LSG Hessen, Urteil vom 21.02.2017 - 3 U 9/13
Berufskrankheit Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV
Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität
Theorie der wesentlichen Bedingung
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten
Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen o.ä. auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität)
und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).
2. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität),
ist keine Voraussetzung einer Listen-BK.
3. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises
- also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen.
4. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit,
nicht allerdings die bloße Möglichkeit.
5. Die Frage, welcher Einwirkungen es mindestens bedarf, um eine bestimmte Berufskrankheit zu verursachen, ist unter Zuhilfenahme
medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen
Erkenntnisstand zu beantworten.
Vorinstanzen: SG Frankfurt am Main 04.12.2012 S 8 U 193/08
Tenor I.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Dezember 2012 wird zurückgewiesen.
II.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung der Harnblasenkrebserkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach BK
Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung ( BKV) "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine" und die Gewährung einer
Rente.
Am 2. August 2006 zeigte die Sozialarbeiterin der Uniklinik Frankfurt am Main Frau C. das mögliche Bestehen einer BK an. Der
1951 geborene Kläger war ausschließlich bei der ehemaligen DN. AG am Standort D-Stadt als Chemiefachwerker beschäftigt: Von
1967-1969 absolvierte er eine Berufsausbildung zum Chemiefachwerker in der Werkschule, dabei lag keine relevante Exposition
gegenüber chemischen Arbeitsstoffen vor. Von 1969-1970 war er im E-Betrieb (Pharma-Vorprodukt) als Chemiewerker tätig. Von
1970-1971 war er im Resocynbetrieb (Herstellung von Gummi-Inhaltsstoffen) Chemiewerker. Von 1971-1972 absolvierte er seinen
Wehrdienst als Sanitäter, von 1973-1984 war er Angestellter der werksärztlichen Abteilung der DN. AG. Von 1984-1993 war er
im Isocyanatbetrieb als Chemiewerker tätig, die von 1993-1994 im Reduktionsbetrieb und ab 1995 im Diketanbetrieb. Im Juli
2006 wurde bei dem Kläger ein mäßig differenziertes nicht invasives papilläres Urothelcarcinom der Harnblase Stadium pTa,
G2 festgestellt. In der Klinik für Urologie und Kinderurologie, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, erfolgte
am 27. Juli 2006 eine Resektion des erkrankten Gewebes der Harnblase.
Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten führte in seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2006 aus, dass der Kläger
bei seiner Tätigkeit in der DN. AG im Isocyanatbetrieb aromatischen Aminen entsprechend der Auflistung in Anlage 1, insbesondere
Anilin ausgesetzt war (in Kategorie 3 - K3 - gelistet, alle andere aromatischen Amine seien nicht in der BGIA-Gefahrstoffliste
2006 als kanzerogen aufgeführt). Die Stellungnahme enthält eine handschriftliche Ergänzung vom 29. Januar 2007, wonach der
Kläger auch p-Chloranilin (gelistet in K2) ausgesetzt war. Weiter war er gegenüber Benzol und Ranej-Nickel exponiert. Der
Landesgewerbearzt empfahl in seiner Stellungnahme vom 23. Januar 2007 die Anerkennung einer BK nach BK Nr. 1301 der Anlage
1 zur BKV.
Prof. Dr. F., Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg,
gelangte im Gutachten vom 31. Mai 2007 zu dem Ergebnis, dass bei Vorliegen der haftungsbegründenden Kausalität das Harnblasenkarzinom
ursächlich auf die versicherte Tätigkeit des Klägers zurückzuführen sei. Der Kläger sei von 1984 bis 1993 im Isocyanatbetrieb
gegenüber Anilin und p Chloranilin als urothelkanzerogenen aromatischen Aminen exponiert gewesen. Er habe angegeben, nie geraucht
zu haben. Die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Stoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) habe 2006
p-Chloranilin als K2-Stoff sowie Anilin als K4-Stoff eingestuft. Inwieweit aufgrund der Quantität der Exposition die haftungsbegründende
Kausalität gegeben sei, müsse durch Expositionsabschätzung durch den TAD entscheiden werden. Die MdE betrüge nach der Erstdiagnose
pTaG2 bei dem Stadium 0,G1-2 für die ersten 2 Jahre 50 v.H., für weitere 2 bis 5 Jahre 20 v.H.
Der TAD der Beklagten führte mit Berichten vom 30. August 2007 und 26. Oktober 2007 aus, dass der Kläger während seiner Tätigkeit
im Isocynatbetrieb 1984 bis 1993 gegenüber Anilin, para-Chloranilin, 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid exponiert
gewesen sei. Während seiner Tätigkeit an Bahnkesselwagen sei er 10-20mal im Jahr gegenüber para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin
und meta-Aminobenzotrifluorid exponiert gewesen. Außerdem seien pro Schicht ca. 18-20 Proben aus Kesseln entnommen worden
(para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid). Bei Instandhaltungsmaßnahmen sei Kontakt zu para-Chloranilin
und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid durch kontaminiertes Isoliermaterial gegeben gewesen. In Ermangelung
von Betriebsunterlagen könne nicht gesagt werden, welche Stoffe in welcher Häufigkeit hergestellt bzw. verkauft worden seien.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. März 2008 empfahl Prof. Dr. F., das Harnblasenkarzinom des Klägers nicht als BK
nach BK Nr. 1301 anzuerkennen. Anilin sei durch die Senatskommission der DFG lediglich in Kategorie 4 eingestuft. Wie hoch
die Exposition gegenüber p-Chloranilin (K2) im Einzelnen gewesen sei, bleibe unklar. Es habe keine exzessiv hohe Exposition
gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen bei der Beschäftigung des Klägers in dem Isocynatbetrieb vorgelegen. Dieser
Einschätzung stimmte der Landesgewerbearzt mit Stellungnahme vom 17. April 2008 zu.
