Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung
Berücksichtigung von Funktionsbeeinträchtigungen durch psychische Gesundheitsstörungen
Verwertbarkeit eines Gutachtens trotz teilweiser Anwesenheit der Tochter bei der gutachterlichen Untersuchung
Tatbestand
Die Berufung der Beklagten richtet sich gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 05.11.2018, mit dem dieses die
Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt hat, bei der Klägerin über den 31.10.2016 hinaus bis zum 31.10.2019
volle Erwerbsminderung anzunehmen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die am 00.00.1967 in der Türkei geborene Klägerin lebt seit Dezember 1985 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat keinen
Beruf erlernt und ausschließlich ungelernte Tätigkeiten als Reinigungskraft ausgeführt.
Die Klägerin bezog von der Beklagten Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit insgesamt von Oktober 2011 bis einschließlich
Oktober 2016. Die letzte Weiterbewilligung erfolgte auf der Grundlage eines von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
P eingeholten Gutachtens, erstellt nach Untersuchung am 30.04.2015. Dieser diagnostizierte eine generalisierte Angststörung
eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leicht- bis mittelgradige Episode und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung.
Im Ergebnis hielt dieser Facharzt die Klägerin für nur unter drei Stunden täglich leistungsfähig.
Auf den Weiterbewilligungsantrag hin veranlasste die Beklagte eine Untersuchung der Klägerin durch den Arzt für Nervenheilkunde
Dr. S. Dieser diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin am 31.08.2016
- Chronische depressive Entwicklung in Form einer Dysthymia
- Somatoforme Störungen
- Psychosoziale Belastungsfaktoren
- Histrionische Persönlichkeit.
Hinweise für das Vorliegen einer mittelschweren oder gar schweren Depression fänden sich nicht. Im Vordergrund stünden somatoforme
Störungen, die sich in Form einer inneren Angespanntheit und auch Spannungskopfschmerzen äußerten. Im Vordergrund stünden
die psychosozialen Belastungsfaktoren und das histrionische Verhalten der Klägerin. Die ambulanten therapeutischen Maßnahmen
vor Ort seien bei weitem nicht ausgeschöpft. Entgegen den Ausführungen des Arztes P sei davon auszugehen, dass eine leidensgerechte
Tätigkeit durchaus auch weiterhin vollschichtig möglich sei.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.10.2016 die weitere Bewilligung von Rente wegen
Erwerbsminderung ab 01.11.2016 ab.
Nach Widerspruchseinlegung durch die Klägerin holte die Beklagte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein, des Facharztes
für Allgemeinmedizin Dr. Q vom 22.12.2016 sowie der behandelnden Orthopäden vom 20.02.2017. Diese ließ die Beklagte durch
ihren ärztlichen Dienst auswerten und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.05.2017 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 06.06.2017 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgebracht, in ihrem Gesundheitszustand sei
gegenüber früher sogar eine Verschlechterung eingetreten, ihre Depression habe sich verstärkt. Sie leide unter Antriebslosigkeit
und einem Restless-Legs-Syndrom.
Die Beklagte hat demgegenüber an ihrer bislang vertretenen Auffassung festgehalten.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt, des Hals-Nasen-Ohrenarztes K vom 13.07.2017,
des Facharztes für Chirurgie Dr. L vom 13.07.2017 des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Q vom 13.07.2017, des Facharztes
für Orthopädie Dr. Z vom 19.07.2017, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N vom 18.07.2017 sowie des Facharztes
für Frauenheilkunde und Geburtshilfe J vom 21.08.2017.
Sodann hat das Sozialgericht von dem Arzt für Nervenheilkunde Dr. F ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt.
Dieser diagnostizierte nach Untersuchung der Klägerin unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin für die türkische Sprache am
17.05.2018 eine anhaltende affektive Störung und Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit aus psychischen Gründen vor dem Hintergrund
einer langdauernden, anzunehmend histrionischen Prägung der Persönlichkeitsentwicklung. Es bestünden Beeinträchtigungen im
Sinne einer hysterieform ausgestalteten Versagungshaltung zur Abwehr jeglicher Anforderung, die inzwischen chronifiziert sei.
Der Sachverständige hielt die Klägerin für nicht in der Lage, selbst einfache Anforderungen arbeitstäglich mindestens drei
Stunden zu erfüllen. Die Klägerin könne nicht unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten, da sie aus psychischen Gründen
nicht in der Lage sei, die dazu notwendige Anstrengung aufzubringen.
Mit Urteil vom 05.11.2018 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der
Klägerin über den 31.10.2016 hinaus bis zum 31.10.2019 volle Erwerbsminderung anzunehmen und Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren. Es hat der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt. Die Kammer
sei aufgrund des Gutachtens von Dr. F der Überzeugung, dass die Klägerin außer Stande sei, unter den üblichen Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine unbefristete Gewährung der Rente
komme nicht in Betracht, da nicht unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne. Die
Gesamtdauer der Befristung betrage nicht neun Jahre und es liege kein Dauerzustand vor.
