Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Keine Abzweigung von Leistungen bei Verletzung der Unterhaltspflicht
1. Beim Vorliegen eines vollstreckbaren Unterhaltstitels sind die Vorschriften des Vollstreckungsverfahrens maßgebend; denn
bei feststehenden Unterhaltsforderungen ist die Entscheidung über die Abzweigung vollstreckungsähnlicher Natur.
2. Danach ist dem Schuldner das für seinen Unterhalt Notwendige zu belassen.
3. Als notwendigen Unterhalt hat der Bundesgerichtshof für den Regelfall das angesehen, was nach dem zweiten und vierten Abschnitt
des BSHG an Sozialhilfeleistungen zu zahlen war.
4. Eine Abzweigung vom Alg II kommt nicht - auch nicht in Höhe des Freibetrages - in Betracht.
5. Dem Schuldner ist im Vollstreckungsverfahren das bewilligte Alg II als soziokulturelles Existenzminimum zu belassen.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juni 2013 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 500 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt eine Abzweigung von dem dem Beigeladenen in den Monaten August 2010 bis Mai 2011 bewilligten Arbeitslosengeldes
(Alg) II.
Der am 12. Juni 1978 geborene Beigeladene ist der Vater der am 20. April 2005 geborenen Klägerin und dieser gegenüber aufgrund
des Unterhaltsfestsetzungsbeschlusses des Amtsgerichts - Familiengerichts - Hannover vom 4. April 2007 verpflichtet, für die
Zeit ab 1. April 2007 monatlich 50 EUR Unterhalt zu zahlen. Darüber hinaus bestehen Unterhaltsverpflichtungen in dieser Höhe
gegenüber weiteren Kindern.
Der Beigeladene bezieht seit dem Jahr 2005 vom Beklagten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung
für Arbeitsuchende -. Mit Bescheid vom 28. Januar 2010 bewilligte dieser für die Zeit vom 1. März bis 31. August 2010 Alg
II in Höhe von insgesamt 674,13 EUR. Im Monat Juli 2010 beantragte der Fachbereich Jugend und Familie der Landeshauptstadt
Hannover als gesetzlicher Vertreter der Klägerin, von den laufenden Leistungen des Beigeladenen einen angemessenen Teil für
diese abzuzweigen, weil der Beigeladene keinen Unterhalt zahle. Bereits im Jahr 2005 hatte die Mutter der Klägerin eine Beistandschaft
des Fachbereichs zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen beantragt. Der Fachbereich beanspruchte für den Fall, dass der
Beigeladene sowohl Leistungen nach dem SGB II als auch Erwerbseinkommen beziehe, die Differenz zwischen dem zu belassenen Existenzminimum iS des §
850d Abs
1 Zivilprozessordnung (
ZPO) und dem gesamten Einkommen bestehend aus den SGB II-Leistungen und dem Arbeitseinkommen. Zum 1. August 2010 nahm der Beigeladene eine versicherungspflichtige Tätigkeit als Küchenhilfe
zu einem Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 700 EUR monatlich, zahlbar zum 15. des Folgemonats, auf. Mit Bescheiden vom 11.
August und 5. November 2010 bewilligte der Beklagte dem Beigeladenen für die Zeit vom 1. September bis 30. November 2010 und
vom 1. Dezember 2010 bis 31. Mai 2011 Leistungen (für Unterkunft und Heizung) in Höhe von 289 EUR. Er legte ein Nettoerwerbseinkommen
in Höhe von 580 EUR zugrunde und berücksichtigte einen Freibetrag in Höhe von insgesamt 220 EUR. Mit Bescheiden vom 3. März
2011 erhöhte der Beklagte die Leistungen für die Monate September bis Dezember 2010 unter Berücksichtigung des tatsächlichen
Nettoerwerbseinkommens in Höhe von monatlich 566,29 EUR auf monatlich 302,71 EUR. Für die Monate April und Mai 2011 minderte
er wegen Verletzung von Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung die Leistung auf 181,30 EUR. In den Monaten November
und Dezember 2010 zahlte der Beigeladene an den Fachbereich jeweils 100 EUR Unterhalt (Mitteilung vom 28. Dezember 2010).
