Beitragsbemessung in der Kranken- und Pflegeversicherung
Landesblindengeld keine beitragspflichtige Einnahme
Ausgleich der durch Blindheit bedingten Mehraufwendungen
Tatbestand
Streitig ist, ob das bayerische Landesblindengeld bei der Beitragsbemessung in der Kranken- und Pflegeversicherung als beitragspflichtige
Einnahme zu berücksichtigen ist.
Die 1952 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als freiwilliges Mitglied krankenversichert und bei der Beigeladenen pflegeversichert.
Sie bezieht neben einer Rente wegen voller Erwerbsminderung der DRV Bayern Süd Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz in Höhe von monatlich 523 Euro (Stand: 01.07.2011).
Mit Beitragsbescheid vom 20.07.2011 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass für die Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung
ab 01.07.2011 ein monatlicher Betrag von insgesamt 181,81 Euro (161,15 Euro Krankenversicherung und 20,66 Euro Pflegeversicherung)
zu entrichten sei. Dabei wurde das monatliche Blindengeld als betragspflichtige Einnahme berücksichtigt. Die Klägerin hatte
bereits zuvor Blindengeld bezogen, das bis dahin aber von der Beklagten nicht bei der Beitragsberechnung berücksichtigt wurde.
Gegen den Beitragsbescheid erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, dass das Landesblindengeld ebenso wie die Blindenhilfe
nicht zu den im Rahmen des §
240 SGB V zu berücksichtigenden "Einnahmen zum Lebensunterhalt" gehöre. Der Begriff der "Einnahmen zum Lebensunterhalt" werde zwar
sehr weit ausgelegt. Das Bundessozialgericht habe jedoch eine Grenze dort gezogen, wo es um "Hilfen in besonderen Lebenslagen"
gehe. Die Blindenhilfe nach § 67 BSHG sei deshalb auch nie für die Beitragsberechnung herangezogen worden. An dieser Rechtslage habe sich mit der Neuregelung des
Sozialhilferechts im SGB XII nichts geändert. Auch für die in § 72 SGB XII geregelte Blindenhilfe müsse gelten, dass sie bei der Beitragsberechnung nicht zu berücksichtigen ist. Für das Landesblindengeld,
für die Pflegezulage für Blinde und für das Pflegegeld für Berufsunfallblinde könne wiederum nichts anderes gelten. Mit weiteren
Beitragsbescheiden vom 02.07.2013 und 26.02.2014 unterwarf die Beklagte das Landesblindengeld der Klägerin ebenfalls der Beitragspflicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück: Welche Einnahmen bei freiwilligen Mitgliedern
der Beitragsberechnung zugrunde zu legen seien, bestimme sich nach §
240 SGB V und §
21 der Satzung der AOK Bayern. Dabei seien die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" vom 27.10.2008, zuletzt geändert
am 27.11.2013, zu berücksichtigen. Nach § 4 dieser Grundsätze seien den beitragspflichtigen Einnahmen auch Leistungen zum
Ausgleich der durch Blindheit bedingten Mehraufwendungen und Benachteiligungen nach den landesrechtlichen Vorschriften (Blindengeld)
zuzurechnen, soweit diese Leistungen nicht auf die Blindenhilfe nach § 72 SGB XII angerechnet werden. Auch in den vom GKV Spitzenverband erstellten Katalog der häufigsten Einnahmen einschließlich deren beitragsrechtlicher
Bewertung sei die Einnahmeart Blindengeld nochmals konkret aufgeführt. Die Regelung in den "Beitragsverfahrensgrundsätzen
Selbstzahler" sei rückwirkend zum 01.01.2009 in Kraft getreten.
Die Klägerin hat ihr Anliegen weiterverfolgt und Klage erhoben zum Sozialgericht Landshut. Nach ihrer Auffassung handelt es
sich nach der generalklauselartigen Definition in § 3 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler bei dem gewährten Landesblindengeld
um keine beitragspflichtige Einnahme. Es sei nicht nachvollziehbar, dass in § 4 Nr. 4 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler eine beitragsrechtliche Unterscheidung von Landesblindengeld und Blindenhilfe
nach § 72 SGB XII vorgenommen werde. Blindengeld und Blindenhilfe entsprächen demselben Grundgedanken und verfolgten den gleichen Zweck. Da
es sich somit um "gleichartige Leistungen" handle, gebe es keinen Grund, sie beitragsrechtlich unterschiedlich zu behandeln.