Mit Bescheid vom 14. Mai 2008 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach BK Nr. 1301 der Anlage 1 zur
BKV ab und teilte dem Kläger mit, dass keine Entschädigungspflicht gegeben sei. Zur Begründung führte sie u.a. aus, nach derzeitigem
wissenschaftlichem Erkenntnisstand sei die kanzerogene Wirkung von para-Chloranilin in Tierversuchen, nicht jedoch in epidemiologischen
Studien bei exponierten Beschäftigten nachgewiesen. Dem reinen Anilin werde kanzerogene Wirkung abgesprochen, im Einzelfall
könne es mit krebserzeugenden aromatischen Aminen verunreinigt sein. Dieser Nachweis habe nicht geführt werden können. Bei
3,4 Dichloranilin und m-Aminobenzotrifluorid handele es sich nicht um krebserzeugende Arbeitsstoffe.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. August 2008 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 26. August 2008 Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und zur Begründung u.a.
auf die Exposition durch den erheblichen Hautkontakt zu p-Chloranilin bei der täglichen Probenentnahme an den Kesseln hingewiesen.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein Gutachten bei dem Leiter des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin
der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. G. vom 19. Februar 2009 eingeholt. Dieser hat festgestellt, dass der Kläger
gegenüber 3,4 Dichloranilin, p-Chloranilin (4-Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumidin (p-Isopropyl-Anilin,
4-Isopropyl-Anilin), m-Aminobenzotrifluorid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3-Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol) exponiert
gewesen sei. Hinsichtlich 3,4-Dichloranilin werde ein Verdacht auf kanzerogene Wirkung nicht als relevant angesehen. Auch
bei Chlortoluidin-2,4 hätten Langzeitfütterungsstudien an Ratten und Mäusen keine Befunde ergeben, die auf eine kanzerogene
Wirkung schließen ließen. Hinsichtlich Cumidin und m-Aminobenzotrifluorid habe eine Recherche der GESTIS-Stoffdatenbank ergeben,
dass keine Hinweise auf eine kanzerogene Wirkung bestünden, eine Bewertung des kanzerogenen Potentials und Einstufung in die
Liste der krebserregenden Stoffe jedoch ausstehe. Demgegenüber habe p-Chloranilin in Langzeitstudien mit oraler Applikation
an Ratten und Mäusen kanzerogenes Potential gezeigt. Dieser Stoff sei als krebserzeugend in der Kategorie 2 eingeordnet. Auch
bei Anilin bestehe der Verdacht auf kanzerogenes Potential. Im Ergebnis spreche die hohe Einwirkung von verschiedenen aromatischen
Aminen und das Fehlen eines konkurrierenden Faktors (der Kläger sei Nichtraucher gewesen) für einen Zusammenhang der Krebserkrankung
mit der Exposition des Klägers gegenüber aromatischen Aminen. Dagegen spreche, dass die Einwirkung gegenüber bekanntermaßen
humankanzerogenen Gefahrstoffen der Kategorie 1 zwar wahrscheinlich, jedoch nicht im Vollbeweis gesichert sei. Die MdE sei
bei dem Stadium pTaG2 ab 27. Juli 2006 auf Dauer mit 60 v.H. einzuschätzen.
Das Sozialgericht hat ein toxikologisches Gutachten bei Prof. Dr. H. nach Aktenlage vom 4. August 2009 eingeholt. Dieser ist
zum Ergebnis gelangt, dass ein ursächlicher Zusammenhang der Blasenkrebserkrankung mit der beruflichen Schadstoffexposition
hinreichend wahrscheinlich sei, und hat die Anerkennung einer BK nach BK Nr. 1301 vorgeschlagen. Der Kläger sei auch Isocyanaten
(als Umsetzungsprodukte) und nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt gewesen. Isocyanate seien in Kategorie 3 der krebserzeugenden
Arbeitsstoffe aufgenommen. Ferner führe die MAK-Werte-Liste 6 aromatische Nitroverbindungen in Kategorie 2 und 13 in Kategorie
3. Diese Stoffe hätten das gleiche Wirkungspotential wie die bisher einbezogenen aromatischen Amine, sie seien geeignet Blasenkrebs
zu erzeugen. Ebenso seien die Latenzzeit bis zur Tumorbildung sowie das deutlich vorgezogene Lebensalter bei der Tumormanifestation
in Übereinstimmung mit den gewerbemedizinischen Erfahrungen mit der BK nach BK Nr. 1301.
Die Beklagte hat hierzu im November 2009 eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. F. (offenbar versehentlich datiert vom
20. März 2008) vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, dass Studien, die ein erhöhtes Auftreten von Harnblasenkarzinomen nach Exposition
gegenüber Isocyanaten zeigten, nicht vorlägen. Der Kläger sei Nitroaromaten nur über einen relativ kurzen Zeitraum, 1993 bis
1994 ausgesetzt gewesen. Bei der Begutachtung von Harnblasenkarzinomen sei eine Quantifizierung der Exposition von größter
Bedeutung. Die Allgemeinbevölkerung sei gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert, so dass der alleinige Nachweis
einer Exposition nicht belegen könne, dass ein Harnblasenkarzinom durch berufliche Einflüsse mitverursacht worden sei. Er
gehe unter Bezugnahme auf das Konzept von Weiß "Dosisausmaß als Hilfestellung zur gutachterlichen Beurteilung einer BK 1301"
davon aus, dass der innere Zusammenhang dann erfüllt sei, wenn die kumulative Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen
Aminen den mg-Bereich erreiche. Sollte sich eine solche kumulative Exposition nicht bestätigen lassen, sei das Harnblasenkarzinom
nicht als BK nach BK Nr. 1301 anzuerkennen.
