Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II nF im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Gründe:
I. Die Antragstellerinnen begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB
II für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis zum 31. Januar 2007.
Die 1971 geborene und seit 1996 verwitwete Antragstellerin zu 1. lebt mit ihrer 1991 geborenen Tochter, der Antragstellerin
zu 2., und ihrem Lebenspartner D C (im Folgenden: C.) zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung in B-R. Die Warmmiete beträgt
528,70 Euro. C. ist seit dem 1. November 2006 arbeitslos und bezieht Arbeitslosengeld in Höhe von 48,96 Euro täglich. Die
Antragstellerin zu 1. bezog bis zum 28. Februar 2006 ebenfalls Arbeitslosengeld; ihr Anspruch auf Leistungen nach dem SGB
II war unter dem Aspekt der Anrechnung des Einkommens des C. zwischen den Beteiligten umstritten.
Ein für die Zeit ab Juni 2006 geführtes Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes (SG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2006, S 34 AS 5741/06 ER, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2006, L 14 B 718/06 AS ER) hatte insoweit Erfolg, als die Antragstellerin zu 1. die Zahlung weiterer 1.042,48 Euro für die Monate Juni und Juli
2006 beanspruchen konnte, weil der Antragsgegner es versäumt hatte, einen diesbezüglichen Bewilligungsbescheid vom 10. März
2006 aufzuheben. Für die Zeit ab August 2006 bestätigten die Gerichte eine fehlende Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin
zu 1. wegen des anrechenbaren Einkommens des C.
Mit - nach Lage der Akten bestandskräftigem - Bescheid vom 12. Juli 2006 bewilligte der Antragsgegner Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2007 in Höhe von 298,23 Euro monatlich. Laut Berechnungsbogen
wurde für die Antragstellerin zu 1. ein Bedarf von 345 Euro (Regelleistung) sowie von 176,24 Euro (Kosten der Unterkunft,
ein Drittel der Warmmiete) zugrunde gelegt, zusammen 521,24 Euro. Aufgrund der Anrechnung des seinerzeitigen Erwerbseinkommens
des C. ergab sich für die Antragstellerin zu 1. kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Der Anspruch für die Antragstellerin
zu 2. in Höhe von 298,23 Euro errechnete sich aus dem Bedarf in Höhe von 276 Euro (Regelleistung) zuzüglich 176,23 Euro (ein
Drittel der Warmmiete) abzüglich 154 Euro Kindergeld; Einkommen des C. wurde insoweit nicht angerechnet.
Mit Bescheid vom 17. November 2006 (ein hiergegen am 27. November 2007 erhobener Widerspruch ist nach Lage der Akten noch
nicht beschieden) hob der Antragsgegner seine Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II auf der Grundlage
von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ab dem 1. Dezember 2006 ganz auf. Mit dem Inkrafttreten der Neufassung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II am 1. August 2006 sei
auch das Einkommen von Partnern (hier: des C.) auf den Bedarf aller zur Bedarfsgemeinschaft zählenden Kinder anzurechnen,
selbst wenn es sich nicht um gemeinsame Kinder handele.
Ein hiergegen vor dem Sozialgericht Berlin am 27. November 2006 angestrengtes Eilverfahren hatte Erfolg. Mit Beschluss vom
8. Januar 2007 hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. November 2006 angeordnet
und den Antragsgegner zur Auszahlung der Leistungen für Dezember 2006 und Januar 2007 verpflichtet. Zur Begründung hat das
Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, zwar bestehe bei Anwendung der Neufassung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II kein Anspruch
mehr auf Leistungen nach dem SGB II, weil das Einkommen des C. ausreiche, um den Bedarf beider Antragstellerinnen zu decken.
§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II neuer Fassung sei jedoch verfassungswidrig, so dass der Aufhebungsbescheid vom 17. November 2006
sich in einem Hauptsacheverfahren nach Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art.
100 Abs.
1 GG als rechtswidrig erweisen werde.
Hiergegen hat der Antragsgegner am 22. Januar 2007 Beschwerde eingelegt.
II. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 2007 ist gemäß §§
172 Abs.
1 und
173 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig und auch begründet.
Zutreffend hat das Sozialgericht den Eilantrag der Antragstellerinnen als einen solchen nach §
86 b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG angesehen, denn es geht um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 17.
November 2006; nach §
86 a Abs.
2 Nr.
4 SGG in Verbindung mit §
39 Nr.
1 SGB II entfaltet nämlich der Widerspruch gegen die Leistungsaufhebung von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung (vgl.
hierzu Beschluss des Senats vom 25. August 2006, L 5 B 549/06 AS ER).
Der Senat schließt sich auch den Ausführungen des Sozialgerichts an (Bl. 5 und 6 des erstinstanzlichen Beschlusses), wonach
die Antragsberechtigung beider Antragstellerinnen zu bejahen ist.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht jedoch die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. November 2006
angeordnet, denn dieser erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig, so dass es bei der gesetzlichen Wertung der
sofortigen Vollziehbarkeit bleiben muss.
Auch das Sozialgericht hat erkannt, dass der angefochtene Bescheid - gemessen am einfachen Gesetzesrecht - rechtmäßig ist.
Seine Rechtsgrundlage findet er in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (hier: der Bewilligungsbescheid vom 12. Juli 2006) mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung eintritt. Die maßgebliche Änderung ist hier das Inkrafttreten der Neufassung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II mit Wirkung
vom 1. August 2006; danach ist bei unverheirateten Kindern nun auch das Einkommen des mit dem Elternteil in Bedarfsgemeinschaft
lebenden Partners zu berücksichtigen. Nach der bis zum 31. Juli 2006 geltenden Rechtslage war das Einkommen eines eheähnlichen
Partners der Mutter oder des Vaters nicht auf den Bedarf des Kindes anzurechnen.
Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II neuer Fassung besteht auch für die Antragstellerin zu 2. kein Anspruch mehr auf Leistungen nach
dem SGB II, weil das Gesamteinkommen der Bedarfsgemeinschaft ausreicht, um den Gesamtbedarf zu decken. Auf die zutreffende
Berechnung im Schriftsatz des Antragsgegners vom 5. Januar 2007 (Einkommensüberschreitung von 218,10 Euro monatlich) wird
insoweit Bezug genommen.
Weiter ist das Sozialgericht beanstandungsfrei davon ausgegangen, dass das Einkommen des C. nicht um die bestehenden Kreditverpflichtungen
zu bereinigen ist. Nach der eindeutigen Gesetzeslage (vgl. § 11 Abs. 2 SGB II) können freiwillige Ratenzahlungen zur Tilgung
nicht titulierter Schulden nicht vom Einkommen eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft abgesetzt werden; ein Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft muss sein Einkommen für die Mitglieder einsetzen, auch wenn es sich dadurch außerstande setzt, bestehende
vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss des 29. Senats vom 21. Juni 2006, L 29 B 314/06 AS ER). Nichts anderes ergibt sich aus dem in der Sache der Antragstellerin zu 1. ergangenen Beschluss des 14. Senats vom
11. Dezember 2006 (L 14 B 718/06 AS ER), denn zwar wurde dort im Rahmen der Einkommensanrechnung nur nach §
850 c ZPO pfändungsfreies Einkommen des C. in Höhe von 930 Euro zugrunde gelegt, doch der Senat versteht den Beschluss dahin, dass
sogar bei Berücksichtigung nur des Pfändungsfreibetrages das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft ausreichte, um den Bedarf zu
decken. Der Beschluss enthält keine Aussage dahingehend, dass im Rahmen der Einkommensanrechnung bei bestehenden Verbindlichkeiten
stets und zwingend nur der pfändungsfreie Betrag als Einkommen anzurechen sei.
Der Senat vermag dem Sozialgericht jedoch nicht darin zu folgen, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen überwiege,
weil § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II neuer Fassung verfassungswidrig sei, so dass der Aufhebungsbescheid vom 17. November 2006 sich
in einem Hauptsacheverfahren nach Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art.
100 Abs.
1 GG als rechtswidrig erweisen werde. Zwar führt das Sozialgericht erwägenswerte Gründe für eine Verfassungswidrigkeit der Neuregelung
an, die "Patchworkfamilien" erheblichen Belastungen aussetzt. Gleichwohl handelt es sich bei § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II um geltendes
Recht, das so lange anzuwenden ist, wie es nicht vom Gesetzgeber korrigiert oder vom Bundesverfassungsgericht - etwa im Rahmen
einer konkreten Normenkontrolle nach Art.
100 Abs.
1 GG - für nichtig erklärt wird (§ 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 Satz 1 BVerfGG). Unter Beachtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und im Interesse gleichmäßiger und vorhersehbarer Gesetzesvollziehung
meint der Senat daher, dass es sich verbietet, im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes - bei summarischer Prüfung der Rechtmäßigkeit
des in Rede stehenden belastenden Verwaltungsaktes - das geltende Recht gleichsam auszuhebeln, indem es im Vorgriff auf eine
Entscheidung des alleine hierzu legitimierten Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig gehalten und damit für unmaßgeblich
erklärt wird. Zwar kann ein Gericht auch im nur eine summarische Prüfung erfordernden Aussetzungsverfahren nach §
86 b Abs.
1 Satz 1
SGG Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm entwickeln; wenn aber infolge dieser Zweifel
die aufschiebende Wirkung angeordnet wird, ignoriert das Gericht den Geltungsanspruch des dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden
Gesetzes. Die bloße Aussetzung der Vollziehung lässt zwar die Gültigkeit der Norm unberührt, womit das Verwerfungsmonopol
des Bundesverfassungsgerichts nach Art.
100 Abs.
1 GG "geschont" wird. Die Missachtung des Gesetzesbefehls durch Nichtanwendung der Rechtsnorm steht jedoch in Widerspruch zu Art.
20 Abs.
3 und Art.
97 Abs.
1 GG (Bindung auch der Rechtsprechung an Recht und Gesetz). Solange eine Gesetzesvorschrift nicht autoritativ verbindlich für
ungültig erklärt worden ist, muss sie von den normanwendenden Instanzen beachtet werden (vgl. zu alledem Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, Rdnr. 267 zu §
80).
Infolge der berechtigten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II mag der Ausgang der Hauptsache damit
als offen angesehen werden können. Damit bleibt es aber bei der gesetzlichen Wertung in § 39 Nr. 1 SGB II, wonach dem Rechtsbehelf
keine aufschiebende Wirkung zukommt. Die Antragstellerinnen können ihre Rechte im Hauptsacheverfahren wahren. Im Falle zumindest
vorübergehender Vollziehung des Aufhebungsbescheides vom 17. November 2006 droht angesichts der Einkommensverhältnisse der
Bedarfsgemeinschaft keine unbillige Härte (vgl. §
80 Abs.
4 Satz 3
VwGO); hierfür ist auch nichts vorgetragen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§
177 SGG).