Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes; Leistungsversagung nach dem Auszug eines jungen Erwachsenen aus dem elterlichen
Haushalt ohne Zusicherung
Gründe:
I. Der Antragsteller begehrt zuletzt nur noch von der Beigeladenen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der Antragsteller hatte bereits am 4. September 2012 Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner beantragt. Zu diesem Zeitpunkt wohnte er bei seinen Eltern in der X Straße in X-Stadt, die beide - wie
zwischen den Beteiligten nicht streitig ist - über ein für die Bedarfsgemeinschaft ausreichendes Haushaltseinkommen verfügen.
Nachdem der Antragsgegner den Antragsteller vergeblich aufgefordert hatte, diverse Unterlagen vorzulegen, wurde unter Hinweis
auf §
66 Abs.
1 SGB I die Bewilligung von Leistungen abgelehnt. Gegen den Bescheid vom 14. September 2012 legte der Antragsteller am 28. September
2012 Widerspruch ein. Am 1. November 2012 beantragte der Antragsteller erneut Leistungen beim Antragsgegner. Laut eines Aktenvermerks
wurde der Antragsteller am 16. November 2012 beim Antragsgegner vorstellig und teilte mit, ohne festen Wohnsitz zu leben;
der Antragsgegner vermerkte dort, die Angabe des Antragstellers, dass er auf Spielplätzen übernachtet habe, sei angesichts
seines Äußeren nicht glaubhaft. Durch Bescheid vom 16. Dezember 2012 lehnte der Antragsgegner die Auszahlung von Tagessätzen
für Obdachlose mit der Begründung ab, dass er erforderliche Unterlagen wie insbesondere Kontoauszüge der letzten drei Monate
sowie eine lesbare ungeschwärzte Kopie seines Ausweises nicht vorgelegt habe. Durch Bescheid vom 3. Dezember 2012 lehnte der
Antragsgegner auch den Antrag vom 1. September 2012 auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II mit der Begründung ab, dass der Antragsteller nicht hilfebedürftig sei, weil er bei seinen Eltern wohne und sein Vater ein
Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 2.346,34 Euro monatlich erziele und unter Berücksichtigung des gezahlten Kindergeldes
keine Hilfebedürftigkeit bestehe.
Am 6. Dezember 2012 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Darmstadt unter Angabe einer übergangsweisen Wohnung in
der A-Straße in A-Stadt den Erlass einer einstweiligen Anordnung und legte Kontoauszüge der vergangenen drei Monate vor (Bl.
18 ff. Gerichtsakte).
Durch Beschluss vom 29. Januar 2013 hat das Sozialgericht gemäß §
75 Abs.
2 Alternative 2
SGG die Main-Arbeit, Kommunales Jobcenter Offenbach zum Verfahren beigeladen.
Laut Schriftsatz des Beigeladenen vom 21. Januar 2013 erfolgte mit dem Vater des Antragstellers ein Telefonat, in dem dieser
ausgeführt habe, dass der Antragsteller jederzeit wieder einziehen könne, wenn er arbeiten wolle. Daraufhin sei das Verfahren
zu Prüfung einer eigenen Wohnung für unter 25-jährige beendet worden, da die Notwendigkeit hierfür derzeit nicht gesehen werde.
Durch Beschluss vom 21. Februar 2013 hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und dies im
Wesentlichen damit begründet, dass kein Anordnungsanspruch bestehe und zwar weder gegen den Antragsgegner noch gegen die Beigeladene,
weil nach dem Vortrag des Vaters gegenüber der Beigeladenen der Antragsteller wieder in den elterlichen Haushalt einziehen
könne und nach Zusage des Vaters von den Eltern unterstützt werde, sofern er sich um Arbeit bemühe. Diese Forderung sei absolut
zumutbar, weil sie ohnehin dem entspreche, was der Gesetzgeber im Rahmen des SGB II von Leistungsempfängern fordere. Hingegen habe der Antragsteller mutwillig und ohne Grund verhindert, dass das von der Beigeladenen
organisierte Gespräch mit dem Vater zustande komme. Nach den Einlassungen des Vaters bestehe kein Grund, an der Zumutbarkeit
des Wiedereinzugs zu zweifeln.
Der Beschluss des Sozialgerichts wurde dem Antragsteller am 27. Februar 2013 zugestellt, woraufhin dieser am 22. März 2013
Beschwerde zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt hat.