In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 28. März 2010 hat Prof. Dr. H. ausgeführt, dass es zufälligen Randbedingungen
unterworfen sei, ob die Bedingungen für die Einstufung eines Arbeitsstoffes in K1 erfüllt seien oder nicht. Er hat erläutert,
weshalb eine Exposition des Klägers gegenüber kanzerogenen Aminen der Gruppe K1 wahrscheinlich sei, aber nicht im Vollbeweis
nachgewiesen werden könne. Es bestehe für eine Beteiligung krebserzeugender Verunreinigungen am Gesamtgeschehen der Blasenkrebserkrankung
eine begründbare Wahrscheinlichkeit, deren Ausmaß jedoch mangels entsprechender chemisch-analytischer Daten nicht abzuschätzen
sei. Eine Anerkennung als BK nach den Kriterien der "Listenstoffe" sei mangels Vollbeweises als K1-Stoff nicht möglich. In
Betracht komme nur eine Anerkennung als Wie-BK.
Des Weiteren hat das Sozialgericht von Amts wegen ein arbeitsmedizinisches Fachgutachten des Prof. Dr. J. vom 13. November
2011 eingeholt. Dieser hat das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 1301 bejaht und die MdE für die Zeit von Juli 2006
bis Juli 2008 mit 50 v.H., für die folgenden 3 Jahre mit 20 v.H. eingeschätzt und ausgeführt, die Auffassung, dass für die
Anerkennung einer BK nach BK Nr. 1301 erforderlich sei, dass aromatische Amine der Kategorie 1 eingewirkt hätten, sei unbegründet.
Die Mehrzahl krebserzeugender aromatischer Amine sei nur deshalb nicht in der Kategorie 1 eingestuft, weil entsprechende Studien
zum Nachweis der Wirkung auf den Menschen nicht hätten durchgeführt werden können oder nicht durchgeführt worden seien. Auschlaggebend
für die Beurteilung der Einwirkungskausalität sei die Höhe der Exposition gegenüber p-Chloranilin. Dieses gehöre zur Gruppe
der monozyklischen aromatischen Amino- und Nitroverbindungen, von denen bereits zwei von der DFG (2011) als gesicherte Humankanzerogene
eingestuft worden seien (o-Toluidin und 4 Chlor-o-Toluidin). Insofern hätten der TAD, Prof. Dr. G. und Prof. Dr. H. eine ausreichend
hohe Exposition für gegeben angesehen. Hinzu komme das deutlich vorgezogene Erkrankungsalter des Klägers. Ferner bestünden
keine Hinweise auf außerberufliche Risiken. Es habe kein wirksamer persönlicher Arbeitsschutz bestanden. Ferner hätten weitere
Gefahrstoffe, insbesondere Nitroamine, die Harnblasenkrebs erzeugen können, eingewirkt. Die Dauer der beruflichen Exposition
sei als hinreichend lang anzusehen. Es bestehe eine plausible Latenzzeit von 22 Jahren.
Mit Urteil vom 4. Dezember 2012 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Feststellung seiner Harnblasenkrebserkrankung
als BK nach BK Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV ab Juli 2006 bis Juni 2008 Verletztenrente nach einer MdE von 50 vom 100 und ab Juli 2008 bis Juni 2011 nach einer MdE von
20 v.H. zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen ausgeführt, mit dem Urothelkarzinom sei eine von der
BK nach BK Nr. 1301 erfasste Krankheit im Vollbeweis gesichert. Durch die Stellungnahmen des TAD vom 18. Dezember 2006 und
30. August 2007 sei im Vollbeweis nachgewiesen, welcher Art von "Einwirkungen" der Kläger ausgesetzt gewesen sei, nämlich
gegenüber 3,4-Dichloranilin, p-Chloranilin (4-Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumin (p-Isopropyl-Anilin,
4-lsopropyl-Anilin), m-Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3-Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol). Ferner
habe Prof. Dr. H. nachweisen können, dass der Kläger gegenüber Isocyanaten (als Umsetzungsprodukten) und von 1993 bis 1994
nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt gewesen sei. Bei p-Chloranilin handele es sich um einen Stoff der Gefahrkategorie
2. Dies seien Stoffe, die als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen seien, weil durch hinreichende Ergebnisse aus Langzeit-Tierversuchen
oder Hinweise aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen sei, dass sie einen nennenswerten Beitrag
zum Krebsrisiko leisteten. Dass p-Chloranilin keinen Gefahrstoff der Kategorie 1 darstelle, stehe der Anerkennung einer BK
1301 nicht entgegen. Das Sozialgericht folge insoweit den übereinstimmenden Einschätzungen des Prof. Dr. J. und Prof. Dr.
H. Deren Auffassung stehe mit dem Amtlichen Merkblatt zur BK Nr. 1301, das eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen der Kategorie
1 nicht fordere, ebenso im Einklang wie mit der unfallversicherungsrechtlichen Literatur, wonach der ärztliche Befund unter
Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fallherganges entscheidend sei (Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall
und Berufskrankheit, 8. Aufl., 18.3., S. 1088). Allein dieses Verständnis entspreche auch dem Charakter der MAK-Werte-Liste.
