Unzulässigkeit der Verwerfung eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im sozialgerichtlichen Verfahren
Erforderlichkeit einer Entscheidung durch Urteil
Anforderungen an die Entscheidung des LSG im Beschwerdeverfahren
Gründe
I.
Der Beklagte und Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verwerfung seines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung
nach Erlass eines Gerichtsbescheids als unzulässig.
Der Beklagte bewilligte den Klägern mit Bescheid vom 23. Mai 2020 vorläufige Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2020 i.H.v. 1.660,60 €/Monat bis 1.691,35 €/Monat. Ein Einkommen des Klägers zu
1. aus dessen selbstständiger Tätigkeit rechnete er nicht an; dieser hatte bei der Antragstellung mitgeteilt, sein Gewerbe
ruhe derzeit.
In dem dagegen gerichteten, nicht begründeten Widerspruch beantragten die anwaltlich vertretenen Kläger die endgültige Festsetzung
der Leistungen nach § 41 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 SGB II.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 2020 zurück. Die auf telefonische Nachfrage vom
Prozessbevollmächtigten der Kläger allein beanstandete Schülerbeihilfe nach § 28 SGB II sei bereits bewilligt worden.
Dagegen haben die Kläger am 16. September 2020 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben. Sie haben beantragt, ihnen höhere
Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen, hilfsweise die notwendigen Aufwendungen des Widerspruchsverfahrens zu erstatten. Der Grund für die Vorläufigkeit
der Leistungsbewilligung sei nicht angegeben worden. Ausführungen über die Höhe der ihnen zustehenden Leistungen hat die Klageschrift
nicht enthalten. Unter den 30. September 2020 haben die Kläger klargestellt, dass sie nur die Rechtswidrigkeit des vorläufigen
Bescheids rügen.
Zwischenzeitlich hat der Beklagte mit von den Klägern nicht beanstandetem Änderungsbescheid vom 1. Oktober 2020 gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) für die Zeit vom 1. Oktober bis 30. November 2020 vorläufig nur noch 1.412,60 €/Monat (= -188 €/Monat) bewilligt und dabei
ein Einkommen des Klägers zu 1. i.H.v. 300 €/Monat angerechnet. Eine Mitteilung an das Sozialgericht ist nicht erfolgt.
Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2020 verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheids
vom 6. Mai 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. September 2020 die Leistungen für die Kläger im Zeitraum vom
1. Juni bis 30. November 2020 endgültig festzusetzen. Zu Unrecht habe der Beklagte diese nur vorläufig festgesetzt. Der Höhe
nach seien die Bescheide nicht zu beanstanden. Über den Hilfsantrag sei nicht zu entscheiden gewesen. Die Berufung sei zulässig.
Es sei nicht feststellbar, dass die Kläger mit ihrem Antrag auf höhere Leistungen und hilfsweise der Erstattung der Kosten
des Widerspruchsverfahrens eine Summe von weniger als 750 € begehrten.
Der Beklagte hat am 29. Dezember 2020 gemäß §
105 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt. Die vorläufige Bewilligung sei zu Recht erfolgt. Durch die Verpflichtung
zur endgültigen Festsetzung der vorläufigen Leistungen sei die Berufungssumme von 750 € nicht erreicht. Der Hilfsantrag sei
dabei nicht zu berücksichtigen gewesen.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 15. März 2021 den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unzulässig
verworfen. Diese habe nach §
105 Abs.
2 SGG nicht zulässig beantragt werden können. Vielmehr sei hier ausschließlich das Rechtsmittel der Berufung gegeben. Als Beschwer
sei die gesamte zunächst vorläufig bewilligte Summe der einzelnen Monate anzusehen.