Zu deren Begründung hat er vorgetragen, dass er seit Dezember des Jahres 2012 bei seinem Bruder in A-Stadt lebe, nachdem er
aufgrund des gestörten Verhältnisses zu seinen Eltern aus der elterlichen Wohnung ausgezogen sei. Dort habe er ein eigenes
Zimmer bewohnt, wo es häufiger Streit mit seinem Vater gegeben habe; hierbei sei dieser immer wieder in sein Zimmer und damit
in seine Privatsphäre eingedrungen, um ihm Fragen zu stellen. Seit Auszug aus der elterlichen Wohnung Anfang Oktober habe
er zunächst auf Spielplätzen geschlafen, sei dann aber zu seinem Bruder gezogen, der ihm auch Kleidung zur Verfügung gestellt
habe.
Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
den Beigeladenen zu verpflichten, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes an ihn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
zu zahlen.
Der Antragsgegner beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Antrag gegen ihn sei bereits deshalb zurückzuweisen, da er unter keinem Gesichtspunkt für ein Begehren des Antragstellers
passivlegitimiert sein könne.
Der Beigeladene beantragt ebenfalls (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Das SGB II sehe vor, dass beim Umzug eines unter 25-jährigen strenge Anforderungen zu stellen seien. Kosten für die Unterkunft könnten
gemäß § 22 Abs. 5 SGB II nicht übernommen werden. Solche Kosten seien angefallen, da der Antragsteller bei seinem Bruder wohne und dieser ebenfalls
Leistungen nach dem SGB II beziehe, so dass eine Bedarfsgemeinschaft bestehe, in der auch die Unterkunftskosten nach Mitgliedern aufzuteilen seien.
Gem. § 20 Abs. 3 SGB II solle der Anreiz des Auszuges aus der elterlichen Wohnung gemindert werden. Nach Sinn und Zweck könne eine Leistungspflicht
der Beigeladenen damit auch nicht entstehen, wenn der Antragsteller aus der elterlichen Wohnung ziehe, in der sein Bedarf
gedeckt sei, da das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft ausreichend sei. Dies entspreche auch den Grundsätzen des § 34 SGB II, aus dem eine Ersatzpflicht entstehe.
Der Berichterstatter hat in einem Erörterungstermin dem Antragsteller ausführlich Gelegenheit gegeben, die Situation und die
Hintergründe seines Auszugs zu schildern (Bl. 129 ff. GA).
Der Antragsteller hat eine eidesstattliche Versicherung des Vaters des Antragstellers zu den Akten gereicht (B. 144 GA), in
welcher dieser ausführt, dass die Beziehung zwischen ihm sowie seiner Frau einerseits und seinem Sohn andererseits gestört
sei, weil sein Verhalten ihnen gegenüber unakzeptabel und unangemessen sei. Es sei sein gutes Recht, das Zimmer des Antragstellers
zu betreten und mit ihm über seine Zukunft zu sprechen und die fehlenden Beiträge zur Miete zu verlangen, jedoch weise er
sie in Gesprächen, die sie mit ihm führten, permanent ab. Sie duldeten solch ein negatives Verhalten nicht mehr.
II. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist gemäß §
172 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in der seit dem 1. April 2008 geltenden maßgeblichen Fassung statthaft, form- und fristgerecht eingelegt (§
173 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 dieser Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung
in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die
Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein Rechtsverhältnis gemäß
§
86b Abs.
2 Satz 2
SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer
Regelungsanordnung ist sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines materiellen Leistungsanspruchs)
als auch ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), deren tatsächliche
Voraussetzungen glaubhaft zu machen sind (vgl. §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Zivilprozessordnung -
ZPO -). Dabei soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache grundsätzlich
nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebotes, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art.
19 Abs.
4 des
Grundgesetzes -
GG -), ist von diesem Grundsatz jedoch dann abzuweichen, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare später nicht
wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr
in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 sowie Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02). Zum Gewicht von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ist zu berücksichtigen, dass diese nicht isoliert nebeneinander
stehen, sondern eine Wechselbeziehung besteht. Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit
bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Hessisches Landessozialgericht - LSG -, Beschluss
vom 29. Juni 2005, Az.: L 7 AS 1/05 ER; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG Kommentar, 10. Aufl., §
86b Rdnr. 29). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige
Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden
ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet und das angegriffene Verwaltungshandeln offensichtlich
rechtswidrig bzw. bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Leistungsträgers, so vermindern sich
die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. Mai 2004 - L 16 B 15/04 KR ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 31. Juli 2002 - L 18 B 237/01 V ER). In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, wobei jedoch auf einen Anordnungsgrund
nicht gänzlich verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung
der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden (Hessisches LSG,
Beschluss vom 25. November 2010 - L 6 AS 423/10 B ER).