Eine reine Orientierung an der MAK-Werte-Liste könne den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht werden, weil es von zufälligen
Randbedingungen abhänge, ob und ggf. in welche Kategorie ein Gefahrstoff eingeordnet werde. Ob der Kläger darüber hinaus gegenüber
den fünf beim Menschen erwiesenermaßen kanzerogen wirkenden Stoffen (ß-Naphthylamin <BNA>, Benzidin, 4 Aminodiphenyl, Xenylamin,
4-Chlor-o-Toluidin und o-Toluidin) der Kategorie 1 ausgesetzt gewesen sei, habe nicht aufgeklärt werden können. Zumindest
seien alle Gutachter von einer mindestens 9jährigen Einwirkungszeit ausgegangen. Darüber hinaus gehe Prof. Dr. H. für die
Nitroverbindungen sogar von einer längeren Einwirkungszeit von 1993 bis 1994 aus. In Kenntnis der Beweisschwierigkeiten werde
von der unfallrechtlichen Literatur eine Berücksichtigung des quantitativen Nachweises des krebserzeugenden Gefahrstoffes
nur gefordert, sofern dieser möglich sei (Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.4., S. 1093). Aufgrund der
Ermittlungen des TAD werde davon ausgegangen, dass der Kläger einer ausreichend hohen Dosis der Gefahrstoffe ausgesetzt gewesen
sei. Dass Prof. Dr. F. die Berücksichtigung der gesicherten Gefahrstoffe ausschließen wolle, weil keine Exposition gegenüber
urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich nachgewiesen sei, überzeuge das Sozialgericht nicht. Es sei davon auszugehen,
dass über die Anforderung einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung der Belastung mit aromatischen Aminen derzeit
noch kein Konsens bestehe (Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2011 - L 31 U 339/08 - juris Rdnr. 30 m.w.N.). Der Versuch von Prof. Dr. F., unter Hinweis auf das am 27. Februar 2007 veranstaltete Symposium
über aromatische Amine verbindliche Grenzwerte für die Entstehung einer BK nach BK Nr. 1301 zu bestimmen, gebiete keine andere
Sicht der Dinge. Hierzu habe Prof. Dr. H. in seiner Stellungnahme vom 28. März 2010 darauf hingewiesen, dass es sich bei den
auf dem genannten Symposium behandelten Fragen um einen neuen, bisher in der wissenschaftlichen Literatur nicht behandelten,
komplexen Sachverhalt gehandelt habe, der als solcher nicht allgemein akzeptiert und damit Teil der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie
im Sinne der herrschenden, allgemein anerkannten Meinung sei. Auf die Ausführungen des LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7.
September 2010 - L 1 U 2869/09 - juris Rdnr. 38 m.w.N. zur Verwertbarkeit der Ergebnisse des o.g. Symposiums werde Bezug genommen. Auch die Autoren des
von der Beklagten vorgelegten Aufsatzes "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed. Sozialmed. Unfall-med. 2010,
222) würden zwar ein Berechnungsmodell, das dem Symposiumsergebnis entspreche, vorschlagen, räumten aber ein, dass sich den
in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen
entnehmen ließen und die Studien in der Regel keine Exposition angäben. Die zur Herbeiführung eines Harnblasenkarzinoms als
geeignet anzusehende berufliche Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin habe diese Krankheit mit Wahrscheinlichkeit
zumindest wesentlich mitverursacht. Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen sei der Gefahrstoff p-Chloranilin geeignet,
bösartige Neubildungen bei dem Kläger zu verursachen (Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S.1092 ff.). Das Sozialgericht
folge den Einschätzungen des Prof. Dr. J. und Prof. Dr. G. Die Tumorlokalisation gebiete keine andere Sicht der Dinge. Allen
krebserzeugenden aromatischen Aminen sei gemeinsam, dass erst in der Verstoffwechselung aus den Ausgangsmolekülen krebserzeugende
Metaboliten entstünden, die im Urin ausgeschieden würden. Die Organspezifizität werde mit dem Urinkontakt dieser Metaboliten
begründet. Die Expositionszeit gegenüber p Chloranilin von 9 Jahren entspreche ebenso wie die Latenzzeit von 22 Jahren nach
Prof. Dr. J. den medizinischen Erfahrungen. Ferner seien außerberufliche Noxen als wesentliche Ursache auszuschließen. Nach
Prof. Dr. J. habe der Kläger nie geraucht. Ebenso wenig bestünden Hinweise auf weitere außerberufliche Risiken. Unter dem
Gesichtspunkt der Synkanzerogenese sei zu berücksichtigen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz weiteren Gefahrstoffen ausgesetzt
gewesen sei, insbesondere Nitroaromaten, die Harnblasenkrebs erzeugen könnten. Schließlich komme dem Erkrankungsalter des
Klägers besonderes Gewicht zu. Eine Vorverlegung des Krankheitszeitpunktes bis zu 10 Jahre gelte als typisch für beruflich
verursachte Harnblasentumore.
Gegen das ihr am 14. Dezember 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. Januar 2013 Berufung zu dem Hessischen Landessozialgericht
eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen, dass gegen das Urteil bereits verfahrensrechtliche Bedenken
bestünden. Richtige Klageart sei die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage. Gegenstand des angefochtenen Bescheids
vom 14. Mai 2008 sei nicht die Gewährung von Leistungen. Demgemäß hätte das Urteil des Sozialgerichts keinen Leistungs-, sondern
nur einen Feststellungstenor enthalten dürfen. Überdies lägen die Tatbestandsmerkmale der BK Nr. 1301 nicht vollständig vor.
Der Nachweis aromatischer Amine am früheren Arbeitsplatz des Klägers, der Isocyanatkammer, reiche nicht aus, vielmehr müssten
diese harnblasenkanzerogen sein, was nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht der Fall sei. Wichtigste
arbeitstechnische und medizinische Erkenntnisquelle der BK Nr. 1301 sei das vom BMAS veröffentlichte Merkblatt. Die vom Präventionsdienst
als Kontaktamine des Klägers ermittelten Arbeitsstoffe p-Chloranilin, 3,4 Dichloranilin und m-Aminobenzotrifluorid tauchten
im Merkblatt des BMAS zur BK Nr. 1301 nicht auf. Reines Anilin werde ausdrücklich als nicht kanzerogen bezeichnet. Nichts
anderes ergebe sich aus dem Hinweis des Merkblatts auf etwaige Verunreinigungen des reinen Anilins mit Krebs erzeugenden aromatischen
Aminen; darunter sei nicht die vom Präventionsdienst ermittelten Substanzen, sondern die im Merkblatt aufgelisteten Gefahrstoffe
Toluidin, Chlortoluidin, Dichlorbenzidin und Dianisidin zu verstehen. Auch die Ergänzung des Merkblatts im Jahre 2011 (GMBl.