Gegen dieses ihr am 14.11.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 07.12.2018 Berufung eingelegt. Dem Gutachten des Dr.
F könne nicht gefolgt werden. Obwohl dieser klare Belege für Verzerrungstendenzen im Verhalten der Klägerin wiederholt erkannt
habe, habe er keine weiteren Untersuchungen oder Testungen vorgenommen. Er habe vielmehr alle Eindrücke der Untersuchung mit
der Biographie der Klägerin erklärt, was im Zusammenhang als unbefriedigend und intuitiv erscheinen müsse.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 05.11.2018 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das erstinstanzliche Urteil komme zu einem zutreffenden Ergebnis. Bestandteil ihrer psychischen Erkrankung sei es gerade,
dass sie völlig antriebslos sei. Selbst bei Besuchen bei ihren Prozessbevollmächtigten und, wie von Familienmitgliedern geschildert,
auch innerhalb der Familie verhalte sie sich ständig völlig antriebslos, nehme an gemeinsamen Gesprächen nicht teil und verhalte
sich mehr oder weniger teilnahmslos.
Der Senat hat zu den Fragen seiner Beweisanordnung vom 28.01.2019 von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E.
E. ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten eingeholt. Die Verständigung mit der Klägerin erfolgte in der Muttersprache
der Sachverständigen, welche die türkische Sprache in Wort und Schrift beherrscht. Die Fachärztin E. E. diagnostizierte nach
Untersuchung der Klägerin am 04. sowie am 20.03.2019
- Angst- und depressive Störung, gegenwärtig schwergradig ausgeprägt
- Agoraphobie
- Dissoziative Bewegungsstörung des rechten Armes
- Histrionische Persönlichkeitsakzentuierung.
- Auf anderen Fachgebieten bestehe nach Aktenlage eine arterielle Hypertonie, ein HWS-/LWS-Syndrom, eine chronische Gastritis,
ein Restless-Legs-Syndrom, Schwerhörigkeit und Nikotinabusus.
Aufgrund der Schwere der festgestellten psychischen Gesundheitsstörungen sei die eigenständige Lebensführung, die Bewältigung
der Alltagsanforderungen der Klägerin völlig aufgehoben, so dass sie aus gutachtlicher Sicht auch nicht mehr für fähig gehalten
werde, eine gewinnbringende Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich über drei Stunden zu verrichten. Die Klägerin
könne nicht mehr regelmäßig arbeiten und besitze nicht das Leistungs- und Umstellungsvermögen sowie geistig kognitiven Fähigkeiten
für eine Erwerbstätigkeit. Die Klägerin könne aufgrund der festgestellten Angst- und depressiven Störungen und der daraus
resultierenden Beeinträchtigungen öffentliche Verkehrsmittel zur Hauptverkehrszeit nicht benutzen. Eine Verbesserung des Leistungsvermögens
durch Therapieoptionen scheine unwahrscheinlich. Die Klägerin sei auf unbestimmte Zeit nicht belastbar und nicht leistungsfähig.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Gutachten verwiesen.
Die Beklagte ist dem Gutachten der Fachärztin E. E. nach ihrer schriftsätzlichen Stellungnahme vom 25.09.2019 nicht gefolgt.
Das Gutachten sei aufgrund der Anwesenheit der Tochter nicht verwertbar. Nur ein geringer Teil der gutachterlichen Untersuchung
sei mit der Klägerin alleine erfolgt. Die Beklagte bezieht sich hierzu unter anderem auf W. Schneider, Begutachtung bei psychischen
und psychosomatischen Erkrankungen, 2. Auflage 2016, Seite 49 sowie Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom
22.09.2016 - L 7 R 2329/15 und vom 24.10.2011 - L 11 R 4243/10.
Die Verwaltungsakte der Beklagten hat neben der Prozessakte vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes
wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung des Bescheides vom 04.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 24.05.2017 verurteilt, der Klägerin über den 31.10.2016 hinaus bis zum 31.10.2019 Rente wegen voller Erwerbsminderung
nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren und der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin
auferlegt.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, §
43 Abs
2 S 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (
SGB VI).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegen bei der Klägerin folgende Gesundheitsstörungen vor, die ihr Leistungsvermögen
im Erwerbsleben beeinflussen
- Angst- und depressive Störung, gegenwärtig schwergradig ausgeprägt
- Agoraphobie
- Dissoziative Bewegungsstörung des rechten Armes
-Histrionische Persönlichkeitsakzentuierung - Arterielle Hypertonie
- HWS-/LWS-Syndrom
- Chronische Gastritis
- Restless-Legs-Syndrom
- Schwerhörigkeit
- Nikotinabusus.
Aufgrund der Schwere der festgestellten psychischen Gesundheitsstörungen ist die Klägerin nicht mehr in der Lage, eine gewinnbringende
Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich mindestens drei Stunden zu verrichten. Die Klägerin kann nicht mehr regelmäßig
arbeiten. Sie ist aufgrund der festgestellten Angst- und depressiven Störung kognitiv beeinträchtigt und aufgrund des fehlenden
Durchhaltevermögens sowie einer psychomentalen Minderbelastbarkeit auf unbestimmte Zeit nicht leistungsfähig. Sie ist ferner
aufgrund der letztgenannten Störung und der daraus resultierenden Beeinträchtigungen nicht in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel
zur Hauptverkehrszeit zu benutzen.
