Anspruch auf Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren
Anforderungen an die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels bei fehlender Klagebegründung – hier in einem Rechtsstreit
zur Ermittlung des Pflegegrades für Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Bewilligung von Leistungen nach dem Pflegegrad 1 gemäß des
Elften Buches Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung (
SGB XI).
Die 1949 geborene Klägerin beantragte am 27. November 2020 bei der Beklagten Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung.
Sie fügte eine hausärztliche Bescheinigung vom 18. November 2020 „Bitte dringend Begutachtung Pflegegrad! Pf. Gr. 2 nötig“
bei.
Die Beklagte ließ die Pflegefachkraft B1 vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Sachsen-Anhalt e.V. (MDK) das Gutachten
vom 14. Dezember 2020 nach telefonischer Befragung der Klägerin erstatten. Als pflegebegründende Diagnosen benannte Frau B1
sonstige Deformitäten der Wirbelsäule und des Rückens, motorische Funktionseinschränkung sowie als weitere Diagnosen Herzschwäche,
Hypertonie und Diabetes mellitus. Sie gelangte zu der Einschätzung von 0 Einzelpunkten und 0 gewichteten Punkten.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. Dezember 2020 ab. Der MDK habe aufgrund der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit
der Klägerin eine Gesamtpunktzahl von 0 Punkten festgestellt.
Hiergegen erhob die Klägerin am 20. Januar 2021 Widerspruch und machte insbesondere geltend, wegen Schmerzen im Knie und Rücken
in der Gehfähigkeit beeinträchtigt zu sein. Erledigungen außer Haus seien nur mit Rollator und Begleitung möglich. Sie fügte
ein hausärztliches Attest vom 14. Januar 2021 bei, wonach der „Pflegegrad I“ dringend erforderlich sei.
Die Beklagte ließ die Pflegefachkraft B2 vom MDK das Gutachten vom 29. Januar 2021 nach Aktenlage erstatteten. Frau B2 gelangte
zu 1 Einzelpunkt (überwiegend selbstständig beim „Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare“ bei Modul „Selbstversorgung
- Bewertung“ und 0 gewichteten Punkten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 2021 als unbegründet zurück. Es sei wiederholt eine
Gesamtpunktzahl von 0 Punkten ermittelt worden.
Hiergegen hat die Klägerin am 28. April 2021 Klage beim Sozialgericht Halle erhoben und den Widerspruchsbescheid vom 9. April
2021 beigefügt. Eine Klagebegründung erfolge nach Akteneinsicht. Zu dem gleichzeitig gestellten Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe hat die Klägerin am 14. Mai 2021 die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
vorgelegt. Die am 10. Juni 2021 von der Beklagten übersandte Verwaltungsakte ist der Klägerin am 21. Juni 2021 zur Akteneinsicht
vorgelegt worden. Ausweislich der Verfügung des Sozialgerichts vom 15. Juni 2021 ist die Klägerin um Rückgabe der Verwaltungsakte
binnen 2 Wochen und um Vorlage einer Klagebegründung binnen 4 Wochen gebeten worden. Ein entsprechendes Schreiben befindet
sich nicht in der Gerichtsakte. Am 1. Juli 2021 hat die Klägerin die Verwaltungsakte zurückgesandt.
Mit Beschluss vom 11. August 2021 hat das Sozialgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels Vorliegens
einer Klagebegründung abgelehnt. Zudem bestehe nach summarischer Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg der Klage.
Ferner hat das Sozialgericht die Klägerin mit Schreiben vom 11. August 2021 unter Hinweis auf §
102 Abs.
2 S. 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) letztmalig aufgefordert, die Klage zu begründen.
Gegen den ihr am 6. September 2021 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 16. September 2021 Beschwerde beim Sozialgericht
erhoben, welches diese dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt vorgelegt hat. Sie hat auf die ebenfalls am 16. September 2021
übersandte Klagebegründung verwiesen und geltend gemacht, die Begutachtung durch den MDK im Widerspruchsverfahren sei fehlerhaft
gewesen. Da die Begutachtung lediglich telefonisch und nicht persönlich erfolgt sei, seien wesentliche Punkte im Gutachten
nicht erfasst worden. Hinsichtlich der Klagebegründung wird auf Bl. 25 bis 27 der beigezogenen Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beschwerdeakte, der Gerichtsakte S 11 P 42/21 und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, welche Gegenstand der Beratung des Senats gewesen sind.
II.