2011, S. 18) enthalte keinen Hinweis auf p-Chloranilin, 3,4 Dichloranilin und m-Aminobenzotrifluorid. Hätte es bis 2011 belastbare
arbeitsmedizinische Erkenntnisse zur (Harnblasen)kanzerogenität dieser Stoffe gegeben, wären sie in die Merkblattergänzung
eingeflossen. Etwas anderes folge nicht aus dem von Prof. Dr. H. unterstellten Kontakt des Klägers mit den Isocyanaten 2,4
und 2,6 Toluylendiisocyanat. Weder im Wortlaut der BK Nr. 1301 noch in den Beschreibungen des Merkblatts seien diese erwähnt.
Wichtiger als die abstrakten Gefahrstoffkategorien der DFG seien im BK-Recht die Merkblätter des BMAS. Selbst wenn der Kläger
aromatischen Aminen im Sinne der BK Nr. 1301 ausgesetzt gewesen wäre, müsste die Frage nach der Intensität der Einwirkungen
gestellt werden. Wertvolle Hinweise hierzu fänden sich in der Studie "Aromatische Amine und Harnblasenkarzinome. Dosismaß
als Hilfestellung zur gutachterlichen Beurteilung einer BK Nr. 1301" (Tobias Weiß/Thomas Brüning, BGFA der Ruhr Universität
Bochum 2007). Prof. Dr. H. habe im Gutachten vom 5. August 2009 und der ergänzenden Stellungnahme vom 28. März 2010 im Ergebnis
nicht eine BK Nr. 1301, sondern eine Wie-BK als gegeben angesehen. § 9 Abs. 2 SGB VII sei jedoch gar nicht Streitgegenstand. Überdies dürfe die Anerkennung einer Wie-BK (hier: Harnblasenkrebs durch Isocyanate)
nicht aufgrund vereinzelter Expertenmeinungen erfolgen. Auch die Erwägungen des Prof. Dr. J. zur haftungsbegründenden Kausalität
überzeugten nicht. Der Sachverständige arbeite mit Unterstellungen in Bezug auf den Kläger. Er behaupte, ohne dass dies in
einem Gutachten nach Aktenlage belegbar wäre, der Kläger sei Nichtraucher und genetisch oder anderweitig nicht prädisponiert
für eine Erkrankung an Harnblasenkrebs. Das Sozialgericht könne sich nicht auf § 9 Abs. 3 SGB VII berufen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Dezember 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig und hat darauf hingewiesen, dass auch Prof. Dr. F. in seinem Gutachten
vom 31. Mai 2007 die Anerkennung des Harnblasenkarzinoms des Klägers als BK nach BK Nr. 1301 unter bestimmten Voraussetzungen
empfohlen habe. Dass Gegenstand des Bescheids der Beklagten vom 14. Mai 2008 nicht die Leistungsgewährung gewesen sei, stehe
einer Verurteilung zur Rentengewährung durch das Sozialgericht nicht entgegen. Die Beklagte habe Gelegenheit gehabt, zu den
Ausführungen in den Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 10. Februar 2009 und Prof. Dr. J. vom 13. November 2011
zur MdE-Höhe Stellung zu nehmen. Die Annahme der Beklagten, eine Anerkennung als BK nach BK Nr. 1301 könne nur erfolgen, wenn
ein Kontakt zu einem in dem Merkblatt des BMAS genannten Stoffes nachgewiesen sei, sei unzutreffend. Wie sich bereits aus
der Formulierung im Merkblatt ("Wichtige hierher gehörende chemische Verbindungen..sind..") ergebe, sei die Aufzählung nicht
abschließend. Die Merkblätter sollten lediglich unverbindliche Hinweise für die Beurteilung von möglichem Zusammenhängen aus
arbeitsmedizinischer Sicht geben und seien entgegen der Auffassung der Beklagten nicht "wichtiger als die eher abstrakten
Gefahrstoffkategorien der DFG". Die MAK- und BAT-Werte-Liste der Senatskommission stellten den aktuellen wissenschaftlichen Stand zur Einstufung Krebs erzeugender Arbeitsstoffe
dar. P Chloranilin sei dort als Krebs erzeugender Arbeitsstoff unter der Kategorie 2 gelistet. Nach der MAK- und BAT-Werte-Liste 2012 bedeute eine Einwirkung von Stoffen der Kategorien 1 und 2 eine eindeutige Krebsgefährdung für den Menschen.
Es sei weder rechtlich noch wissenschaftlich begründbar, die Anerkennung einer Berufskrankheit nach BK Nr. 1301 von der Exposition
gegenüber einem im Merkblatt bzw. der MAK-Werte-Liste in der Kategorie 1 gelisteten Stoff abhängig zu machen. Prof. Dr. J.
arbeite nicht mit Unterstellungen, sondern stütze sich bei der Annahme, der Kläger sei Nichtraucher und genetisch nicht prädisponiert
gewesen, auf die Feststellungen im Gutachtens von Prof. Dr. G. vom 10. Februar 2009.
Wegen weiterer Einzelheiten und des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug
genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das Urteil des Sozialgerichts vom 4. Dezember 2012 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 14.
Mai 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. August 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Sowohl die auf Feststellung einer BK nach BK Nr. 1301 als auch die auf Rente gerichtete Klage ist zulässig. Entgegen der Auffassung
der Beklagten war der Kläger vorliegend nicht auf die Geltendmachung der Feststellung einer BK nach BK Nr. 1301 beschränkt.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 14. Mai 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. August 2008 nicht nur die Anerkennung
einer BK nach BK Nr. 1301, sondern auch Leistungen abgelehnt ("Die Entschädigungspflicht der Berufsgenossenschaft ist ...
nicht gegeben"). Im Übrigen war die Frage einer Rentengewährung Gegenstand der Ermittlungen im Verwaltungsverfahren. Dort
wurde im Rahmen der Beweisfragen an Prof. Dr. F. mit Gutachtensauftrag vom 29. Januar 2007 unter Ziff. 8 erfragt, seit wann
und in welcher Höhe durch die Folgen der Berufskrankheit eine MdE verursacht werde (Bl. 86 VA). Prof. Dr. F. hat in seinem
Gutachten vom 31. Mai 2007 zur beruflich bedingten MdE im Einzelnen Stellung bezogen (Bl. 108 VA).
