Erinnerung; Festsetzungsbeschluss; Umstandsmoment; Vergütung; Vertrauen; Verwirkung; Zeitmoment
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Erinnerungsrecht der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwältin
verwirkt ist.
Die Vergütung der Erinnerungsführerin, die in einer grundsicherungsrechtlichen Streitigkeit dem Kläger als Prozessbevollmächtigte
beigeordnet worden war, wurde mit Festsetzungsbeschluss vom 31. Januar 2018 auf 523,60 EUR festgesetzt.
Erst am 14. Juni 2019 hat die Erinnerungsführerin dagegen Erinnerung erhoben und die Festsetzung der Vergütung in beantragter
Höhe (1.261,40 EUR), zumindest aber in Höhe von 815,00 EUR zzgl. Umsatzsteuer verlangt.
Mit Beschluss vom 22. November 2019 hat das Sozialgericht auf die Erinnerung den angegriffenen Festsetzungsbeschluss geändert
und die aus der Landeskasse zu zahlende Vergütung auf 880,60 EUR festgesetzt.
Gegen den ihm am 27. November 2019 zugestellten Beschluss hat der Erinnerungsgegner am 4. Dezember 2019 Beschwerde eingelegt.
Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Erinnerung knapp eineinhalb Jahre nach Erlass des Festsetzungsbeschlusses zu spät
erhoben worden sei. Die Erinnerung sei zwar an keine Frist gebunden. Eine Verwirkung sei dagegen für beide Seiten dann anzunehmen,
wenn die Kostenberechnung längst abgewickelt sei und sich alle Beteiligten darauf eingestellt hätten, dass sich die Kostenfrage
erledigt habe. So habe das Bayerische LSG mit Beschluss vom 4. Oktober 2012 - L 15 SF 131/11 B E - festgestellt, dass das Erinnerungsrecht der Staatskasse trotz Fehlens einer ausdrücklichen Befristung nicht bis in
alle Ewigkeit bestehe und eine Verwirkung spätestens nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden des Festsetzungsbeschlusses
angenommen. Die Frage der Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwalts habe zwar in jener Entscheidung offengelassen
werden können. In der Literatur werde aber eine Verwirkung bereits nach Ablauf von drei Monaten nach Zustellung des Festsetzungsbeschlusses
erwogen. Beide Fristen seien hier längst verstrichen gewesen.
Er beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 22. November 2019 aufzuheben und die Erinnerung als unzulässig zu verwerfen.
Die Erinnerungsführerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Erinnerung sei an keine Frist gebunden und tatsächlich auch nicht verwirkt.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem seitens des Erinnerungsgegners beigebrachten Beschluss des Bayerischen LSG. Dieses
differenziere hinsichtlich der Verwirkung vielmehr vor dem Hintergrund grundrechtlicher Erwägungen bewusst zwischen dem Erinnerungsrecht
der Landeskasse und dem des Rechtsanwalts.
II.
Der Senat entscheidet durch den Einzelrichter (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 1 Halbsatz 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).
Die zulässige Beschwerde (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 RVG) ist unbegründet. Der angegriffene Beschluss vom 22. November 2019 bedarf keiner Korrektur.
Über die Höhe der Vergütung der Erinnerungsführerin, die das Sozialgericht mit dem angegriffenen Beschluss auf 880,60 EUR
festgesetzt hat, besteht zwischen den Beteiligten kein Streit mehr. Der Erinnerungsgegner hat die Angemessenheit der vom Sozialgericht
festgesetzten Vergütung nicht in Zweifel gezogen. Die Erinnerungsführerin hat gegen den Beschluss selbst keine Beschwerde
erhoben.
Hinsichtlich der allein noch streitigen Frage der Zulässigkeit der Erinnerung ist bereits das Sozialgericht zu Recht davon
ausgegangen, dass es für eine Verwirkung des Erinnerungsrechts am Vorliegen beachtlicher Umstandsmomente fehle. Dem schließt
sich auch der Senat nach eigener Prüfung an.
Der Erinnerungsgegner vermag auch aus der Entscheidung des Bayerischen LSG vom 4. Oktober 2012 - L 15 SF 131/11 B E - juris Rn. 20 ff. für seine Rechtsauffassung, der Vergütungsanspruch der Erinnerungsführerin sei verwirkt, nichts herzuleiten.
Denn das Bayerische LSG lässt die - für seine Entscheidung unerhebliche - Frage nach der Verwirkung des Erinnerungsrechts
des Rechtsanwalts zwar formal offen, weist aber gerade darauf hin, dass die rechtlichen Determinanten in beiden Fällen unterschiedlich
seien, weil der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nur dem Anwalt, nicht aber der Staatskasse zustehe (Bayerisches LSG,
a.a.O., Rn. 22). Dieser Bewertung, die tendenziell strengere Anforderungen an die Verwirkung des Erinnerungsrechts des Rechtsanwalts
nahelegt, schließt sich der Senat an.
Daneben sind es aber gerade auch die tatsächlichen Determinanten, die allgemein für eine Unterscheidung zwischen den beiden
Fallkonstellationen und speziell im vorliegenden Falle gegen eine Verwirkung des Erinnerungsrechts der Erinnerungsführerin
streiten. Denn Verwirkung verlangt immer sowohl nach einem Zeit- als auch nach einem Umstandsmoment. Der Ablauf eines langen
Zeitraums allein genügt für die Verwirkung nie. Zur Nichtausübung eines Rechts über einen längeren Zeitraum müssen vielmehr
stets weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets
das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (vgl.
BSG, Urteil vom 28. Oktober 2009 - B 14 AS 56/08 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 1, juris Rn. 17). Voraussetzung dafür ist zunächst, dass der Verpflichtete aufgrund eines bestimmten
Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen
werde (Vertrauensgrundlage).
Ein solches Verwirkungsverhalten kann zwar regelmäßig in der vorbehaltlosen (aktiven) Zahlung der Vergütung durch die Landeskasse
auf einen dem Festsetzungsantrag des beigeordneten Rechtsanwalts entsprechenden Festsetzungsbeschluss gesehen werden, regelmäßig
jedoch nicht in der bloßen (passiven) Unterlassung der zeitnahen Ausübung des Erinnerungsrechts durch den beigeordneten Rechtsanwalt
bei lediglich gekürzt festgesetztem Vergütungsanspruch. Auch im vorliegenden Falle hat der Erinnerungsgegner nach diesen Maßstäben
allein durch den bloßen Zeitablauf keine Vertrauensgrundlage bilden können; Besonderheiten des Falles, die eine von Regelfall
abweichende Bewertung rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG, §
177 SGG).