Die Beschwerde ist nach §
172 SGG zulässig. Sie ist nach §
172 Abs.
3 Nr.
2b i.V.m. §
144 Abs.
1 Satz 2
SGG statthaft und auch nach §
173 SGG frist- und formgerecht eingelegt worden.
Sie ist auch begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren abgelehnt.
Nach §
73a Abs.
1 SGG i.V.m. §
114 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht,
nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Bei der Prüfung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg im Rahmen der Prozesskostenhilfe erfolgt lediglich eine vorläufige Prüfung
vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Rahmens der Art.
3 Abs.
1, 20 Abs.
3 und 19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG). Hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt der Antragstellerin auf Grund ihrer Sachverhaltsschilderung
und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit
der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG Kommentar, 13. Aufl. 2020, §
73a RdNr. 7a m.w.N.). Aus Gründen der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten sind keine überspannten Anforderungen zu stellen
(vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 7. April 2000, 1 BvR 81/00). Prozesskostenhilfe kommt demgegenüber nicht in Betracht, wenn ein Erfolg in der Sache zwar nicht gänzlich ausgeschlossen,
die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. z.B. BVerfG [Kammer], Beschluss vom 13. Juli 2005, 1 BvR 175/05; Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Februar 1989, B 13 RJ 83/97 R).
1.
Das Sozialgericht war nicht bereits wegen fehlender Klagebegründung zur Ablehnung des Antrages auf Prozesskostenhilfe berechtigt.
Ein bewilligungsreifer Prozesskostenhilfeantrag setzt u.a. die Darstellung des Streitverhältnisses unter Angabe der Beweismittel
voraus (§
117 Abs.
1 S. 2
ZPO). Der Rechtschutzsuchende muss wenigstens im Kern deutlich machen, auf welche rechtliche Beanstandung er seine Klage stützt,
weil nur so das Gericht die Erfolgsaussichten prüfen kann (BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010,1 BvR 362/10). Fehlt dies, so kann alleine deswegen Prozesskostenhilfe nicht abgelehnt werden (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
a.a.O., §
73a Rn. 5a). Vorliegend sind die Mindestanforderungen an die Klageschrift gemäß §
92 SGG eingehalten. Aus dem beigefügten Widerspruchsbescheid vom 9. April 2021 ergeben sich neben der Klägerin und der Beklagten
auch der Gegenstand des Klagebegehrens. Zudem lag die Verwaltungsakte der Beklagten vor.
Abgesehen davon, dass kein Fall des §
118 Abs.
2 Satz 4
ZPO vorliegt, würde es im Übrigen an einer Fristsetzung unter Hinweis auf die Folgen (Ablehnung von Prozesskostenhilfe insoweit)
fehlen.
2.
Das Sozialgericht hat auch zu Unrecht eine hinreichende Aussicht auf Erfolg der Klage verneint. Zum Zeitpunkt der Entscheidung
über den Prozesskostenhilfeantrag am 11. August 2021 ist der Sachverhalt nicht umfassend aufgeklärt gewesen. Dies ergibt sich
insbesondere unter Berücksichtigung der Klagebegründung.
Pflegebedürftig sind nach §
14 SGB XI i.d.F. ab dem 1. Januar 2017 Personen, die wegen gesundheitlich bedingter Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der
Fähigkeiten der Hilfe durch andere bedürfen. Sie dürfen die körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen oder
gesundheitlich bedingten Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit
muss voraussichtlich für mindestens sechs Monate und mit mindestens der in §
15 festgelegten Schwere bestehen. Maßgeblich sind insoweit gemäß §
14 Abs.
2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten Kriterien: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen
und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten
Anforderungen und Belastungen sowie Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Kann die Haushaltsführung nicht mehr
ohne Hilfe bewältigt werden, wird dies gemäß §
14 Abs.
3 SGB XI bei den Kriterien der o.g. Bereiche berücksichtigt.
Der Pflegegrad wird gemäß §
15 Abs.
1 und
2 SGB XI nach der Schwere der Beeinträchtigungen in sechs Modulen ermittelt, die den sechs Bereichen in §
14 Abs.
2 entsprechen. In jedem Modul sind als Kriterien die in Anlage 1 zum
SGB XI dargestellten Kategorien vorgesehen, denen in Bezug auf die einzelnen Kriterien Einzelpunkte zugeordnet werden. Die jeweils
erreichbaren Summen aus Einzelpunkten werden nach den in Anlage 2 zum
SGB XI festgelegten Punktbereichen 0 bis 4 gegliedert. Jedem Punktbereich in einem Modul werden die in Anlage 2 festgelegten, gewichteten
Punkte zugeordnet. Die Module werden unterschiedlich zwischen 10% und 40% gewichtet.
