Grad der Behinderung und Zuerkennung Merkzeichen G
Mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft
Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
Versorgungsmedizinische Grundsätze
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung
des Merkzeichens "G".
Bei der Klägerin war 2007 ein Grad der Behinderung von 50 festgesetzt worden. Den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom
9. November 2009 lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 28. April 2010 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung
eingetreten sei. Auf den Widerspruch der Klägerin holte der Beklagte das Gutachten des Orthopäden Dr. W vom 1. Oktober 2010
ein, der den Grad der Behinderung (GdB) von 50 bestätigte und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneinte. Mit Widerspruchsbescheid
vom 30. Mai 2011 wies der Beklagte, dem Gutachten folgend, den Widerspruch zurück. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen
zugrunde:
1. psychische Störungen (Einzel-GdB von 30),
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB von
20),
3. Funktionsbehinderung des Kniegelenks, Funktionsstörung durch Fußfehlform (Einzel-GdB von 20),
4. Migräne (Einzel-GdB von 20),
5. WPW-Syndrom, intermittierende subjektiv wahrnehmbare Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB von 10),
6. Schilddrüsenleiden (Einzel-GdB von 10),
7. allergische Diathese (Einzel-GdB von 10).
Mit ihrer Klage beim Sozialgericht Berlin hat die Klägerin einen höheren GdB als 50 und das Merkzeichen "G" begehrt. Das Sozialgericht
hat das Gutachten des Orthopäden und Chirurgen Dr. T vom 6. Februar 2014 eingeholt, der den GdB weiterhin mit 50 eingeschätzt
hat. Der Gutachter ermittelte hierbei folgende GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen:
1. psychische Komorbidität mit Schmerzempfindung/Schmerzchronifizierung (inklusive Migräne und Schwindel) (Einzel-GdB von
30),
2. Wirbelsäulenkomplex (Einzel-GdB von 20),
3. Armkomplex (rechtes Schultergelenk Fingergelenke) (Einzel-GdB von 10),
4. Beinkomplex (Kniegelenke beidseits, Vorfüße beidseits) (Einzel-GdB von 10 bis 20),
5. rheumaähnliche Erkrankung, Kollagenose, Morbus Raynaud, Lupus erythematodes (Einzel-GdB von 20),
6. Herzerkrankung (mitunter Wolf-Parkinson-White-Syndrom) (Einzel-GdB von 10),
7. multiple Allergien (Einzel-GdB von 10),
8. Schilddrüsenerkrankung (Einzel-GdB von maximal 10),
9. rezidivierende Gastritis (Einzel-GdB von 10).
In der ergänzenden Äußerung vom 13. Februar 2014 führte der Sachverständige Dr. T aus, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen
"G" nicht vorlägen. Bei seinen Auffassungen blieb er auch in der ergänzenden Stellungnahme vom 28. April 2014. Dem Gutachten
folgend hat das Sozialgericht Berlin die Klage mit Urteil vom 12. März 2015 abgewiesen.
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Prof. Dr. S vom
26. November 2015 mit ergänzender Stellungnahme vom 14. März 2016. Der Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin
am 14. Oktober 2015 folgende GdB-relevante Behinderungen ermittelt:
1. Lupus erythematodes (Einzel-GdB von 30),
2. psychische Störung (Einzel-GdB von 30),
3. Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule in zwei Abschnitten (Einzel-GdB von 30),
4. Fußfehlform und Minderbelastbarkeit nach zahlreichen operativen Behandlungen (Einzel-GdB von 10),
5. Migräne (Einzel-GdB von 20),
6. Wolf-Parkinson-White-Syndrom (Einzel-GdB von 10),
7. Schilddrüsenleiden (Einzel-GdB von 10),
8. Allergien (Einzel-GdB von 10).
Der Gutachter hat dargelegt, dass seit der Begutachtung durch Dr. T eine deutliche funktionelle Einschränkung am gesamten
Stütz- und Bewegungsapparat eingetreten ist. Er hat vorgeschlagen, bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 60 festzustellen.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" hat er verneint. Die Klägerin ist dem Gutachten
entgegengetreten. Sie ist insbesondere der Ansicht, dass der Lupus erythematodes mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28.
April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2011 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab 9. November
2009 einen höheren Grad der Behinderung als 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G"
festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Berlin im Rentenstreit zum Aktenzeichen
S 188 R 1696/09 vorgelegen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes
wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist zum Teil begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 60 ab Juni 2014.
Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. S, denen der Senat sich anschließt, ist der Lupus erythematodes
im noch streitigen Zeitraum ab Juni 2014 mit einem Einzel-GdB von 30 zu würdigen. Nach Teil B Nr. 18.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV der Anlage zu § 2 VersMedV richtet sich die Beurteilung des GdB bei Kollagenosen (zu denen auch ein systemischer Lupus erythematodes zählt) nach Art
und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie den Auswirkungen auf den Allgemeinzustand. Der Sachverständige hat nachvollziehbar
dargelegt, dass die Krankheitsaktivität bei der Klägerin geringe Auswirkungen hervorruft. Ein höherer Einzel-GdB als 30 ist
nicht zu rechtfertigen. Zum einen liegt bei der Klägerin keine therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität vor.
Im Rahmen von Laboruntersuchungen in den Jahren 2014 und 2015 konnte ausgeschlossen werden, dass die Entzündungsparameter
nach immunsuppressiver Therapie anhaltend hoch sind. Zum anderen war keine dauernde erhebliche Funktionseinbuße festzustellen.
Eine schwergradige Organbeteiligung liegt nicht vor. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass ausweislich der Arztbriefe
der S-Klinik vom 8. und 27. Januar 2015 weder Luftnot noch Ödeme bestanden. Die Untersuchung der Lunge ergab ebenso wenig
Auffälligkeiten wie die neurologische Untersuchung. Anhand der von dem Gutachter durchgeführten Röntgenuntersuchung lässt
sich ein destruktives Krankheitsbild ausschließen.
Die Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin mit mittelgradigen funktionellen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten bedingt,
wie der Gutachter Prof. Dr. S ausgeführt hat, einen Einzel-GdB von 30. Der Senat schließt sich dieser Bewertung an, die den
Vorgaben in Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV entspricht.
Die psychische Erkrankung der Klägerin ist, auch unter Würdigung des im Rentenstreitverfahren eingeholten Gutachtens des PD
Dr. K vom 14. Februar 2010, bereits als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
zu qualifizieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die seelische Störung der Klägerin, wie der Sachverständige Prof. Dr.
S dargelegt hat, seit der letzten Begutachtung eine deutliche Verstärkung erfahren hat. Unter Heranziehung des in Teil B Nr.
3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV normierten Maßstabs ist nach der Überzeugung des Senats für das seelische Leiden ein Einzel-GdB von 40 anzusetzen.
Die Bewertung der Migräne mit einem Einzel-GdB von 20 und der übrigen Behinderungen, d.h. der Fußfehlform und Minderbelastbarkeit,
des Wolf-Parkinson-White-Syndroms, des Schilddrüsenleidens und der Allergien, mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 steht zwischen
den Beteiligten - zu Recht - nicht im Streit.
Unter Berücksichtigung der einzelnen Behinderungen der Klägerin ist der Gesamt-GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung
mit 60 zu bilden.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß §
69 Abs.
3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann
im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung
größer wird.
Der einzusetzende Einzel-GdB von 40 für die seelische Störung ist nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen
mit Rücksicht auf die Wirbelsäulenerkrankung und den Lupus erythematodes, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten
sind, um jeweils einen Zehnergrad auf insgesamt 60 anzuheben, da sie sich nachhaltig aufeinander auswirken. Eine weitere Erhöhung
mit Rücksicht auf die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende Migräne kommt nicht in Betracht, da sie beziehungslos neben
den Hauptkrankheiten steht. Auch die übrigen Behinderungen erhöhen den Gesamt-GdB nicht. Denn zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen,
die nur einen GdB von 10 bedingen, führen, von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit
eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.
Soweit die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt, hat das Sozialgericht die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.
Die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.
Gemäß §
145 Abs.
1 Satz 1
SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen
Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§
69 Abs.
1 und 4
SGB IX).
Nach §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens
nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen
vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind,
kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein
- d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem
Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke
nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in §
145 Abs.
1 Satz 1, §
146 Abs.
1 Satz 1
SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein
und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen,
die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer
dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen
in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung
des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung
getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert
wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem
der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo
und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all
jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen
im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus
anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird
(so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu §
69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 - L 8 SB 2723/13 -; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 - L 10 SB 154/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg
sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus
den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II
S. 15) Rechnung getragen, indem er in §
70 Abs.
2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen
Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen
sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen
Rechtslage (vgl. §
159 Abs.
7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).
Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer
Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat - über die genannten Regelbeispiele hinausgehend - vielmehr auch
der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen
auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots
(Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG; Art.
5 Abs.
2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen
sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 -, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Klägerin nicht erheblich gehbehindert. Der Sachverständige Prof. Dr. S hat nachvollziehbar
herausgearbeitet, dass die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht erfüllt.
Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen der Klägerin nicht
so weit eingeschränkt, dass sie nicht Wegstrecken im Ortsverkehr bewältigen könnte, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt
werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.