Dabei sind grundrechtliche Belange der Antragsteller umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen,
die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu
sichern (Art.
1 Abs.
1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem, wenn er eine für
die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist,
in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt
(BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05). Im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers, ungerechtfertigte Leistungen
zu vermeiden, gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für die Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen
Existenzminimums zurückzutreten.
Die Entscheidung des Landessozialgerichts hat wie bei in solchen Fällen in der Hauptsache statthaften Leistungs- bzw. Verpflichtungsklagen
nach dem Rechtssach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zu erfolgen (LSG, Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 30. Januar 2008 - L 9 B 600/07 KR ER; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl. 2012, §
86b Rdnr. 42).
Für den Senat steht fest, dass der örtlich zuständige SGB II-Träger für den Antragsteller im Sinne des § 36 SGB II seit dem Umzug zu seinem Bruder der Beigeladene ist, da der Antragsteller nach seinen glaubhaften und letztlich weder vom
Antragsgegner noch der Beigeladenen bestrittenen Einlassung zwischenzeitlich seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Wohnung
seines Bruders in der A-Straße in A-Stadt genommen hat, welche damit im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen liegt. Nicht
zu entscheiden hatte der Senat zumindest im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, ob dem Antragsteller darüber hinaus
ein Anspruch für den Zeitraum vor Einzug bei seinem Bruder gegen den Antragsgegner zur Seite steht. Einen Anordnungsgrund
erkennt der Senat in Fällen der vorliegenden Art regelmäßig nicht für die Vergangenheit an, weil sich die aktuelle Notlage,
die den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen vermag, erst im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei Gericht
dokumentiert (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2011 - L 9 SO 1/11 B ER - m. w. N. sowie Beschluss vom 15. August 2011 - L 9 SO 178/11
B ER). Dies war vorliegend der 6. Dezember 2012. Deshalb konnte die Beschwerde - soweit sie sich auf die vorangehende Zeit
bezieht - ohnehin keinen Erfolg haben. Nichtsdestotrotz wird der Antragsgegner den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
als Widerspruch gegen einen Bescheid vom 6. Dezember 2012 auffassen und verbescheiden müssen.
Gemäß §
75 Abs
5 SGG konnte die Beigeladene auch verpflichtet werden, die begehrte Leistung an den Antragsteller zu erbringen.
Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit darüber, dass der Antragsteller die für den streitgegenständlichen Leistungsanspruch
nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II genannten Alterseinschränkungen erfüllt sowie im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II grundsätzlich erwerbsfähig ist und gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat.
Auch an der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers bestehen im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II unter Anwendung der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anzuwendenden Maßstäbe keine durchgreifenden Zweifel. Es
liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, dass der Antragsteller dazu im Stande ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenem
Einkommen oder Vermögen zu bestreiten. Dem Antragsteller wird - wie er glaubhaft dargelegt hat - von Seiten der Eltern kein
Unterhalt geleistet, der als Einkommen nach § 11 SGB II angerechnet werden könnte.
Der Hilfebedürftigkeit steht auch kein etwaiger Unterhaltsanspruch gegen die Eltern des Antragstellers entgegen. Eine Rechtsgrundlage
für die Anrechnung von fiktivem Einkommen, die eine "Versagung" oder Vorenthaltung rechtfertigen könnte, besteht nicht. Sie
stünde auch im Widerspruch zum geltenden Bedarfsdeckungsgrundsatz. Eine solche Rechtsgrundlage ergibt sich nicht aus § 3 Abs. 3 SGB II. Das BSG hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ein Leistungsausschluss in der Existenzsicherung im Hinblick auf den Bedarfsdeckungsgrundsatz
einer ausdrücklichen gesetzlichen Normierung bedarf. Dies folgt aus der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, ein menschenwürdiges
Existenzminimum zu gewährleisten. Daher ist bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit ausschließlich auf die gegenwärtige
Lage und auf Umstände in der Vergangenheit nur insoweit abzustellen, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige
Lage ermöglichen (BSG, Urt.v. 27.09.2011 - B 4 AS 202/10 R - Juris Rn 22 m.w.N.).