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat sowohl Anspruch auf Feststellung, dass bei ihm eine BK nach BK Nr. 1301 der Anlage
1 zur BKV vorliegt als auch auf Rente nach einer MdE von 50 v.H. für die Zeit von Juli 2006 bis Juni 2008 sowie nach einer MdE von
20 v.H. für die Zeit von Juli 2008 bis Juni 2011.
Gemäß § 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen
und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§
56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
Gemäß § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als Berufskrankheiten
bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (Satz
1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die
nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen
durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann Berufskrankheiten
auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung einer gefährdenden Tätigkeit versehen (§
9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten
Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen o.ä. auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität)
und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung
ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK.
Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises
- also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu
beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl.
BSG, Urteil vom 15. September 2011 - B 2 U 25/10 R - juris Rdnr. 14; Urteil vom 2. April 2009 - B 1 U 30/07 R - = BSGE 103, 45; BSGE 103, 59).
Der Verordnungsgeber hat die BK Nr. 1301 wie folgt bezeichnet: "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der
Harnwege durch aromatische Amine."
Bei dem Kläger ist ein mäßig differenziertes nicht invasives papilläres Urothelcarcinom der Harnblase Stadium pTa, G2 im Vollbeweis
festgestellt.
Ebenso ist die Einwirkungskausalität gegeben. Bei dem Kläger hat die Verrichtung seiner versicherten beruflichen Tätigkeit
jedenfalls zu im Vollbeweis nachgewiesenen Einwirkungen durch den Gefahrstoff p-Chloranilin auf seinen Körper geführt, dem
eine kanzerogene Wirkung zugeschrieben wird. Keine kanzerogene Wirkung wird derzeit den weiteren Arbeitsstoffen 3,4-Dichloranilin,
Chlortoluidin-2,4, Cumidin, m Aminobenzotriflurid und (reines) Anilin, denen der Kläger nachweislich ebenfalls ausgesetzt
war, zugeschrieben. Darüber hinaus war der Kläger gegenüber Isocyanaten (eingestuft in K 3) und 1993 und 1994 im Reduktionsbetrieb
verschiedenen aromatischen Nitroverbindungen (eingestuft z. T. in K2 und z. T. in K3) ausgesetzt.
Dass es sich insbesondere bei dem Gefahrstoff p-Chloranilin um einen Stoff handelt, der nicht in Kategorie 1, sondern in Kategorie
2 der MAK-Werte-Liste der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe eingestuft worden ist, schließt
entgegen der Auffassung der Beklagten nicht aus, dass bei dem Kläger Einwirkungen im Sinne der BK Nr. 1301 vorlagen. Weder
dem Wortlaut der BK Nr. 1301 selbst noch dem Ärztlichen Merkblatt zu BK-Nr. 1301 in der Fassung des GMBl. 2011,18 kann entnommen
werden, dass zwingend ein Gefahrstoff der Kategorie 1 der MAK-Werte-Liste eingewirkt haben muss. Die Frage, welcher Einwirkungen
es mindestens bedarf, um eine bestimmte Berufskrankheit zu verursachen, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher
und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (vgl.
BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - juris Rdnr. 20 m. w. N.). Die Formulierung im Ärztlichen Merkblatt zu BK Nr. 1301 "Wichtige hierhergehörende chemische
Verbindungen, die insbesondere Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege hervorrufen können sind: Beta-Naphthylamin.. Benzidin...
4-Aminodiphenyl (Xenylamin)..." sowie die weiteren Ausführungen im Merkblatt zu den Stoffen Toluidin (o Toluidin, p-Toluidin)
und Chlortoluidin - letztere aktualisiert in der Fassung des Merkblatts von 2011 -, Dichlorbenzidin und Dianisidin enthalten
keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich hierbei um eine abschließende Aufzählung handelt. In der Literatur Schönberger/Mehrtens/Valentin,
9. Auflage 2017, 18.6.2.2.1, S. 1182 - sind unter Hinweis auf den BK-Report "Aromatische Amine, DGUV 2014" - zwar einzelne
Arbeitsstoffe (und Arbeitsprozesse) mit gesichertem Kausalzusammenhang für das Auftreten von Karzinomen im Bereich der ableitenden
Harnwege und Harnblase genannt, unter denen p-Chloranilin nicht aufgeführt ist, jedoch ohne Anhalt für einen abschließenden
Charakter der Aufzählung. Zu Recht hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass auch Stoffe der Kategorie 2 der MAK-Werte-Liste
"als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen sind, weil durch hinreichende Ergebnisse aus Langzeit-Tierversuchen oder Hinweise
aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko
leisten ..." (so der Wortlaut der Beschreibung der Kategorie 2 der MAK-Werte-Liste). Auch Prof. Dr. J. stützt in seinem Gutachten
vom 13. November 2009 (S. 14 ff.) die vorliegende Beurteilung, wonach die Anerkennung einer BK Nr. 1301 nicht zwingend einen
Gefahrstoff der Kategorie 1 der MAK-Werte-Liste erfordert. Laut Prof. Dr. J. ist die Mehrzahl krebserzeugender aromatischer
Amine nur deshalb nicht in der Kategorie 1 eingestuft, weil entsprechende Studien zum Nachweis der Wirkung auf den Menschen
nicht hätten durchgeführt werden können oder nicht durchgeführt worden seien.
Die Exposition des Klägers während seiner beruflichen Tätigkeit jedenfalls gegenüber dem Gefahrstoff p-Chloranilin hat die
bei ihm festgestellte Krebserkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursacht.
Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht
geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob
ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d.h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
- ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang
positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O.) und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 - Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite
630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die
wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich
unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a.a.O; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris).
