Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende
Bedarfe für Bildung und Teilhabe bei Teilnahme an einer Schulfahrt ins Ausland
Bei den Kosten für eine Schulfahrt ins Ausland kann es sich um Aufwendungen für eine mehrtägige Klassenfahrt im Sinne des
§ 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II handeln.
1. Das Bundessozialgericht hat wiederholt entschieden, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende die tatsächlichen
Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt ohne Beschränkung auf einen Höchstbetrag zu übernehmen hat, wenn die Veranstaltung im
Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen stattfindet und das Schulrecht selbst keine Kostenobergrenze vorsieht.
2. Das BSG hat insoweit auf den Gesetzeswortlaut und auf die Gesetzesbegründung verwiesen: In der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber
betont, dass die Regelung dazu diene, die reale und gleichberechtigte Teilnahme durch Übernahme der Kosten in tatsächlicher
Höhe zu gewährleisten.
3. In Niedersachsen sehen die schulrechtlichen Bestimmungen eine Kostenobergrenze nicht vor; die Verantwortung und Entscheidungshoheit
werden vielmehr auf die einzelne Schule delegiert, wenn es in Ziffer 7.2 des Runderlasses heißt, bei der Planung der Schulfahrten
sei darauf zu achten, dass niemand aus finanziellen Gründen von der Teilnahme ausgeschlossen werden dürfe, und Ziffer 8 vorsieht,
dass in die Planung der Schulfahrten die Erziehungsberechtigten frühzeitig einzubeziehen seien und mit ihnen insbesondere
die Frage der Zumutbarkeit der entstehenden Kosten für alle Erziehungsberechtigten zu erörtern sei.
Gründe:
Die gemäß §§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. Februar 2017 ist nicht
begründet.
Das SG hat den Antragsgegner zu Recht im Wege einer einstweiligen Anordnung nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig eine einmalige Leistung in Höhe von 1.350 EUR nach § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zur Finanzierung einer Schulfahrt nach York/England zu gewähren. Zutreffend hat das SG ausgeführt, dass es sich bei der fraglichen Schulfahrt um eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen
handelt und der Antragsgegner nach derzeitigem Sach- und Streitstand unter Berücksichtigung der einschlägigen höchstrichterlichen
Rechtsprechung verpflichtet ist, die Kosten zu übernehmen. Sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund sind
danach glaubhaft gemacht worden, so dass der Senat die Beschwerde des Antragsgegners aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen
Beschlusses zurückweist und gemäß §
142 Abs.
2 S. 3
SGG von einer weiteren Begründung absieht.
Lediglich mit Blick auf das Beschwerdevorbringen ist darauf hinzuweisen, dass es für die Beurteilung der Frage, ob es sich
bei der fraglichen Schulfahrt um eine Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen handelt, nicht darauf ankommen
kann, wie diese im Internetauftritt der Schule beworben wird. Maßgeblich kann nur sein, ob die Bestimmungen des insoweit einschlägigen
Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums zu Schulfahrten vom 1. November 2015 (26- 82 021 - VORIS 22410) bei
der schulinternen Planung der Schulfahrt eingehalten worden sind. Insoweit lässt das Beschwerdevorbringen außer Acht, dass
das SG diesbezüglich eine Auskunft der Leiterin der Fachgruppe Englisch der Berufsbildenden Schulen (BBS) Jever, Frau H., vom 17.
Januar 2017 eingeholt hat. Soweit der Antragsgegner anzweifelt, dass mit der fraglichen Schulfahrt, die gemäß Ziffer 9 des
Runderlasses vom Schulleiter genehmigt worden ist, überhaupt Bildungs- und Erziehungsziele verfolgt werden, wie dies nach
Ziffer 1 Satz 1 des Runderlasses erforderlich ist, wird in der von der Leiterin der Fachgruppe Englisch übersandten "Kurzbeschreibung
für die Schulfahrt/das Praktikum in York/England" ausgeführt, dass Schülerinnen und Schüler im Zuge der Europäisierung und
Globalisierung vor neue Herausforderungen gestellt würden und neben der Benutzung der englischen Sprache als Lingua Franca
zunehmend Softskills - z. B. interkulturelle Kompetenzen - an Bedeutung gewönnen. Vor dem Hintergrund zusammenwachsender Märkte
und der vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt solle im Rahmen des Praktikums den Schülerinnen und Schülern der 11. Klassen
die Möglichkeit gegeben werden, erste Arbeitserfahrungen im englischsprachigen Ausland zu sammeln. Das danach - u. a. auch
mit einer intensiven Vorbereitungszeit in Form einer verbindlichen zusätzlichen Unterrichtsstunde im Schuljahr 2016/2017 -
verfolgte Bildungs- und Erziehungsziel des Erwerbs interkultureller Kompetenzen lässt sich mit den Bildungsstandards für die
fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife gemäß Beschluss der Kultusministerkonferenz
vom 18. Oktober 2012 (Anlage zu der Auskunft der Frau H.) ohne weiteres vereinbaren. Es liegen danach keinerlei Anhaltspukte
dafür vor, dass es sich um ein über den eigentlichen Bildungsauftrag hinausgehendes "Zusatzangebot" - etwa im Sinne einer
Freizeit - handelt, wie der Antragsgegner meint. Eine weitergehende Prüfung dahingehend, ob die Fahrt sinnvoll und notwendig
ist (vgl. die diesbezüglichen Ausführungen auf S. 4 des Widerspruchsbescheides vom 17. November 2016), ist dem Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie den Sozialgerichten verwehrt (vgl. O. Loose in: GK-SGB II § 28 Rn. 42 m. w. N.).