Der Senat folgt dieser Leistungseinschätzung der Sachverständigen E. E., die mit der des im erstinstanzlichen Verfahren mit
der Erstellung eines Gutachtens beauftragten Arztes für Nervenheilkunde Dr. F übereinstimmt. Auch dieser hat die Klägerin
für nicht mehr fähig erachtet, selbst einfache Anforderungen arbeitstäglich mindestens drei Stunden zu erfüllen. Sie sei aus
psychischen Gründen nicht dazu in der Lage, die für eine Arbeit unter betriebsüblichen Bedingungen notwendige Anstrengung
aufzubringen. Die Sachverständige E. E. ist nach eingehender Untersuchung der Klägerin, sorgfältiger Anamnese- und Befunderhebung
zu ihrer Beurteilung gelangt. Die Leistungseinschätzung korreliert mit der Exploration, der Anamneseerhebung und Verhaltensbeobachtung
während der Befragung, der festgestellten fehlenden Alltagskompetenz und der Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes der
Klägerin im Längsschnitt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten führt die teilweise Anwesenheit der Tochter der Klägerin bei der gutachterlichen Untersuchung
durch die Sachverständige E. E. nicht zu einer Nichtverwertbarkeit des Gutachtens. Die Entscheidung, die Anwesenheit der die
Klägerin ständig begleitenden Tochter bei einem Teil der Untersuchung zuzulassen, lag im fachlichen Ermessen der Sachverständigen.
In der Literatur wird vertreten, dass der Gutachter letztlich das Bestimmungsrecht über die Gestaltung und den Ablauf der
Untersuchung in der Hand hat (so nachdrücklich W. Hausotter in "Psychiatrische und Psychosomatische Begutachtung für Gerichte,
Sozial- und private Versicherungen", Referenz Verlag 2016, § 113 m.w.N.). Die von der Beklagten zitierten Autoren W. Schneider,
M. Fabra, R. Dohrenbusch in "Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen" sind der Meinung, dass die Anwesenheit
insbesondere involvierter Dritter (Angehörige, Freunde) im gutachtlichen diagnostischen Interview den psychischen Querschnittsbefund
verfälschen könnten und somit Ausnahmefällen vorbehalten bleiben sollte. U. Hoffmann-Richter und L. Pielmaier in "Die psychiatrisch-psychologische
Begutachtung", Verlag Kohlhammer 2016, Seite 98, vertreten die Auffassung, dass zumindest der Hauptteil der Untersuchung mit
dem Exploranden alleine durchgeführt werden müsse.
Vorliegend hat die Sachverständige transparent dokumentiert, dass nach Erhebung der Fremdanamnese die Tochter das Untersuchungszimmer
verließ. Danach sei die Anamneseerhebung aufgrund der psychomotorischen Unruhe der Klägerin erschwert gewesen und habe das
Gespräch mehrmals abgebrochen werden müssen. Schließlich habe die Klägerin gefragt, wie lange die gutachterliche Untersuchung
dauern würde, da sie es nicht aushalten könne. Nachdem ihr erläutert worden sei, dass die gutachterliche Untersuchung zwei
bis vier Stunden dauern würde, habe die Klägerin unruhiger und nervöser gewirkt. Es sei eine Pause von einigen Minuten eingelegt
worden. Dann sei die Fortsetzung der gutachterlichen Untersuchung in Anwesenheit der Tochter nach dem Wunsch der Klägerin
erfolgt. Die Klägerin habe während der gesamten Untersuchung ohne die Anwesenheit der Tochter unruhig gewirkt. Es sei auch
objektiv auffällig, dass sich die Klägerin in Anwesenheit ihrer Tochter habe sicherer fühlen und etwas beruhigen können.
Die erfahrene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat die Anwesenheit der Tochter als Voraussetzung zur Fortsetzung
der Untersuchung der Klägerin als geboten angesehen. Im Hinblick auf die Art und die Historie der Erkrankung sowie die auch
von dem behandelnden Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N beschriebene Alltagssituation der Klägerin erscheint auch
zur Überzeugung des Senats eine Ausnahme von der regelmäßig geforderten Abwesenheit von Dritten bei dem gutachtlichen diagnostischen
Interview im vorliegenden Fall gerechtfertigt.
Es gibt darüber hinaus keinen Anhalt dafür, dass die Beziehung der Klägerin zu ihrer Tochter Teil der Krankheitsdynamik wäre
bzw. die psychische Erkrankung der Klägerin durch einen interfamiliären Konflikt mit der Tochter genährt oder verursacht würde.
Vielmehr ist die Situation der Klägerin auch nach ihren eigenen Angaben dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht alleine in
einem Zimmer bleiben oder an irgendeinen Ort alleine gehen kann.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, §
160 Abs
2 Nrn 1 oder 2
SGG.