Der naturwissenschaftliche Zusammenhang (1. Prüfungsstufe) zwischen dem Arbeitsstoff p-Chloranilin und der Krebserkrankung
liegt vor. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Gefahrstoff p-Chloranilin nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse generell geeignet ist, auch beim Menschen bösartige Neubildungen der Harnwege im Sinne der BK Nr. 1301 zu verursachen.
Die Prüfung der generellen Geeignetheit in diesem Sinne bezieht sich auf die spezifische Krebslokalisation bzw. Krebsart und
auf die bestimmte Personengruppe sowie die besondere Tätigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII und nicht auf die bloße Kanzerogenität. Die festgestellte Schädigung lässt sich im Einzelfall weder aus den MAK-Werten noch
der Einstufung als krebserzeugender Arbeitsstoff ableiten, sondern der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren
Umstände des Fallhergangs ist entscheidend (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall- und Berufskrankheit, 9. Auflage
2017, 18.3., S. 1143 mit Verweis auf BSG vom 24. Januar 1990 - 2 RU 20/89 - und BSG vom 12. Juni 1990 - 2 RU 21/89 -). Der Nachweis der Kanzerogenität erfolgt durch epidemiologische Erhebungen bei entsprechend belasteten Kollektiven. Ergebnisse
aus Tierversuchen können Hinweise für eventuelle kanzerogene Potenzen bzw. Gefährdungen ergeben, wobei die Gültigkeit solcher
Ergebnisse auf die Krankheitslehre des Menschen geklärt sein muss (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
9. Auflage 2017, 18.4., S. 1147). Dass p-Chloranilin nach dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse geeignet
ist, auch beim Menschen bösartige Neubildungen der Harnwege im Sinne der BK Nr. 1301 herbeizuführen, ergibt sich aus der MAK-Werte-Liste
und der dortigen Einstufung von p Chloranilin in Kategorie 2 in Zusammenschau mit den überzeugenden Äußerungen der Sachverständigen
Prof. Dr. J. in dessen Gutachten vom 13. November 2011 und Prof. Dr. G. in dessen Gutachten vom 10. Februar 2009. Danach hat
p-Chloranilin in Langzeitstudien mit oraler Applikation an Ratten und Mäusen vor allem zu seltenen Tumoren der Milz sowie
Tumoren der Leber geführt. Dass bei den Tierversuchen bösartige Neubildungen an anderen Organen als den Harnwegen festgestellt
wurden, ist insoweit unerheblich, denn nach den Ausführungen der Sachverständigen ist allen krebserzeugenden aromatischen
Aminen gemeinsam, dass sie an sich nicht krebserzeugend sind. Erst in der Verstoffwechselung entstehen aus den Ausgangsmolekülen
krebserzeugende Metaboliten, die im Urin ausgeschieden werden. Die Organspezifizität wird mit dem Urinkontakt dieser Metaboliten
begründet (so auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, 18.6.2.2.1 S. 1182).
In Übereinstimmung damit ging auch Prof. Dr. F. in seinem Gutachten vom 31. Mai 2007, S. 13 davon aus, dass es sich bei p-Chloranilin
um ein urothelkanzerogenes aromatisches Amin handelt.
Überdies hat bei der versicherten beruflichen Tätigkeit des Klägers eine ausreichende Einwirkung des Gefahrstoffes p-Chloranilin
über einen hinreichend langen Zeitraum vorgelegen, um im konkreten Fall des Klägers bösartige Neubildungen der Harnwege im
Sinne der BK Nr. 1301 zu verursachen. Zwar ist der Nachweis eines krebserzeugenden Gefahrstoffes möglichst quantitativ zu
führen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, 18.4., S. 1147). Bei der Formulierung
des Tatbestandes der BK Nr. 1301 hat der Verordnungsgeber - auch in der aktualisierten Fassung des GMBl. 2011, 18 - jedoch
auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die Angabe konkreter Belastungsarten und
Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von BK-Tatbeständen geschah vielfach bewusst, um bei der späteren Rechtsanwendung
Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener Erkenntnisse zu lassen
(vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - juris Rdnr. 18 ff m.w.N.). Im Merkblatt zur BK Nr. 1301 in der Fassung des GMBl. 2011,18 ist hierzu unter IV. "Hinweise
für die ärztliche Beurteilung" ausgeführt, dass Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege im Allgemeinen nach mehrjähriger,
gelegentlich auch mehrmonatiger Exposition mit aromatischen Aminen entstehen; noch Jahrzehnte nach Aufgabe des gesundheitsgefährdenden
Arbeitsplatzes können sie in Erscheinung treten. Eine Mindestexpositionsmenge enthält das Merkblatt zu BK Nr. 1301 nicht.
Der Senat ist ebenso wie das Sozialgericht der Überzeugung, dass es für die Forderung nach einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung
bei der Einwirkung durch aromatische Amine derzeit keinen wissenschaftlichen Konsens gibt (so auch LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 24. Oktober 2014, L 8 U 4478/13, juris Rdnr. 52; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2011 - L 31 U 339/08 - juris Rdnr. 30; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. September 2010 - L 1 U 2869/09 - juris Rdnr. 38, 39). Daher vermag es der Auffassung des Prof. Dr. F. in dessen Stellungnahme vom November 2009, wonach
eine kumulative Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich nachgewiesen sein müsse, nicht
zu folgen. Auch in der von der Beklagten angeführten Veröffentlichung "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed.