Dagegen hat der Beklagte am 6. April 2021 Beschwerde beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Der Beschwerdewert
von mehr als 750 € werde hier nicht erreicht. Sein Begehren richte sich auf die Feststellung, dass die bewilligten Leistungen
lediglich vorläufiger Natur gewesen seien. Es ergebe sich keine höhere Leistungsbewilligung. Der Hilfsantrag sei zur Bestimmung
des Beschwerdegegenstands auch nicht zu berücksichtigen. Ein Anspruch auf die Kosten des Widerspruchsverfahrens bestünde aber
auch nur i.H.v. 406 €. Das Sozialgericht hätte auch durch Urteil über die Frage entscheiden müssen, ob der Antrag auf mündliche
Verhandlung nach Erlass des Gerichtsbescheids zulässig ist (Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs [BFH]). §
158 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) sei im Klageverfahren nicht analog anwendbar.
Auf einen Hinweis des Berichterstatters hat der Beklagte weiter ausgeführt: Die Kläger hätten schon gemäß § 67 Abs. 4 SGB II einen rechtsverbindlichen Anspruch gehabt. Denn eine abschließende Entscheidung sei danach nur zu treffen gewesen, wenn die
Leistungsberechtigten dies selbst beantragten. Dieser Anspruch könne nicht ohne eine wesentliche Änderung zurückgefordert
werden. Das Klagebegehren ergebe sich auch aus dem Widerspruch, dem Klageantrag und dem Gerichtsbescheid. Die Kläger hätten
höhere Leistungen gefordert, ihnen seien aber nicht mehr als 750 € zugesprochen worden. Im Ergebnis hätten sie durch den Änderungsbescheid
vom 1. Oktober 2020 sogar weniger Leistungen erhalten. Bei unterbliebener endgültiger Festsetzung der Leistungen wäre eine
Untätigkeitsklage die richtige Klageart gewesen; diese wäre aber abzuweisen gewesen.
Der Beklagte beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 15. März 2021 aufzuheben und festzustellen, dass der Gerichtsbescheid vom 2.
Dezember 2020 als nicht ergangen gilt.
Die Kläger beantragen,
die Beschwerde des Beklagten vom 6. April 2021 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 16. März 2021 abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten verwiesen. Die Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakte
S 2 AS 1721/20 haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
1.
Die Beschwerde des Beklagten ist form- und fristgerecht erhoben worden (§
173 SGG). Sie ist auch nicht ausgeschlossen gemäß §
172 Abs.
3 SGG.
2.
Die Beschwerde ist auch begründet, da das Sozialgericht zu Unrecht durch Beschluss statt durch Urteil über den Antrag auf
Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden hat.
a.
Das von dem Beklagten eingelegte Rechtsmittel der Beschwerde gegen den Beschluss ist zulässig, auch wenn gegen ein - richtigerweise
- zu ergehendes Urteil das Rechtsmittel der Berufung vorgesehen ist (dazu unten).
Einem Beteiligten darf kein Nachteil entstehen, wenn er das Rechtsmittel wählt, auf das ihn das Sozialgericht verwiesen hat.
In einem solchen Fall ist nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auch das Rechtsmittel zulässig, das gegen die gewählte
Entscheidungsform statthaft ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl., vor § 143, Rn. 14 m.w.H. zur Rechtsprechung).
b.
Über die Beschwerde des Beklagten hat der Senat gemäß §
176 SGG durch Beschluss zu entscheiden (so auch: Landessozialgericht [LSG] für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. März
2020, L 7 AS 135/20 B; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2016, L 9 AS 1782/14 B; Beschluss vom 8. Oktober 2020, L 19 AS 659/20 B). Es handelt sich um die prozessual vorgeschriebene Vorgehensweise, wenn das Sozialgericht durch rechtsmittelfähigen Beschluss
entschieden hat.
Nicht überzeugend ist die Auffassung, der Senat habe durch Berufungsurteil zu entscheiden, so als hätte das Sozialgericht
durch Urteil entschieden (so: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl., vor § 143, Rn. 14a; LSG Baden-Württemberg,
Beschluss vom 21. Februar 2017, L 13 AS 3192/16 B; Hessisches LSG, Beschluss vom 26. Juni 2020, L 7 AS 479/19 B). Denn die Berufung findet gemäß §
143 SGG nur statt gegen Urteile der Sozialgerichte. Außerdem ist die hier maßgebliche Frage nicht, ob der Beschwerdewert von 750
€ überschritten ist. Es geht vielmehr allein darum, ob das Sozialgericht durch Beschluss oder durch Urteil über den Antrag
auf mündliche Verhandlung zu entscheiden hatte.
c.