Den Antrag auf Abzweigung lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31. Januar 2011 ab, weil kein Zuschlag nach § 24 SGB II gezahlt werde und weil die aufgrund der Erwerbstätigkeit gewährten Freibeträge zur Deckung von Kosten, die im Zusammenhang
mit dieser stünden, gewährt würden. Dagegen erhob der Fachbereich Widerspruch mit der Begründung, nach neuester höchstrichterlicher
Rechtsprechung komme es darauf an, dass dem Schuldner das Existenzminimum verbleibe, das sich üblicherweise aus der Regelleistung
und den Kosten der Unterkunft zusammensetze. Deshalb sei eine Abzweigung vorzunehmen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2011 zurück: Soweit die Abzweigung der Freibeträge geltend gemacht werde, seien bereits
die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - nicht erfüllt. Danach
könnten an Kinder des Leistungsberechtigten nur laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhaltes zu dienen
bestimmt seien, in angemessener Höhe ausgezahlt werden. Bei den im Rahmen der Bedarfsberechnung berücksichtigten Freibeträgen
handele es sich jedoch gerade nicht um laufende Geldleistungen. Um laufende Geldleistungen handele es sich lediglich bei dem
Alg II-Anspruch nach § 19 SGB II sowie dem (früheren) Anspruch auf den befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Alg in § 24 SGB II aF. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Abzweigung nach §
48 SGB I gewährleiste das Alg II das soziokulturelle Existenzminimum, das dem Zugriff im Wege der Vollstreckung entzogen sei.
Dagegen richtet sich die am 8. August 2011 vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhobene Klage, mit der die Klägerin, vertreten durch den Fachbereich, die Verpflichtung des Beklagten auf Neubescheidung
des Antrags auf Abzweigung für die Zeit vom 1. August 2010 bis 31. Mai 2011 begehrt hat. Sie hat vorgetragen, einen Anspruch
auf Abzweigung des Betrages, der über die Pfändungsfreigrenze nach §
850d ZPO hinausgehe, zu haben. Diese beliefe sich auf die Regelleistung und die Kosten der Unterkunft. Der Beigeladene habe jedoch
neben den SGB II-Leistungen noch Arbeitsverdienst erhalten. Deshalb seien Abzweigungen in Titelhöhe von monatlich 50 EUR möglich gewesen.
Das SG hat den Vater der Klägerin zum Verfahren beigeladen (Beschluss vom 20. Januar 2012) und durch Urteil vom 27. Juni 2013 die
angefochtene Entscheidung aufgehoben sowie den Beklagten verpflichtet, über den Antrag auf Abzweigung neu zu entscheiden.
Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Beklagte habe nicht beachtet, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II grundsätzlich in Höhe des gewährten Erwerbstätigenfreibetrages nach § 11b Abs 3 SGB II abgezweigt werden könnten. Denn in dieser Höhe fielen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht unter den Selbstbehalt iS des §
850d ZPO, der hier maßgeblich sei. Für die Bestimmung des Selbstbehalts sei entscheidend, dass dem Hilfebedürftigen das Existenzminimum
verbleibe. Bei der Ermittlung des Existenzminimums seien die Kosten zu berücksichtigen, die einem Erwerbstätigen tatsächlich
entstünden und die mit dem Grundfreibetrag nach § 11b Abs 2 Satz 1 SGB II pauschal berücksichtigt würden. Demgegenüber sei der Erwerbstätigenfreibetrag nicht zu berücksichtigen. Er habe eine Anreizfunktion,
nicht aber eine existenzsichernde Funktion. Unerheblich sei, dass es sich nicht um einen Zuschlag wie bei dem früheren befristeten
Zuschlag nach dem Bezug von Alg nach § 24 SGB II aF handele. Maßgeblich sei allein, dass der Beigeladene in Höhe dieses Freibetrages Leistungen über dem Existenzminimum erhalte.
Gegen das ihm am 6. September 2013 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 2. Oktober 2013 eingelegten - und
vom SG zugelassenen - Berufung, mit der er an seiner Auffassung festhält, dass eine Abzweigung nicht - auch nicht in Höhe des Freibetrages
- möglich sei.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Hannover vom 27. Juni 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover
vom 27. Juni 2013 zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Dem Senat haben neben den Prozessakten die Leistungsakten des Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die - kraft Zulassung durch das SG - statthafte Berufung des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und somit insgesamt zulässig. Sie hat auch in der
Sache Erfolg. Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 31. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.
Juli 2011, mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, an die Klägerin einen Teil der dem Beigeladenen bewilligten Leistungen nach
dem SGB II auszuzahlen.
Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§
54 Abs
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) ist zulässigerweise vom Fachbereich Jugend und Familie der Landeshauptstadt Hannover als Beistand der Klägerin erhoben
worden (§
55 SGB Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - iVm §
1712 Abs
1 Nr
2 Bürgerliches Gesetzbuch, vgl BSG SozR 4-3100 § 60 Nr 5). Sie ist jedoch nicht begründet. Denn der Beklagte hat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens zu Recht den Antrag auf
Abzweigung abgelehnt.