Sozialmed. Unfallmed. 2010, 222 ff) räumen die Autoren ein, dass sich den in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen
Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen zu den von der DFG als humankanzerogen eingestuften aromatischen
Aminen entnehmen lassen, und dass diese Studien in der Regel sogar keine Exposition angeben. Dies entspricht auch dem aktuellen
Sachstand. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, 18.6.2.2.1, S. 1182 wurde
zwar ein Modell zur Ableitung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen für 2-Naphthylamin, 4-Aminodiphenyl und oToluidin vorgeschlagen
(Hinweis auf Weiß/Henry/ Brüning a.a.O.). Es gibt jedoch keine sicheren epidemiologischen Erkenntnisse zur Risikoschätzung
(Ausnahme Tabakrauch). Nach den für den Senat überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J. ist für die Bejahung
der haftungsbegründenden Kausalität ausschlaggebend, dass der Arbeitsstoff p-Chloranilin über einen hinreichenden Zeitraum
von 9 Jahren am Arbeitsplatz des Klägers auf diesen in ausreichendem Umfang eingewirkt hat. Prof. Dr. J. geht unter Auswertung
der aktenkundigen Unterlagen davon aus, das der Kläger in einem chemischen Betrieb, in dem aromatische Amine zur Synthese
eingesetzt wurden, "hochexponiert" war, "u.a. gegenüber dem Harnblasenkrebs erzeugenden p-Chloranilin". Bei der Tätigkeit
des Klägers an den Bahnkesselwagen, der Rückstandsabfüllung, den Probenahmen und den Instandhaltungsmaßnahmen kam es nach
den Feststellungen des TAD (Bl. 117-119 Verwaltungsakte) und des Prof. Dr. G. (Bl. 52-54 G-Akte = S. 22, 23 des Gutachtens)
trotz Tragens von Schutzhandschuhens zu regelmäßigem Kontakt über die Atemwege und Hautkontakt mit p-Chloranilin. So war bei
der 10 bis 20 mal pro Jahr stattfindenden Entladung von Bahnkesselwagen mit aromatischen Aminen keine ausreichend funktionierende
Absaugung im Bereich der Bahnkesselwagen über dem Mannlochdeckel vorhanden. Dies führte zu einer deutlichen Exposition sowohl
über die Atemwege als auch über die Haut. Überdies mussten nach den Feststellungen des Prof. Dr. G. bei den 18-20 mal pro
Schicht erfolgenden Probeentnahmen an Pumpen regelmäßig die Ablaufhähne mechanisch frei gemacht werden, wobei es wiederholt
zu einem Verspritzen der unter Druck stehenden erhitzten Chemikalien kam. Auch hier bestand eine häufige und starke Hautkontamination
sowie eine Exposition gegenüber freiwerdenden Dämpfen. Somit kann in der Gesamtschau nicht nur von einer geringen beruflichen
Exposition ausgegangen werden, auch wenn die Quantität im Nachhinein nicht konkret bestimmt werden kann. Die Expositionszeit
entspricht ebenso wie die Latenzzeit von 22 Jahren nach den Feststellungen des Prof. Dr. J. den medizinischen Erfahrungen.
Auch das Erkrankungsalter des Klägers spricht nach Prof. Dr. J. für einen Zusammenhang seiner Krebserkrankung der Harnwege
mit seiner beruflichen Exposition gegenüber p-Chloranilin. Das mittlere Erkrankungsalter für Harnblasenkrebs liegt nach Prof.
Dr. J. für Männer bei 72 Jahren. Eine Vorverlegung des Krankheitszeitpunktes bis zu 10 Jahre gilt als typisch für beruflich
verursachte Harnblasentumore. Der Kläger ist mit 55 Jahren an Harnblasenkrebs erkrankt, was ein weiteres Indiz für eine berufliche
Verursachung darstellt.
Der Arbeitsstoff p-Choranilin war auch wesentliche Ursache für die Erkrankung. Denn außerberufliche Noxen sind als Ursachen
ausgeschlossen, nachdem der Kläger sowohl nach den Feststellungen des Prof. Dr. F. als auch des Prof. Dr. G. und des Prof.
Dr. J. immer Nichtraucher war. Anhaltspunkte für weitere außerberufliche Risiken wie chronische Entzündungen der Harnwege,
Dauerinfekte der Harnwege in Verbindung mit Steinleiden oder Fremdkörpereinwirkung, Bilharziose, Phenacetin-Einnahme bei chronisch
interstitieller Nephritis, vorausgegangene Therapie mit Cyclophosphamid oder Bestrahlung der Beckenregion liegen nicht vor,
ebenso wenig eine familiäre Häufung von Harnblasenkrebs, die auf eine genetische Prädisposition schließen ließen (Gutachten
des Prof. Dr. J. vom 13. November 2011). Da sich keine konkreten Hinweise auf außerberufliche Ursachen der Krebserkrankung
der Harnwege des Klägers ergaben, hat für den Senat entgegen der Auffassung der Beklagten auch keine Veranlassung zu weiteren
diesbezüglichen Ermittlungen von Amts wegen bestanden.
Ob der Kläger an seinem Arbeitsplatz neben p-Chloranilin weiteren Arbeitsstoffen in ausreichendem Umfang ausgesetzt war, die
geeignet waren, eine Harnblasenkrebserkrankung (mit) zu verursachen, insbesondere Nitroaromaten, kann hier offenbleiben, da
zur Überzeugung des Senats die Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin allein bereits hinreichende und notwendige Bedingung
für die Entstehung des papillären Urothelcarcinoms bei dem Kläger war (so auch Prof. Dr. J., S. 13 ff., 16 seines Gutachtens).
Die MdE-Einschätzung durch das Sozialgericht ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den überzeugenden Ausführungen
in dem Gutachten des Prof. Dr. J. vom 13. November 2011 sowie der damit übereinstimmenden MdE-Einschätzung des Prof. Dr. F.
in dessen Gutachten vom 31. Mai 2007. Sie befindet sich in Einklang mit den sog. Basisbewertungsrichtlinien (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, 18.6.2.2.1, S. 1186 ff., 1188), wonach das papilläre Urothelcarcinom der
Harnblase mit der Erstdiagnose pTa, G2 bei dem Stadium 0, G1-2 für die ersten 2 Jahre mit 50 v.H., für weitere 2 bis 5 Jahre
20 v.H. zu bewerten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
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