Über die Zulässigkeit oder Statthaftigkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach §
105 Abs.
2 Satz 2
SGG hat das Sozialgericht durch Urteil und nicht durch Beschluss zu entscheiden (so auch: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
13. Aufl., §
105, Rn. 24; Schlegel/Voeltzke, jurisPK-
SGG §
105 Rn. 19; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. Februar 2017, L 13 AS 3192/16 B; Hessisches LSG, Beschluss vom 26. Juni 2020, L 7 AS 479/19 B, LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 8. Oktober 2020 L 19 AS 659/20 B; Beschluss vom 27. Mai 2016, L 9 AS 1782/14 B; Bundesfinanzhof, Urteil vom 30. März 2006, VR 12/04).
Eine ausdrückliche Regelung über die Vorgehensweise des Sozialgerichts bei einem für unzulässig gehaltenen Antrag auf mündliche
Verhandlung enthält §
105 Abs.
2 SGG nicht.
Soweit die gegenteilige Auffassung in der Rechtsprechung wegen einer planwidrigen Lücke eine entsprechende Anwendung von §
158 SGG befürwortet (so etwa: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. März 2020, L 7 AS 135/20 B), ist dem nicht zu folgen. Denn eine planwidrige Lücke enthält das
SGG nicht. §
125 SGG regelt für das erstinstanzliche Verfahren ausdrücklich, dass über die Klage durch Urteil entschieden wird, soweit nichts
Anderes bestimmt ist.
Eine andere Bestimmung in diesem Sinne ist §
158 S. 2
SGG nicht, da sie nur das Verfahren bei den LSG betrifft.
Außerdem setzt diese Vorschrift voraus, dass bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat bzw. zulässigerweise hätte
beantragt werden können (MeyerLadewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, a.a.O. § 158 Rn. 6). In Fällen wie dem Vorliegenden hat aber
gerade eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht stattgefunden bzw. konnte nicht zulässigerweise beantragt werden.
Insoweit kann ein Beteiligter auch nicht darauf verwiesen werden, dass im Verfahren vor dem Landessozialgericht eine mündliche
Verhandlung durchzuführen wäre (so etwa: Hessisches LSG, a.a.O., [22]). Denn aus der Sicht des Beklagten ist ja gerade die
vom Sozialgericht für zulässig erachtete Berufung nicht gegeben. Dann wäre aber der Gerichtsbescheid nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde
angreifbar; dieses Verfahren erfordert keine mündliche Verhandlung beim LSG.
Gleichfalls kann die Form der Entscheidung des Sozialgerichts über den Antrag auf mündliche Verhandlung nicht davon abhängen,
ob dieser unzweifelhaft unstatthaft ist oder ob Streit über den Wert des Beschwerdegegenstands besteht (offengelassen: LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. August 2017, L 13 AS 123/17 [15,16]). Denn es würde sich im Einzelfall - wie hier - um einen unterschiedlich bewerteten, also: nicht objektiven Maßstab
handeln.
3.
Die Beschwerde des Beklagten kann auch nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde nach §
145 Abs.
1 SGG umgedeutet werden. Denn er hat ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass er eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht
durchführen möchte. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist allein die Ablehnung des Antrags auf mündliche Verhandlung, nicht
jedoch die materiell-rechtlichen Fragen des Rechtsstreits.
Das Sozialgericht wird nach der erfolgten Aufhebung des Beschlusses über den Antrag des Beklagten vom 28. Dezember 2020 auf
Durchführung der mündlichen Verhandlung in der vorgesehenen Form zu entscheiden haben.
4.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung einer mündlichen
Verhandlung ist kein eigenes Verfahren, sondern nur ein Zwischenstreit im noch anhängigen Klageverfahren (so auch: LSG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 8. Oktober 2020, L 19 AS 659/20 B; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. Februar 2017, L 13 AS 3192/16 B).
Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§
177 SGG).