Nach §
48 Abs
1 Satz 1
SGB I können laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts zu dienen bestimmt sind, in angemessener Höhe ua an
Kinder des Leistungsberechtigten ausgezahlt werden, wenn dieser ihnen gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht
nachkommt. Das ist hier der Fall. Da ein Unterhaltstitel zu Gunsten der Klägerin vorliegt, steht die Unterhaltspflicht und
somit auch die Leistungsfähigkeit des Beigeladenen fest. Bei dem dem Beigeladenen gewährten Alg II handelt es sich um eine
laufende Geldleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen entgegen der Auffassung
des Beklagten insgesamt erfüllt sind. Somit ist das Begehren der Klägerin auf Auszahlung eines Teils des Alg II, dh in Höhe
eines Teils der Freibeträge somit grundsätzlich zulässig. Denn eine Abzweigung "in angemessener Höhe" schließt immer die Möglichkeit
ein, nur Teile einer Leistung zu erfassen (BSGE 104, 65 Rn 23 zur Möglichkeit einer Abzweigung in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen erhöhtem und allgemeinem Leistungssatz bei
Beziehern von Arbeitslosenhilfe). Die Frage der "angemessenen Höhe" ist im Rahmen der Ermessenausübung durch den Beklagten
zu beantworten. Entgegen der Auffassung des SG hat dieser jedenfalls mit dem Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2011 eine rechtmäßige Ermessensentscheidung getroffen, wenn
er den Antrag auf Abzweigung auch mit der Begründung ablehnt, das Alg II gewährleiste das soziokulturelle Existenzminimum
und sei deshalb dem Zugriff im Wege der Vollstreckung entzogen (im Ergebnis ebenso: SG Hannover FamRZ 2015, 610 und SG Trier FamRZ 2014, 1154).
Beim Vorliegen eines vollstreckbaren Unterhaltstitels sind die Vorschriften des Vollstreckungsverfahrens maßgebend. Denn bei
feststehenden Unterhaltsforderungen ist die Entscheidung über die Abzweigung vollstreckungsähnlicher Natur. Danach ist dem
Schuldner das für seinen Unterhalt Notwendige zu belassen. Als notwendigen Unterhalt hat der Bundesgerichtshof (BGH) für den
Regelfall das angesehen, was nach dem zweiten und vierten Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) an Sozialhilfeleistungen zu zahlen war. Nach Inkrafttreten des SGB Zwölftes Buch - Sozialhilfe - und des SGB II sind zur Berechnung des notwendigen Bedarfs bei Erwerbsfähigen die Regelungen der §§ 19 ff SGB II heranzuziehen (BSG SozR 4-1200 § 48 Rn 17 f mwN). Danach ist nicht zweifelhaft, dass dem Beigeladenen die Regelleistung nach § 20 SGB II und die angemessenen Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II als notwendiger Unterhalt zu belassen sind. Denn das Alg II gewährleistet das soziokulturelle Existenzminimum, das dem Zugriff
im Wege der Vollstreckung entzogen ist (aaO. Rn 19). Entgegen der Auffassung des SG und der Klägerin kommt auch nicht die Abzweigung eines Teils der bewilligten Leistung - in Höhe des berücksichtigten Freibetrages
wegen Erzielung von Einkommen aus Erwerbstätigkeit (§ 11b Abs 3 SGB II) - in Betracht.
Schon unter Geltung des BSHG war höchstrichterlich anerkannt, dass bei erwerbstätigen Schuldnern ein Betrag als pfändungsfrei zu belassen war, der dem
Absetzungsbetrag gemäß § 76 Abs 2a BSHG entsprach. Danach war vom Einkommen erwerbstätiger Personen über die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen
Ausgaben (§ 76 Abs 2 BSHG) hinaus ein Betrag in angemessener Höhe, ein "Besserstellungszuschlag" abzusetzen. Schon mit dieser Regelung verfolgte der
Gesetzgeber den Zweck, die Teilnahme der Hilfebedürftigen am Erwerbsleben durch finanzielle Vergünstigung zu fördern und damit
die öffentlichen Kassen durch Erzielung eigenen Einkommens zu entlasten (BGH Beschluss vom 12. Dezember 2003 - IXa zB 225/03
- juris Rn 12 mwN). Diese Zielrichtung - darauf hat bereits das SG zutreffend hingewiesen - verfolgt auch der Freibetrag nach § 11b Abs 3 SGB II. Er ist bei der Berechnung des notwendigen Unterhalts zu berücksichtigen. Eine Abzweigung des Alg II kommt nicht - auch nicht
in Höhe des Freibetrages - in Betracht (zB PG/Ahrens 5. Aufl 2013 §
850d ZPO Rn 26). Dem Schuldner ist im Vollstreckungsverfahren das bewilligte Alg II als soziokulturelles Existenzminimum zu belassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 iVm 154 Abs 1
Verwaltungsgerichtsordnung. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1
SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§
160 Abs
2 SGG) liegt nicht vor.