Entgegen der Auffassung des Beigeladenen steht einem Anspruch auf Regelleistungen des Antragstellers daher auch nicht § 22 Abs. 5 SGB II entgegen, demzufolge bei Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sofern diese umziehen, Bedarfe für
Unterkunft und Heizung nur anerkannt werden, wenn der kommunale Träger dies bei Abschluss des Vertrags über die Unterkunft
zugesichert hat. Diese Vorschrift bezieht sich erkennbar alleine auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung, welche vom Antragsteller
zumindest zuletzt nicht mehr beantragt wurden. Bei der Regelleistung einerseits und den Kosten der Unterkunft andererseits
handelt es sich um abtrennbare Verfügungen eines Gesamtbescheids (BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 Az.: B 4 AS 109/11 R - juris; SG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 8/06, Rdnr. 6) und daher um unterschiedliche Streitgegenstände, die dem Dispositionsgrundsatz unterliegen. Der Antragsteller hat
im Erörterungstermin vom 26. April 2013 ausdrücklich erklärt, Unterkunftskosten nicht gelten machen zu wollen, da die Miete
von seinem Bruder getragen werde. Entgegen der Ansicht des Beigeladenen kann aus dem Umstand, dass der Antragsteller bei seinem
Bruder eingezogen ist und beide damit eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 2 begründet haben, weder eine Geltendmachung
von Unterkunftsleistungen nach dem Kopfteilprinzip durch den Antragsgegner fingiert werden, noch kann ihm dies als Einwand
im Hinblick auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entgegengehalten werden. Unabhängig davon würde die Geltendmachung
von Leistungen für Unterkunft und Heizung in diesem Verfahren zumindest die Glaubhaftmachung voraussetzen, dass der Antragsteller
einer ernstzunehmenden Forderung von Unterkunftskosten durch seinen Bruder ausgesetzt ist (vgl. BSG Urt.v. 3.3.2009 - B 4 AS 37/08 R - sozR 4-4200 § 22 Nr. 15).
Dass § 22 Abs. 5 SGB II nicht einem Anspruch auf Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entgegengehalten werden kann, folgt zudem aus
dem Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 3 SGB II, demzufolge bei Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen
Trägers nach § 22 Abs. 5 SGB II umziehen, bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres der in § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II genannte Betrag als Regelbedarf anzuerkennen ist. Damit hat der Gesetzgeber zum einen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass
er den nicht gebilligten Umzug eines unter 25-jährigen dadurch sanktioniert, dass eine geringere Regelleistung anerkannt wird.
Zum anderen folgt daraus aber zugleich, dass ein vollständiges Versagen der Regelleistung alleine aufgrund eines ohne Zustimmung
erfolgten nicht zustimmungsfähigen Umzug contra legem ist.
Auch § 2 Abs. 1 SGB II und der dort niedergelegte Grundsatz der Selbsthilfe vermögen keinen Anordnungsanspruch auszuschließen. Die Beigeladene übersieht
bei ihrer Argumentation, dass § 2 SGB II ebenso wie § 3 Abs. 3 SGB II (s. o.) generalklauselartige Verpflichtungen der Leistungsberechtigten bzw. der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft enthalten,
alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen. Bei § 2 Abs 1 S 1 und § 3 Abs 3
SGB 2 handelt es sich um Grundsatznormen und nicht um eigenständige Ausschlusstatbestände mit Regelungscharakter, sodass diese
selbst dann nicht als Rechtsgrundlage für die Minderung von Grundsicherungsleistungen herangezogen werden können, wenn andere
Sozialleistungen vorwerfbar nicht in Anspruch genommen werden können (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 5.10.2012 - L 9 AS 3208/12 ER-B - juris). Rechtsfolgen bei Verstößen gegen diese Pflicht werden nicht durch diese Normen selbst, sondern durch ein hierfür
entsprechend geschaffenes Regelungsinstrumentarium wie die Sanktionsnorm des § 31a SGB II begründet. Es handelt sich daher nicht um einen eigenständigen Leistungsausschlusstatbestand.
Dem Anordnungsanspruch steht auch nicht § 34 SGB II entgegen, demzufolge derjenige, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach
dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat,
zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet ist. Zum einen folgt aus der Formulierung des Gesetzeswortlautes,
dass es sich hierbei um einen Erstattungsanspruch handelt, der lediglich nachträglich dem Grundsicherungsträger einen Anspruch
auf Erstattung von Leistungen, die aufgrund des sozialwidrigen Verhaltens an den Hilfebedürftigen geflossen sind, verleiht.
Die Anwendung des § 34 SGB II setzt damit notwendigerweise eine vorangegangene Leistung voraus (siehe Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16.