Es ist nach summarischer Prüfung nicht ausgeschlossen, dass bei der Klägerin wesentliche Defizite im Bereich der Selbstständigkeit
und der Fähigkeiten bei den in §
14 Abs.
2 SGB XI genannten Kriterien vorliegen, die insgesamt zu mindestens 12,5 gewichteten Gesamtpunkten führen würden. Die Klägerin wäre
damit gemäß §
15 Abs.
3 Nr.
1 SGB XI in den Pflegegrad 1 einzuordnen ist.
Aufgrund des Umstandes, dass keine Begutachtung der Klägerin in häuslicher Umgebung stattgefunden hat, sind die klägerischen
Einwendungen gegen die Feststellungen der Gutachterinnen B. und B. nicht zu erschüttern.
Dies betrifft insbesondere den Vortrag der Klägerin, mangels persönlicher Untersuchung seien Beeinträchtigungen ihrer „kognitiven
und kommunikativen Fähigkeiten“ und ihrer „Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen“ nicht berücksichtigt worden. Im
Rahmen der telefonischen Begutachtung sei nicht erkannt worden, dass sie nicht unbeeinträchtigt Sachverhalte und Informationen
verstehen könne, was ihr Prozessbevollmächtigter aus Mandatsgesprächen bestätigen könne. Auch könne sie wegen Hörproblemen
nicht von hinten angesprochen werden und somit Aufforderungen nicht verstehen. Die Angaben der Klägerin, nächtliche Unruhe
zu verspüren, gelegentlich Ängste zu haben und dann in Panik zu verfallen sowie unter Antriebslosigkeit zu leiden, sind offensichtlich
nicht Gegenstand der telefonischen Befragung durch Frau B1 gewesen. Diese hat lediglich pauschal in ihrem Gutachten vom 14.
Dezember 2020 angegeben, dass keine kognitiven Einschränkungen oder besondere psychische Verhaltensauffälligkeiten von der
Klägerin beschrieben worden seien. Auch das anschließende, nach Aktenlage erstattete Gutachten von Frau B2 vom 19. Januar
2021 enthält zu diesen Punkten keine näheren Angaben.
Diesbezüglich sind mangels persönlicher Untersuchung der Klägerin keine tatsächlichen Feststellungen von den Gutachterinnen
B1 und B2 dokumentiert, die eine Überprüfung deren Einschätzungen des Pflegebedarfs erlauben.
In der hausärztlichen Bescheinigung vom 18. November 2020 wurde im Übrigen auf eine dringende Begutachtung bei Vorliegen eines
Pflegegrades 2 hingewiesen. In dem hausärztlichen Attest vom 14. Januar 2021 wurde die Notwendigkeit des „Pflegegrades I“
u.a. bei Mobilitätseinschränkungen aufgezeigt.
Nicht von der Hand zu weisen ist ebenfalls die Kritik der Klägerin, die Bewertungen ihrer Selbstständigkeit beim „Vornehmen
von in die Zukunft gerichteten Planungen“ sowie der „Kontaktpflege zu Personen außerhalb direkten Umfeldes“ wiesen auf eine
unzureichende Befragung hin.
Eine zuverlässige Einschätzung ihrer Fähigkeiten bei den Modulen 2, 3 und 6 dürfte auf der Grundlage der beiden Gutachten
des MDK ohne persönliche Untersuchung der Klägerin nicht möglich gewesen sein. Eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage
konnte zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht ausgeschlossen werden.
Die Klägerin ist auch wirtschaftlich bedürftig im Sinne des Gesetzes. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse für
die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind erfüllt.
Die Klägerin verfügt über monatliches Einkommen i.H.v. 901,10 € (Altersrente i.H.v. 822,10 € und Wohngeld i.H.v. 79 €). Hiervon
abzuziehen sind der Freibetrag für die Klägerin in Höhe von 491 € und die monatliche Gesamtmiete i.H.v. 397,27 €. Damit verbleiben
12,83 €. Nach §
115 Abs.
2 S. 1 und 2
ZPO ist von der Festsetzung von Monatsraten abzusehen.
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf §
127 Abs.
4 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden, §
177 SGG.