Die Regelung in § 4 Nr. 4 der Beitragsverfahrensgrundsätze sei als willkürlich und rechtswidrig anzusehen.
Dieser Auffassung trat die Beklagte entgegen: Die Beitragsverfahrensgrundsätze habe der Spitzenverband Bund der Krankenkassen
zur Erfüllung seines Regelungsauftrages aus §
240 Abs.1 Satz 1 und 2
SGB V erlassen. Danach werde die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder der GKV ab 01.01.2009 nicht mehr durch die Satzung
der jeweiligen Krankenkasse, sondern einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt; dabei sei sicherzustellen,
dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mitglieds berücksichtigt.
Die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler seien für die Beklagte bindend. Im Übrigen habe das Bundessozialgericht mit
Urteil vom 15.10.2014 (Az: B 12 KR 10/12 R) die Rechtmäßigkeit der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler zum wiederholten Male bestätigt. In dieser Entscheidung
habe der Senat an seiner Rechtsprechung festgehalten, dass eine derart erfolgte Übertragung von Regelungsbefugnissen auf den
Spitzenverband Bund der Krankenkassen rechtmäßig sei und gegen die Wirksamkeit der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler
vom 01.01.2009 an keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken bestünden.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen und seine Entscheidung im Wesentlichen auf die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler
gestützt und ausgeführt, dass diese rechtmäßig seien.
Hiergegen richtet sich die Berufung. Die Klägerin betont, dass das Blindengeld weder für die Deckung des Lebensunterhalts
noch zur Kapitalbildung bestimmt sei. Es sei vielmehr eine staatliche Leistung, die dem Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen
und Nachteilen dient. Bei der Beitragsbemessung seien aber nur solche Einnahmen zu berücksichtigen, die die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit bestimmen, mithin Einnahmen und Geldmittel, die zum Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden
können.
Die Beklagte hingegen sieht sich an die vom GKV Spitzenverband einheitlich geregelten Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler
gebunden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 13.05.2015 aufzuheben sowie den Bescheid vom 20.07.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 26.06.2014 insoweit aufzuheben, als dort das der Klägerin gewährte Bayerische Landesblindengeld in der Zeit ab 01.07.2011
der Beitragspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung unterworfen worden ist.
Die Beklagte sowie die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akte der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Zur Ergänzung
des Tatbestandes wird hierauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung (§§
143,
151 SGG) ist begründet.
Die Entscheidung der Beklagten, ab 01.07.2011 das von der Klägerin bezogene Landesblindengeld bei der Beitragsbemessung zu
berücksichtigen, ist rechtswidrig, weil die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler das bayerische Landesblindengeld nicht
der Beitragspflicht unterwerfen durften, da dieses keine Einnahme im Sinne von §
240 Abs.
2 SGB V ist, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmt. Zudem verstößt die Verbeitragung von Landesblindengeld gegen
den Gleichheitssatz. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Landshut sowie der angefochtene Bescheid der Beklagten vom
20.07.2011 und die Folgebescheide vom 02.07.2013 und 26.02.2014, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014,
sind daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage für die Beitragsfestsetzung der Beklagten sind §
240 Abs.1
SGB V und §
57 Abs.
4 S. 1
SGB XI i.V.m. den Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler vom 27.10.2008, zuletzt geändert am 10.12.2014. Der Gesetzgeber hat
in §
240 Abs.2
SGB V eine differenzierte Regelung dazu getroffen, inwieweit bestimmte Sozialleistungen des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigen
sind. Nach §
240 Abs.1 Satz 1
SGB V ist die Beitragsbemessung für den Personenkreis der freiwilligen Mitglieder der GKV ab 01.01.2009 nicht mehr durch die Satzung
der jeweiligen Krankenkasse, sondern einheitlich durch den Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen zu regeln. Der
Gesetzgeber hat in §
217 f Abs.3
SGB V dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen die Aufgabe übertragen, in grundsätzlichen Fach- und Rechtsfragen Entscheidungen
zum Beitrags- und Meldeverfahren zu treffen. Von dieser Befugnis hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen in zulässiger
Weise Gebrauch gemacht.