Der Klassifizierung der Reise nach York als Schulfahrt steht auch nicht entgegen, dass in diesem Jahr nur 17 von 120/130 grundsätzlich
teilnahmeberechtigten Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 11 tatsächlich daran teilnehmen, da die Teilnahme an Schulfahrten
mit Übernachtung gemäß Ziffer 6.2 des Runderlasses stets freiwillig ist. Die im Widerspruchsverfahren erteilte Auskunft der
Frau H., dass die Teilnehmerzahl ohnehin auf 20 begrenzt sei, schließt entgegen der Auffassung des Antragsgegners die Annahme
einer Schulfahrt i. S. des Runderlasses ebenfalls nicht aus. Dieser sieht nicht vor, dass bei klassenübergreifenden Schulfahrten
allen Schülerinnen und Schülern einer Jahrgangsstufe die Teilnahme offenstehen muss, eine Begrenzung der Teilnehmerzahl mithin
unzulässig ist. Es handelt sich schließlich auch nicht um eine Auslandsreise im Sinne eines Schüleraustausches, an der nur
eine kleine Gruppe von Schülern bzw. einzelne Schüler der Klasse oder Jahrgangsstufe teilnehmen bzw. teilnehmen können und
für die danach durchaus zweifelhaft sein kann, ob es sich um eine Klassenfahrt i. S. des § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II handelt (vgl. hierzu ausführlich: O. Loose a. a. O. Rn. 38). Die hier vorgesehene Teilnehmerzahl von 20 Schülerinnen und
Schülern erreicht bereits Klassengröße (vgl. zur Bildung von Klassen: Ziffer 3.1 des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums
vom 7. Juli 2011 - 15- 84001/3 - VORIS 22410) und der vom 29. April bis 20. Mai 2017 geplante Aufenthalt in England mit einwöchigem
Besuch einer Sprachschule und anschließendem zweiwöchigen Betriebspraktikum lässt sich durchaus unter den bundesrechtlichen
Begriff der Klassenfahrt subsumieren, zumal die Schülergruppe durch einen gemeinsamen wöchentlichen Unterricht seit Beginn
des Schuljahres 2016/2017 miteinander verbunden ist. Insoweit greift hier auch das Teilhabeziel der Regelung des § 28 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB II, welche eine Ausgrenzung aus finanziellen Gründen verhindern soll. Denn der Antragsteller würde aus der Gruppe der teilnehmenden
Schülerinnen und Schüler, welche sich bereits seit Beginn des Schuljahrs auf den Auslandsaufenthalt vorbereiten, ausgegrenzt,
wenn er aus finanziellen Gründen doch nicht teilnehmen könnte.
Soweit der Antragsgegner eine "Überdehnung des § 28 SGB II" durch die Bewilligung ohne Obergrenze für Leistungsbezieher nach dem SGB II und eine hieraus resultierende Ungleichbehandlung und Diskriminierung anderer Schüler befürchtet, hat das Bundessozialgericht
(BSG) wiederholt entschieden, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende die tatsächlichen Kosten einer mehrtägigen
Klassenfahrt ohne Beschränkung auf einen Höchstbetrag zu übernehmen hat, wenn die Veranstaltung im Rahmen der schulrechtlichen
Bestimmungen stattfindet und das Schulrecht selbst keine Kostenobergrenze vorsieht. Das BSG hat insoweit auf den Gesetzeswortlaut und auf die Gesetzesbegründung verwiesen. In der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber
betont, dass die Regelung dazu diene, die reale und gleichberechtigte Teilnahme durch Übernahme der Kosten in tatsächlicher
Höhe zu gewährleisten (vgl. BSG, Urteil vom 22. November 2011 - B 4 AS 204/10 R - Rn. 20 m. w. N.; vgl. auch O. Loose a. a. O. Rn. 43). In Niedersachsen sehen die schulrechtlichen Bestimmungen eine Kostenobergrenze
nicht vor. Die Verantwortung und Entscheidungshoheit werden vielmehr auf die einzelne Schule delegiert, wenn es in Ziffer
7.2 des Runderlasses heißt, bei der Planung der Schulfahrten sei darauf zu achten, dass niemand aus finanziellen Gründen von
der Teilnahme ausgeschlossen werden dürfe, und Ziffer 8 vorsieht, dass in die Planung der Schulfahrten die Erziehungsberechtigten
frühzeitig einzubeziehen seien und mit ihnen insbesondere die Frage der Zumutbarkeit der entstehenden Kosten für alle Erziehungsberechtigten
zu erörtern sei.
Im anhängigen Hauptsacheverfahren wird allerdings noch zu berücksichtigen sein, dass an der BBS Jever ausweislich des Internetauftritts
ein Förderverein existiert und dieser aus Vereinsmitteln u. a. auch Zuschüsse zu Klassenfahrten ins Ausland gewährt. Der Antragsteller
könnte verpflichtet sein, einen entsprechenden Förderantrag zu stellen (vgl. BSG a. a. O. Rn. 26). Dieser Umstand steht der vom SG angesichts der am 15. Februar 2017 ablaufenden Zahlungsfrist getroffenen vorläufigen Regelung allerdings nicht entgegen,
da eine kurzfristige Entscheidung über den Förderantrag nicht zu erwarten war. Die erlassene einstweilige Anordnung steht
ohnehin unter dem Vorbehalt einer anderslautenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren, so dass der Antragsteller die vorläufig
gewährten Leistungen (ggf. teilweise) zurückzuzahlen hat, soweit sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Leistungsanspruch
nicht oder in geringerer Höhe besteht.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren im Hinblick auf die seinen Gunsten getroffene Kostenentscheidung
nicht zu bewilligen.
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.