Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses bei offensichtlichem Irrtum eines Gerichts im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I
Mit einem am 30.12.2009 beim Sozialgericht (SG) Mainz eingegangenen Schriftsatz beantragte der Antragsteller, die Antragsgegnerin durch Erlass einer einstweiligen Anordnung
zu verpflichten, ihm Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II für ein in seinem Eigentum stehendes und im Zuständigkeitsbereich
des SG Mainz belegenes Haus zu gewähren. Hierzu gab er an, seit 31.10.2009 obdachlos zu sein und sich in S. aufzuhalten. In
der Antragserwiderung teilte die Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe sich ohne festen Wohnsitz gemeldet, sich vom
7. bis zum 14.12.2009 täglich den Tagessatz auszahlen lassen und am 15.12.2009 bei der ARGE S. angemeldet, von der er seitdem
Leistungen beziehe. Dort habe er erklärt, sein Haus werde zum Verkauf angeboten und er wolle vorerst in S. bleiben. Am 19.1.2010
bat der Antragsteller das SG Mainz telefonisch, ihm Post an ein bei der ARGE S. eingerichtetes Postfach zu senden, da er sich
in seinem Haus nicht aufhalten könne. Tagsüber halt er sich in der Notunterkunft der C. S. auf.
Mit Verfügung vom 27.1.2010 hat das SG Mainz die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das SG für das Saarland angehört. Daraufhin erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom 2.2.2010, hiermit nicht einverstanden zu
sein und innerhalb von drei Tagen wieder in die P. zurückkehren zu wollen. Die Post solle zukünftig wieder an die Anschrift
seines Hauses gesandt werden, wobei er nicht sagen könne, wann er diese nachschauen könne.
Mit Beschluss vom 5.2.2010 hat das SG Mainz sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG für das Saarland verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei auch nicht wegen eines bereits anhängigen Rechtsstreits
als Gericht der Hauptsache für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig, da die Verfahren unterschiedliche Gegenstände
beträfen.
Mit Beschluss vom 10.2.2010 hat das SG für das Saarland das Verfahren dem Bundessozialgericht (BSG) zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt, da die Verweisung
durch das SG Mainz willkürlich sei. Das SG Mainz habe trotz der Stellungnahme des Antragstellers verkannt, dass dieser weiterhin
seinen Wohnsitz am Ort seines Hauses gehabt habe und dass sich die örtliche Zuständigkeit zuerst danach und nur nachrangig
nach dem Aufenthaltsort richte.
II
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach §
58 Abs
1 Nr
4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen
Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Mainz und dem SG für das Saarland berufen, nachdem das SG Mainz seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das SG für das Saarland verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält, sondern weiterhin
das SG Mainz mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das SG für das Saarland konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar
das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG, Beschluss vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2).
Zum zuständigen Gericht ist das SG für das Saarland zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Mainz vom 5.2.2010 gebunden ist.
Gemäß §
98 Satz 1
SGG iVm §
17a Abs
2 Gerichtsverfassungsgesetz (
GVG) ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend.
Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art
19 Abs
4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller
Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über den Anwendungsbereich von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit
zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs
zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach §
58 Abs
1 Nr
4 SGG.
Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer
Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (vgl BSG, Beschlüsse vom 25.2.1999, B 1 SF 9/98 S, SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, vom 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15, und vom 8.5.2007, B 12 SF 3/07 S, SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4, sowie Bundesverfassungsgericht vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist,
sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art
3 Abs
1 GG verletzt. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lässt die Bindungswirkung nicht entfallen. Danach ist für eine
vom Verweisungsbeschluss des SG Mainz abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen SG kein Raum.
Das SG für das Saarland ist danach bereits deshalb für die Entscheidung örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des SG
Mainz nach §
98 Satz 1
SGG, §
17a Abs
2 GVG unanfechtbar (§
98 Satz 2
SGG) und für das SG für das Saarland bindend ist (§
17a Abs
1 GVG). Der Beschluss beruht nicht auf einer Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze, soweit sie hier zu beachten sind. Die
knappe Begründung des Beschlusses ist kein solcher Verstoß.
Die Entscheidung des SG Mainz ist auch nicht willkürlich. Selbst wenn das SG Mainz möglicherweise die Vorschrift des §
57 Abs
1 Satz 1 Halbsatz 1
SGG fehlerhaft angewandt hat, nach der sich die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts zunächst nach dem Wohnsitz des Klägers
zur Zeit der Klageerhebung bzw der Antragstellung richtet und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort,
war seine Rechtsauffassung nicht unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt unvertretbar. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er
iS des §
30 Abs
3 Satz 1
SGB I (vgl BSG, 17.5.1989, 10 RKg 19/88, BSGE 65, 84, 86) eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.
Ein Wohnsitz wird aufgegeben, wenn die Wohnung aufgelöst oder nicht nur vorübergehend nicht mehr benutzt wird (vgl BSG, 29.5.1991,
4 RA 38/90, SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8). Hat jemand keinen Wohnsitz, wird auf den Aufenthaltsort abgestellt. Das ist der Ort faktischer
Anwesenheit, die nicht "gewöhnlich" iS des §
30 Abs
3 Satz 2
SGB I zu sein braucht, jedoch eine gewisse Dauer haben muss (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
57 RdNr 7 mwN).
Vorstehend bestanden im Zeitpunkt seines Verweisungsbeschlusses (vgl BSG, 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 12) für das SG Mainz konkrete Anhaltspunkte für eine Wohnsitzaufgabe des Klägers im Zeitpunkt
der Antragstellung und für einen Aufenthalt von gewisser Dauer in S.. So hatte der Antragsteller selbst angegeben, obdachlos
zu sein und sich in S. aufzuhalten, wohin er zunächst auch seine Post gesandt bekommen wollte. Dieser Sachverhalt wurde auch
durch die Antragsgegnerin bestätigt, die über einen Leistungsbezug in S. und daneben über dort mitgeteilte Bemühungen des
Klägers um den Verkauf seines Hauses berichtet hat. Der Sachverhalt zum Zeitpunkt der Antragstellung hat sich auch nicht durch
die mit Schreiben vom 2.2.2010 übermittelte Erklärung des Antragstellers geändert, sich wieder in die P. begeben zu wollen,
wenn auch diese Erklärung dem SG Mainz Anlass gegeben hätte, sich mit der Frage der Dauer- und Ernsthaftigkeit der Wohnsitzaufgabe
näher auseinanderzusetzen. Dabei wäre jedoch auch zu würdigen gewesen, dass der Antragsteller ausdrücklich darauf hingewiesen
hat, nicht sagen zu können, wann er nach der an die Anschrift seines Hauses gesandten Post schauen könne, was darauf schließen
lässt, dass er dort nicht wieder einziehen wollte. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Frage einer möglicherweise nicht
dauerhaften Aufgabe des Wohnsitzes im Zeitpunkt der Antragstellung macht die Verweisung des Rechtsstreits an das SG für das Saarland uU im Ergebnis falsch, jedoch nicht im oben dargelegten Sinne willkürlich, zumal auch andere Umstände, die
darauf schließen lassen könnten, dass die Entscheidung des SG Mainz auf sachfremden Erwägungen beruht haben könnte, nicht
ersichtlich sind.