Die Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als untergesetzliche Norm
für sich genommen ab 01.01.2009 eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Beitragsfestsetzung gegenüber freiwillig Versicherten
der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BSG, Urteil vom 18.12.2013, B 12 KR 3/12 R). § 3 Abs. 1 Satz 1 Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler bestimmt, dass als beitragspflichtige Einnahmen das Arbeitsentgelt,
das Arbeitseinkommen, der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, der Zahlbetrag der Versorgungsbezüge sowie
alle Einnahmen und Geldmittel, die für die Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden können, ohne Rücksicht
auf ihre steuerliche Behandlung, zugrunde zu legen sind.
Nach § 4 Nr. 4 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler sind den beitragspflichtigen Einnahmen im Sinne des § 3 Abs.1
auch zuzurechnen: Leistungen zum Ausgleich der durch Blindheit bedingten Mehraufwendungen und Benachteiligungen nach den landesrechtlichen
Vorschriften (Blindengeld), soweit diese Leistungen nicht auf die Blindenhilfe nach § 72 SGB XII angerechnet werden. § 4 Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler mit der ausdrücklichen Erwähnung des Landesblindengeldes in Ziffer 4 fand seine
derzeitige Fassung erst durch die Änderung vom 22.11.2013. Der Neufassung wurde jedoch Rückwirkung zum 01.01.2009 beigelegt.
Inhaltlich aber verstößt die Einbeziehung des Landesblindengeldes bei der Beitragsbemessung gegen Art. 1 Abs. 1 des Bayerischen Blindengeldgesetzes (BayBlindG) vom 07.04.1995. Darin ist ausdrücklich geregelt, dass Blindengeld geleistet wird zum Ausgleich der durch diese Behinderungen
bedingten Mehraufwendungen. Damit steht fest, dass das Blindengeld nicht zur Verfügung steht für die persönliche Lebensgestaltung,
sondern den zusätzlichen finanziellen Aufwand eines blinden Bürgers abdeckt. Diese Leistungen sollen den Blinden zugute kommen
und nicht über einen Umweg in den Haushalt der Krankenkasse fließen und so dem Blinden wieder teilweise entzogen werden.
Aufgrund der Regelung in §
240 Abs.
1 S. 1
SGB V und §
3 Abs.1 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler, wonach die Beitragsbemessung auf der Grundlage der gesamten wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit zu erfolgen hat, bestand entgegen der Ausführungen des Sozialgerichts ein Vertrauenstatbestand dahingehend,
dass Sozialleistungen in Form von Landesblindengeld auch weiterhin nicht der Beitragsbemessung unterliegen. Dies folgt unmittelbar
aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 des Bayerischen Blindengeldgesetzes. Danach erhalten blinde Menschen auf Antrag ein monatliches Blindengeld zum Ausgleich ihrer blindheitsbedingten Mehraufwendungen,
soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166
S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht.
Der bayerische Landesgesetzgeber gewährt also Blindengeld ausdrücklich zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen.
Diese vom Landesgesetzgeber getroffene Zweckbestimmung vermag eine untergesetzliche Norm wie die vom Spitzenverband Bund der
gesetzlichen Krankenkassen erlassenen Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler nicht zu ändern oder außer Kraft zu setzen.
Die Einbeziehung von Landesblindengeld nach § 4 Beitragsverfahrensgrundsätze ist daher nur dann möglich, wenn der Landesgesetzgeber
dieses nicht ausdrücklich zum Ausgleich von blindheitsbedingten Mehraufwendungen gewährt. Ansonsten verstößt die Einbeziehung
von Landesblindengeld bei der Beitragsbemessung gegen Landesrecht.
Die sich aus den Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler ergebende unterschiedliche Behandlung von Landesblindengeld einerseits
und Blindenhilfe nach § 72 SGB XII stellt außerdem einen Verstoß gegen höherrangiges Recht, nämlich Art.
3 GG dar. Denn es dienen beide Leistungen dem Ausgleich behinderungsbedingter Mehraufwendungen und haben damit keinen Einfluss
auf "die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds" im Sinne des §
240 Abs.1 Satz 2
SGB V (so auch LSG Sachsen, Urteil vom 06.12.2012, - 1 KR 172/11 und LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.01.2016, - L 11 KR 888/15).
Auf die Berufung der Klägerin sind damit die entgegenstehenden Entscheidungen aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. §
160 Abs.
2 SGG bestehen nicht.