April 2013, Az.: L 3 AS 1311/12 B ER - juris) und kann deshalb nicht einredeweise als anspruchshindernd einem Hilfebedürftigen entgegengehalten werden. Dem
steht auch nicht der im Bereich der Sozialrechts entsprechend anwendbare Grundsatz von Treu und Glauben nach §
242 BGB (vgl. zur Anwendbarkeit BSG, Urt. v. 6.12.2012 - B 11 AL 15/11 R - juris sowie BSG Urt.v. 2.12.2009 - B 14 AS 46/08 R - juris) unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung ("dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est") entgegen
(vgl. dazu BGH Beschl.v. 11.4.2013 - I ZR 153/11 -juris), weil der Grundsicherungsträger den Erstattungsanspruch bei nach wie vor bestehender Hilfebedürftigkeit nur in Höhe
von 30 % des monatlichen Regelbedarfs aufrechnen darf (§ 43 Abs. 2 SGB II). Damit ist die Leistung nicht sofort ("statim") und auch nicht in voller Höhe, sondern nur durch ratenweise Aufrechnung
bei nach wie vor bestehender Hilfebedürftigkeit zurückzuzahlen.
Dahinstehen kann auch, ob der Antragsteller sich für seinen Auszug bei den Eltern auf schwerwiegende soziale Gründe berufen
kann. Nach systematischer Interpretation des § 20 Abs. 3 SGB II ist der Verweis auf § 20 Abs. 5 SGB II so zu verstehen, dass im Falle des Vorliegens von schwerwiegenden sozialen Gründen, in denen der kommunale Träger zur Zusicherung
von Umzugskosten beim Verlassen der elterlichen Wohnung verpflichtet ist, der abgesenkte Regelbedarf nicht in Betracht kommt.
Jedoch geht der Senat nach gebotener summarischer Prüfung davon aus, dass der Antragsteller mit seinem Bruder eine Bedarfsgemeinschaft
bildet und daher ohnehin für ihn nur ein Anspruch in Höhe des Regelbedarfs nach § 20 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGB II bestehen kann, auf den § 20 Abs. 3 SGB II verweist. Dahinstehen kann demgemäß, ob der offensichtlich zwischen dem Antragsteller und seinem Vater bestehende Konflikt
eine derartig gestörte Beziehung bedeutet, dass sie als Ausnahme vom Grundsatz des Verbleibs in der elterlichen Wohnung für
Unter-25-jährige akzeptiert werden kann.
Ein Anordnungsgrund ergibt sich vorliegend aus der bestehenden Hilfebedürftigkeit und existenziellen Notlage des Antragstellers
sowie dem Rechtscharakter der SGB-II-Normen, die der Existenzsicherung dienen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung
des erkennenden Senats - vgl. Beschlüsse vom 22. September 2005 - L 9 AS 47/05 ER - vom 7. Juni 2006 - L 9 AS 85/06 ER - und vom 30. August 2006 - L 9 AS 115/06 ER -; zuletzt Beschluss vom 2. Dezember 2009 - L 9 AS 500/09 B ER -; Conradis in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, Anhang Verfahren Rdnr. 119). Entscheidend ist, ob es dem Betroffenen nach den Umständen des Einzelfalls zuzumuten
ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, §
86b Rdnr. 28). Dies ist nicht der Fall.
Dementsprechend war die Beigeladene vorläufig zu verpflichten, entsprechende Leistungen im tenorierten Umfang zu erbringen.
Die einstweilige Anordnung ist auf den Folgemonat der Bekanntgabe der Entscheidung beschränkt, soweit die Hauptsacheverfahren
nicht vorher erledigt sein werden, weil im einstweiligen Rechtsschutz nur eine gegenwärtige dringliche Notlage beseitigt werden
soll (s. Krodel, NZS 2007, 20, 21, siehe auch Hess. LSG, Beschluss vom 22. Juni 2011 - L 7 AS 700/10 B ER - juris). Der Beigeladene ist gehalten, über den tenorierten Zeitraum hinaus bis zu einer Erledigung der Hauptsacheverfahren
der einstweiligen Anordnung Folge zu leisten, so lange eine wesentliche Änderung der Tatsachen oder Rechtslage nicht eintritt,
um weitere Folgeverfahren zu vermeiden.
Die Kostentscheidung folgt aus §
193 SGG i. V. m. §
75 Abs.
5 SGG. Dem Beigeladenen waren die Kosten des Antragsgegners nicht aufzuerlegen, weil dieser nicht gehindert gewesen wäre, vorläufige
Leistungen i. S. v. §
43 SGB I zu erbringen.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.