Urkunde nach §
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
415 ZPO den vollen Beweis über die Abgabe der Erklärung. Der zulässige Beweis der Unrichtigkeit sei weder behauptet noch geführt
worden.
Die Klagerücknahme könne als Prozesshandlung grundsätzlich nicht angefochten werden; ein Widerruf sei nur unter engen, im
Einzelnen in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich angenommenen Voraussetzungen, in extremen Ausnahmefällen möglich,
z.B. wenn Restitutionsgründe i.S.d. §
580 ZPO vorlägen oder wenn der Grundsatz von Treu und Glauben das Festhalten an der Prozesshandlung verbiete. Diese Voraussetzungen
seien ersichtlich nicht gegeben. Anhaltspunkte dafür ergäben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers, seine Einwendungen
seien nicht hinreichend berücksichtigt worden. Die Vertretung einer anderen Rechtsauffassung begründe nicht das Vorliegen
von Restitutionsgründen oder einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.
Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid am 30. Juni 2021 Berufung eingelegt, mit welcher er vorträgt, es sei vieles unübersichtlich.
Seiner Erfahrung nach werde die Klage abgewiesen, wenn er die Empfehlung, die zurückzunehmen, nicht akzeptiere. Bei der zunächst
erklärten Rücknahme sei er noch gutgläubig gewesen, nachdem ihm aber in einer weiteren Angelegenheit ebenfalls eine Rücknahme
nahegelegt worden sei, habe er das Gefühl bekommen, diese Richterin könne keine faire und gründliche Sitzung durchführen.
Dass er diese Erklärung nicht zurücknehmen könne, sei nicht nachvollziehbar. Ein Geständnis könne man doch auch widerrufen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Juni 2021 aufzuheben und festzustellen, dass das Verfahren S 44 AL 376/17 nicht durch Klagrücknahme beendet ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 6. April 2022 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers, über die die Berichterstatterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern an Stelle des Senats entscheiden
konnte (§
153 Abs.
5 SGG), ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die am 19. August 2020 in der mündlichen
Verhandlung zur Niederschrift des Gerichts erklärte Rücknahme der Klage den Rechtsstreit S 44 AL 376/17 beendet hat.
Entsteht - wie vorliegend - Streit über die Erledigung und wird die Fortsetzung des Verfahrens beantragt, so ist hierüber
durch Urteil zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 26.07.1989 - 11 RAr 31/88, Juris). Es ergeht dann entweder eine Sachentscheidung oder der Ausspruch, dass der Rechtsstreit beendet ist.
Gemäß §
102 Abs.
1 SGG kann die Klage bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden. Dies ist Ausfluss der auch im sozialgerichtlichen
Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Die Rücknahme stellt eine Prozesshandlung dar und ist gegenüber dem Sozialgericht
zu erklären. Vorliegend wurde das Verfahren durch die Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 19. August 2020
ausweislich der Sitzungsniederschrift beendet; der Inhalt der Erklärung steht auch nicht im Streit.
Der Kläger kann die Klagerücknahme auch im Übrigen nicht wirksam anfechten oder widerrufen, denn Widerruf und Anfechtung der
Rücknahmeerklärung sind grundsätzlich unzulässig (vgl. BSG, Beschluss vom 29.09.2017 - B 13 R 251/14 B, Juris, m.w.N.). Einlegung und Rücknahme einer Klage sind gestaltende Prozesshandlungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen
und Formerfordernisse dem Prozessrecht und nicht dem materiellen Recht unterliegen. Derartige prozessgestaltende Erklärungen
binden das Gericht und die Beteiligten. Denn das Prozessrecht will die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen
und lässt deshalb einen Widerruf oder eine Anfechtung derartiger Prozesserklärungen lediglich in Ausnahmefällen zu. Eine solche
Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gem. §
179 SGG i.V.m. §§
579,
580 ZPO vorliegen (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.1980 - 9 RV 16/79, Juris). Hierfür fehlen vorliegend jegliche Anhaltspunkte. Der in der mündlichen Verhandlung geäußerte Hinweis des Klägers
auf den Widerruf eines Geständnisses im Strafverfahren geht fehl. Der Strafprozess folgt gänzlich anderen Regeln als das sozialgerichtliche
Verfahren und der Angeklagte hat es im Übrigen auch keineswegs in der Hand, ein einmal eingeleitetes Strafverfahren durch
Widerruf eines Geständnisses zu beendigen.
Ist nach alledem die Klage durch den Kläger am 19. August 2020 wirksam zurückgenommen worden, so bewirkt diese Zurücknahme
nach §
102 Abs.
1 Satz 2
SGG die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache. Der Bescheid vom 20. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 26. Juli 2017 ist deshalb mit der Rücknahmeerklärung für die Beteiligten bindend geworden (§
77 SGG). Dem Senat ist aus diesem Grund nach der Klagerücknahme jede weitere Auseinandersetzung mit dem von dem Kläger ursprünglich
geltend gemachten Begehren verwehrt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.